Der Vampir in uns – Vom Monster zum Popstar

„Der Vampir nimmt uns, was er nicht hat, und bestraft uns für das, was wir tun – und für unsere Menschlichkeit. Aber wir wiederum verlangen nach dem, was der Vampir besitzt – Unsterblichkeit, Vorsehung, Macht, also weihen wir unsere Seele der Qual – der Hoffnung.“ Katherine Ramsland

Vampire sind allgegenwärtig. Brad Pitt als sensibler Louis und Tom Cruise als egomanischer Lestat in „Interview mit einem Vampir“ ließen in den 1998 die Herzen dahin schmelzen. Doch die heutige Popularität der Twillight-Reihe von Stephenie Meyer, die Romanze zwischen dem Mädchen Isabella Swan und dem Vampir Edward Cullen stellt Anne Rice Vampirchroniken in den Schatten. Woran liegt diese Faszination? Am Vampir der Volkskultur kann es nicht liegen, das war ein lebendiger Leichnam, so erotisch wie ein verfaulender Kadaver. Norbert Bormann, der in „Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit“ den Mythos untersuchte, weist darauf hin, dass der Vampir unseren Egoismus spiegelt, unsere Maßlosigkeit, unser Leben auf Kosten anderer, ist er doch „das Geschöpf, das (…) rücksichtslos alles in sich einsaugt“. Der Vampir saugt Blut, um zu leben und bringt den Tod. Das „Gute“ am Vampir liege in seiner Wahrhaftigkeit. Wir würden den Vampir zwar abstoßend finden, aber auch anziehend, da er unsere verborgenen Wünsche repräsentiert. Denn der Vampir würde immer gegen den herrschenden Konsens verstoßen, egal, wie dieser aussieht: „Als Rebell verkörpert er eine Mischung aus Verbrecher und Freiheitshelden und schafft ein Ventil gegen gesellschaftliche Zwänge.“ Für die Faszination am Vampir in Literatur und Film ist aber die Bedeutung als Sexsymbol entscheidend. So erörtert Bormann: „Seine (…) Zähne, die er (…) exhibitionistisch aufblitzen lässt, sind unschwer als Phallussymbol zu erkennen, während seine üppigen (…) roten Lippen an das verschlingende weibliche Genital denken lassen. Das Blut des Opfers (…) ist (…) mit Deflorationsblut zu assoziieren.“

Vampire bei Freud und Jung

Die Väter der heutigen Psychologie, C.G. Jung und Siegmund Freud setzten sich mit dem Vampir als Ausdruck der Psyche auseinander. Freud erkannte in der Vampirfigur eine Faszination am morbiden, ausgelöst durch unterdrückte Sexualität. Vampire stehen für das nicht ausgelebte ödipale Verlangen; die entfesselte Wildheit des lebenden Toten zeigt die Wahrnehmung der sexuellen Elternbeziehung durch das Kind. Jung erkannte im Vampir eine Urfigur des Schattens. Das Unbewusste war für ihn nicht allein individuell, sondern eine kollektive Struktur, die sich im Traum zeigt und in Religion und Ritual ausdrückt. Dieser Schatten ist für Jung dann „böse“, wenn er unerforscht bleibt. Das Aufsuchen dieser inneren Hölle hielt er therapeutisch für notwendig. Dem bewussten Ego wären diese seelischen Abgründe peinlich. Das Positive am Vampir war für ihn, dass er Menschen mit dem Schatten konfrontiert: Machtgier, Drang, andere zu zerstören, unterdrückte Triebe, Aggressivität.

Lebende Vampire

Eine moderne Interpretation vermutet Serienmörder als Ursache des Vampirmythos. Der „Vampir von Düsseldorf“, Peter Kürten, trank ebenso das Blut seiner Opfer wie der „Dracula von Kalifornien“, Richard Chase und der „Vampir von London“, John George Haigh. Und der Journalist Theodor Lessing konnte die Gräueltaten des Jungenmörders Fritz Haarmann nur noch in Begriffen wie Werwolf und Vampir fassen. Damit drückte er aus, dass bei Haarmann die Grundtriebe Fortpflanzung und Ernährung, Leben geben und töten, um sich zu ernähren, untrennbar verschmolzen waren. James Riva ermordete in Massachusetts 1980 seine Großmutter, um dadurch ewiges Leben zu erlangen. Die Verbindung von „Blut saufenden“ Herrschern wie Vlad Dracula oder Elizabeth Bathory mit den lebenden Toten schafft erst die moderne Literatur.

