Der arabische Mauerfall - Die Revolution ist im Fluss

Die Revolution ist im Fluss – Der arabische Mauerfall

Utz Anhalt: Wie schätzen Sie das Geschehen in Arabien ein. Ist das eine Revolution?

Riad Al Qadi: Ich sehe das als arabische Revolution im Fluss. Im letzten Jahrhundert hatte die erste ägyptische Revolution ihre Ziele erreicht. Nasser brachte den Stein ins Rollen und beseitigte die feudale Herrschaft im Land, Mubarak drehte das Rad zurück. Jetzt wiederholt sich die Geschichte, die freiheitliche Bewegung lebte nach Nasser unter der Oberfläche weiter und kommt jetzt wieder hoch. 1952 kam die Revolution durch das Militär. Heute geht jedoch das Volk selbst auf die Strasse, die junge Generation. Noch ist unklar, wie das Militär sich verhalten wird. Die ägyptische Revolution wird jetzt ein Symbol für die anderen arabischen Länder. Der worst case bestünde darin, dass das Militär auf den Zug aufspringt und aus der Volksbewegung eine Diktatur macht.

Utz Anhalt: Was ist der Unterschied zwischen den Bewegungen in Tunesien, Ägypten und dem Jemen?

Riad Al Qadi: Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen den Bewegungen in den einzelnen Ländern. Der Grund für den Aufstand ist überall der gleiche. Das gesamte Volk steht unter Druck, die politische Atmosphäre ist vergiftet, die Regime sind autoritär und korrupt, die Wahlen gefälscht, die Macht aufgeteilt zwischen den herrschenden Familien, der Reichtum des Landes fließt in die Taschen von parasitären Eliten. Die Unterschiede sind graduell, in Libyen und Syrien gibt es deswegen keine Volksbewegung, weil die Kontrolle so perfekt und das System so totalitär ist, dass die Menschen sogar nachts vom Geheimdienst träumen und Demonstrationen erst gar nicht stattfinden.

Utz Anhalt: Die Volksbewegung in Ägypten wird oft mit dem Mauerfall in Deutschland verglichen. Sind solche Vergleiche nachvollziehbar?

Riad Al Qadi: Die Bedeutung dieser revolutionären Bewegung ist ähnlich wie damals im Ostblock. Die Menschen haben die Nase voll den Diktaturen und haben ihre Angst vor den Tyrannen verloren. Anders ist die Rolle der Amerikaner. Beim Mauerfall hatten die Amerikaner ideologisch gewonnen. Die arabische Opposition hingegen hat die Nase auch voll von den Amerikanern, die vom Irak bis Afghanistan im Namen der Demokratie Kriege führen und in Arabien die korrupten Regime, die Despoten und Menschenfeinde an der Macht halten. Gerade in Ägypten trifft es die Menschen tief, dass Mubarak Politik für Israel und die USA betrieb und das eigene Volk knüppelte und aussaugte. Jetzt zeigen die Menschen in Ägypten, dass sie selbst die Demokratie erreichen, während das Mutterland der Demokratie bei ihnen als Heuchler gilt.

Utz Anhalt: Wie sieht die weitergehende Perspektive in Arabien aus?

Riad Al Qadi: Das Volk hat die Angst verloren, und das lässt sich nicht mehr zurückdrehen, Die Menschen gehen friedlich und in Massen auf die Strassen. Ich bin im Jemen ziemlich sicher, dass die Revolution jetzt kommt. Die Menschen trauen sich, gegen den Diktator zu protestieren. In Tunesien und Ägypten ist der wichtigste Punkt, dass die Bewegungen unideologisch. Die meisten sind keine Nasseristen, Kommunisten oder Moslembrüder, sondern eine junge Generation, der es reicht. Es handelt sich um eine ganze Generation von gut ausgebildeten und kritischen Menschen, die das Regime mit leeren Händen da stehen lässt. Und sie sind gut organisiert und so vorgebildet und freiheitsliebend, dass sie sich von autoritären Heilsversprechen stalinistischer oder islamistischer Art nicht über den Tischziehen lassen. Weitergehende Perspektive: Es sind genau die Menschen, die eine wirkliche Demokratie aufbauen und leben können.

Utz Anhalt: Der Westen hat die Demokraten in Arabien im Stich gelassen, stattdessen die Diktaturen gestützt. Wie soll sich der Westen heute verhalten?

Riad Al Qadi: Die westlichen Regierungen und die deutschen Linken sollten endlich der arabischen Opposition zuhören, in Ägypten, Tunesien, Jemen und auch im europäischen Exil. Die Lüge von Ben Ali und Mubarak, die der Westen glaubte, war, dass sie die Opposition im Griff haben und für stabile Verhältnisse sorgen. Dafür nahm der Westen schlimmste Menschenrechtsverletzungen in Kauf. Nun beweisen die Menschen, dass die starke Hand des Polizeistaats sie keinesfalls unter Kontrolle hat. Ein demokratischer Prozess ist im Gang, für die westlichen Regierungen etwas unbequemer als vorher, denn demokratische Entwicklungen sind „unzuverlässiger“ als diktatorische Entscheidungen. Seit dem 11.9. behaupten die USA und die westlichen Regierungen, sie wollten die Demokratie nach Arabien bringen. Die Araber haben ihnen geglaubt und darauf gehofft. Die westlichen Regierungen unternahmen aber keinen Schritt in diese Richtung. Der Westen sollte endlich Mubarak, Saleh und die anderen Despoten fallen lassen und Mubaraks Krieg gegen die Opposition schärfstens verurteilen. Wenn der Westen Mubarak wegen seinen Menschenrechtsverletzungen verdammt, werden es sich die anderen Despoten zehn Mal überlegen, Gewalt gegen das Volk anzuwenden Wenn die Menschen die Hoffnung verlieren, die Gesellschaft friedlich verändern zu können, werden sie es mit Gewalt zu versuchen. Und dann sind wir wieder im arabischen Teufelskreis drinnen.

Utz Anhalt: Eine ägyptische Zeitung titelte nach Abu Ghraib „Frieden, Freiheit, Folter“. Welches Verhältnis haben denn die Demokraten in Arabien zum Westen, nachdem er sie verraten und verkauft hat?

Riad Al Qadi: Viele haben das Vertrauen in den Westen verloren. Dieses Vertrauen wiederzugewinnen, wird nicht einfach werden. Nun ist es aber so, dass die Menschen auf der Strasse, „westliche Werte“ ja gerade einfordern, nämlich Grundrechte, Meinungsfreiheit und demokratische Mitbestimmung. Der Westen müsste seine Politik gegenüber Arabien grundlegend ändern, nämlich die Demokraten unterstützen und nicht die diktatorischen Regime. Wenn er das glaubwürdig tut, dann wird die Opposition in Arabien ihm auch wieder vertrauen.

Utz Anhalt: Wie sieht die Situation denn in ihrem Heimatland, im Jemen, aus?

Riad Al Qadi: Die Hitze steigt nach dem politischen Erdbeben in Tunesien. Ausgangspunkt ist die Universität in Sanaa, der Hauptstadt des Jemens. Die Symbolfigur ist eine Frau, Tawakul Karamann. Sie führt eine Menschenrechtsorganisation. Zuvor war sie Abgeordnete von Al Islah, der islamistischen Partei. Sie verließ diese Partei und erklärte öffentlich, dass sie die Unterdrückung der Frauen durch die Islamisten nicht länger mitmacht. Wir haben uns mit ihr solidarisch erklärt. Es gibt im Jemen eine Pseudo-Opposition, so ähnlich wie die Blockparteien in der DDR. Die wird zur Zeit kontrolliert von der Militärdiktatur auf die Strasse geschickt, um dem Volkszorn den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das funktioniert aber nicht mehr. Tawakul Karamann ist ausgebrochen, das System bröckelt. Es ist noch keine eigene Bewegung. Die Demonstrationen, die wir im Fernsehen sehen, sind arrangiert vom Regime und dem Geheimdienst. Noch geht das Volk nicht selbst auf die Strasse, noch nicht. Das Regime inszeniert die Demonstrationen am Donnerstag, wo die Menschen arbeiten müssen, und nur die Mitglieder von Salehs Partei und den Blockparteien sind auf der Strasse. Saleh und Al Islah haben große Angst davor, dass das Volk seine Revolution allein führt. Die Menschen wollen aber, dass Saleh verschwindet. Und dieser Tag kommt, in den nächsten Wochen. Die Basis ist da. Es gibt aber einen Unterschied zu Ägypten und Tunesien. Beides sind moderne Zivilgesellschaften. Die Jemeniten sind aber ein bewaffnetes Volk. Die Menschen in den Stämmen sitzen auf Maschinenpistolen und Handgranaten, jeder erwachsene Mann hat eine Waffe. Und wenn Saleh Gewalt anwendet, kann das Land explodieren, ein Funke reicht.

Utz Anhalt: Was würde denn eine arabische Demokratie von einer europäischen Demokratie unterscheiden?

Riad Al Qadi: Im Prinzip nichts. Die Demokraten in Arabien fordern freie Wahlen, Gewaltenteilung, Grundrechte wie in Deutschland oder Frankreich.

Utz Anhalt: In Afghanistan und im Irak werden Menschen im Namen von so genannter „Demokratie und Freiheit“ getötet. Jetzt zeigen die Menschen in Arabien, dass sie es sind, und nicht etwa Kriegsführer und Besatzer, die die Demokratie erkämpfen. Ist das nicht ein Signal gegen die Kriege, die der Westen im mittleren Osten führt?

Riad Al Qadi: Selbstverständlich ist das ein Signal. Die westlichen Länder sollen endlich Respekt für die Menschen in Arabien entwickeln und die Demokraten in unseren Ländern ernst nehmen. Sie sollen aufhören, im Namen des Kriegs gegen den Terror Despoten zu unterstützen. Sie sollen aufhören, im Namen der Demokratie Bomben zu werfen. Wenn die westlichen Regierungen nicht endlich die Araber ernst nehmen und sich mit den friedlichen Menschenrechtsbewegungen solidarisieren, schaffen sie sich neue Asylbewerber, die vor den Mubaraks und Salehs aus ihren Heimatländern fliehen. Zuerst allerdings sollen sich die westlichen Regierungen bei den Demokraten in Arabien dafür entschuldigen, die autoritären Regime an der Macht zu halten.

Utz Anhalt: Eine Angst im Westen ist, dass sich, wie seinerzeit im Iran, islamische Fundamentalisten durchsetzen könnten und einen Gottesstaat errichten. Ist diese Angst berechtigt?

Riad Al Qadi: Ich sehe derzeit keine Gefahr durch die Dschihadisten. Wenn der Westen Angst vor dem dschihadistischen Terror hat, dann sollte er vor allem seine Unterstützung für die Menschenfeinde in Saudi-Arabien einstellen. So groß kann die Angst vor den Dschihadisten ja nicht sein, wenn die westlichen Regierungen mit den schlimmsten von ihnen, dem saudischen Königshaus blühende Geschäfte machen. Wenn der Westen mit den Demokraten und Menschenrechtlern zusammen gearbeitet hätte, würde sich die Frage gar nicht stellen.

Utz Anhalt: Die Geschichte ist ja allzu bekannt. Die westlichen Regierungen stützen autoritäre Polizeiregime wie Saleh oder Mubarak. Und wenn die Menschen dann gegen diese Regime auf die Strassen gehen, breitet sich die Angst vor dem Dschihadismus aus. Die Angst vor dem Terror der Gotteskrieger ist ja manchmal berechtigt, oft versteckt sich dahinter aber auch die Arroganz, dass die Araber zu Demokratie nicht fähig wären. Zeigen jetzt die Menschen in Ägypten, dass die Alternative weltliche Diktatur oder Gottesstaat keine ist, sondern dass sie den dritten Weg, die Demokratie und Menschenrechte wollen?

Riad Al Qadi: Die junge Generation in Ägypten ist teilweise sehr gebildet, kritisch und weltlich orientiert. Und selbst die Moslembrüder in Ägypten heute sind nicht Al Qaida. Es ist eine Reformbewegung, die der Demokratie nicht im Weg steht. Sie würden ihre Basis im Volk verlieren, wenn sie den Weg der Taliban oder Al Qaida, oder den Weg des mit dem Westen verbündeten Herrschaftshauses in Saudi-Arabien gehen würden. Sie wissen das ganz genau, aber sie wollen das auch selbst gar nicht. Die Amerikaner sollen Diktatoren wie Mubarak und Saleh endlich fallen lassen. Dann möchten die Menschen in Arabien auch wieder mit ihnen reden.

Utz Anhalt: Nun gut, wenn die Moslembrüder sich gegen die demokratische Bewegung stellen würden, wäre das auch ihr politischer Selbstmord. Auch die deutsche CDU hat die Religion im Namen. Und sie nimmt für sich in Anspruch, zum demokratischen Spektrum zu gehören. Ein schwieriger Punkt ist ja, dass in einer arabischen Demokratie islamisch ausgerichtete Parteien wie jede andere Richtung auch das Recht hätten, an der Demokratie teilzuhaben. Unter der Bedingung allerdings, dass der Rechtsstaat ein säkularer ist. In den USA gibt es religiöse Fundamentalisten zuhauf, die mit den elementaren Menschenrechten ebenso wenig zu tun haben wie Al Qaida. Aber Staat und Religion sind dort noch strikt getrennt. Wie sollten Scharia und Grundrechte zusammen gehen?

Riad Al Qadi: In Ägypten arbeiten die Moslembrüder zur Zeit mit den weltlichen Demokraten und Oppositionellen zusammen. Von einem Gottessstaat ist nicht die Rede. Die Menschen in Ägypten, auch die Moslembrüder wollen weder einen Polizeistaat wie unter Mubarak noch den religiös begründeten Terror von Al Qaida. Sie haben vom Terror die Nase voll und wollen endlich friedlich leben. Im Jemen ist es leider anders, weil jeder bewaffnet ist. Ägypten kann da ein Vorbild sein. Die Ägypter sind zivil und hoch gebildet. Die kannst du nicht behandeln wie die Tiere im Stall, oder wie in den Bergen Pakistans abrichten, als ob sie dressierte Hunde wären. Ich bin sehr optimistisch, was diese Bewegung angeht.

Utz Anhalt: Im Iran gab es ja ebenfalls eine Volksbewegung gegen das Regime von Ahmadinedschad. Lässt sich das vergleichen mit der Revolution in Arabien?

Riad Al Qadi: Was ähnlich war, sind die Grundforderungen. Wirkliche Demokratie, wirkliche Grundrechte. Aber die westlichen Medien haben die Bewegung dort kaputt gemacht. Sie haben sich einseitig gegen Ahmadinedschad gestellt, und zwar aus durchsichtigen strategischen und wirtschaftlichen Interessen. Und im Iran sitzt der Hass auf Übergriffe der Amerikaner sehr tief. Die Amerikaner haben den demokratischen Staatsführer Mossadheg ermordet und den Schah am Leben gehalten. Jeder im Iran weiß das. Und für jede politische Bewegung im Iran ist es das Aus, wenn sie auch nur in den Verdacht gerät, dass die Amerikaner ihre Finger im Spiel haben. Genau dieser Verdacht regte sich, und Ahmadinedschad spielte die Karte aus. In Ägypten ist das aber nicht so. Die Amerikaner haben Mubarak an der Macht gehalten. Jeder weiß das, jeder weiß, dass keine ausländischen Agenten mitspielen, sondern dass die Ägypter selbst das Regime stürzen.

Utz Anhalt: Was wünschen Sie sich für ihr Land, den Jemen, was für Ägypten, was für Arabien.

Riad Al Qadi: Ich wünsche mir eine wirkliche Demokratie, politische Freiheit und soziale Rechte, eine Gesellschaft, in der die Menschen ohne Angst leben können. Und ich denke, dieser Prozess hat begonnen und ist nicht aufzuhalten.

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Historiker, Dozent, Publizist