Ein Urmuster der zerstörten Seele

Vampirvorstellungen lassen sich auch psychisch interpretieren: Vampire sind symbolisch betrachtet keine Toten, die die Lebenden heimsuchen. Denn sie leben zwar nicht, aber sie sind auch nicht gestorben. Borderline-Persönlichkeiten, die auf der „Grenzlinie“ leben, sind psychisch instabile Menschen. Sie leiden, laut Adolph Stern, unter „psychischen Blutungen“. Sie fühlen sich innerlich wie tot. Selbstverletzungen und Drogenmissbrauch oder auch sadomasochistische Sexualität dienen dazu, aus dem Gefühl der Leblosigkeit auszubrechen. Selbstmord erscheint als Erlösung aus dem unlebbaren Leben. Und das fehlende Spiegelbild trifft ihre Not genau: Eine Borderlinerin sagte: „Ich werfe keinen Schatten, ich bin ein Schatten.“

Zwar kann das Selbst nicht tot sein, dann wären Menschen körperlich tot, aber Borderliner fühlen sich, als wäre es abgestorben. In dem Erleben der Welt scheinen sie von Zwangszuständen überwältigt zu sein. Die Welt, in der sie sich bewegen, ist eine der Urmuster von Leben und Tod, Verschmelzung und Trennung, die sie ohne die soziale Anpassung erleiden. So genannten „normalen“ Menschen erscheinen Borderliner tatsächlich wie Wesen aus einer anderen Welt. Sie befinden sich in einem Schwellenzustand, in einen Zustand, der normalerweise verdrängt wird und dem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich ist. Es handelt sich um den Erfahrungsraum, der im Schamanismus als unsichtbare Welt bezeichnet wird. Während aber ein Schamane diesen Raum rituell aufsucht, um in die Alltagsrealität zurückzukehren, lebt der Borderliner in dieser Zwischenwelt. Er kann, wie der Vampir, nicht leben und nicht sterben.

Der Psychologe Nathan Schwartz-Salant überträgt Mythologien auf das Borderline-Syndrom:

Das Sinnbildhafte im Borderline-Verhalten erschließt einen Zugang zum Vampir. Denn viele Kulturen stellen die bekannte Welt als ein ruhiges Gebiet dar, das von Chaos umgeben ist: In Mythen spiegelt sich nicht zuerst die äußere Umwelt, sondern die seelische Welt. Das Dämonische an der seelischen Grenze ist eine Bedrohung, Horror, Tod. Seelisch zeigen diese Bilder das Zwischenreich, in dem der Borderliner lebt. Und Vampire sind eben die, die in einem Zwischenreich zuhause sind. So schreibt Schwartz-Salant: „Das primäre „innere“ Objekt eines Borderline-Patienten im Zustand der Verzweiflung ist ein vampirähnliches Energiefeld. (…) Das Bild des Vampirs, der von den Sonnenstrahlen, das heißt, vom Bewusstsein getötet wird, ist ein treffendes Bild dafür, wie destruktiv das Bewusstsein für einen Patienten sein kann, der mit dieser dunklen Kraft verschmolzen ist.“

Schwartz-Salant schreibt über eine Borderline-Patientin: „Es ist das Gefühl, als hätte man einen Traum mit einer archaischen Figur, die in einer geschraubten Sprache aus einem vergangenen Jahrhundert spricht und doch starke Affekte vermittelt. Sie (…) leidet und wirkt trotzdem irgendwie unmenschlich, als gehöre sie einer anderen Spezies an. (…) Jeder Moment ist belastet, zu gefüllt und gleichzeitig zu leer. Sie wirkt wie ein Außenseiter, der am Rande der Welt lebt, in einen dunklen Schatten unmenschlicher, archetypischer Prozesse geschleudert wurde und durch diese spricht (…). Wir sind in einer Märchenwelt abstrakter Charaktere, die schnell wieder zu Fleisch und Blut werden.“ Wüssten wir nicht, dass ein Psychologe etwas über eine Patientin mitteilt, würden wir vermuten, dass es sich um einen Vampirroman handelt.

Vampirsubkulturen

Das Borderline-Syndrom ist eine Auffälligkeit unserer Zeit. Im Spätkapitalismus erfordert der Leistungsdruck die Anpassung an permanent wechselnde Rollenmuster. Eine Zersplitterung der Persönlichkeit und das Gefühl, außerhalb realer Beziehungen in innerer Leere zu stehen, sind die Folge. Das „Anderssein“ eines Vampirs, das „nicht leben und nicht sterben“ können, nirgendwo zu Hause sein, die Gesellschaft von außen zu betrachten, ist eine Erfahrung in den Anforderungen moderner Arbeitsprozesse.

Der Filmwissenschaftler Markus Stigleggler erörtert, dass in der Postmoderne, der Auflösung der objektiven Wahrheit Mythen stark in das eigene Leben integriert würden. Auch deshalb geht es heute weniger um den Kampf gegen den Vampir wie in den klassischen Geschichten, sondern darum: „Wie vampirisiere ich mein Leben auf eine erotische Art?“ Die heutige Zeit bedeutet den Zusammenbruch von Ideologien und religiösen Wahrheiten und führt dazu, dass sich junge Menschen ihre Spiritualität selbst basteln. Der Vampir als Antiheld wird so das Idol der Einsamen und Verlassenen: Der heutige Vampir steht nicht mehr für Tod und Verwesung, sondern für ein „außerhalb des Normalen“ zu stehen, für Erneuerung und Ruhm, ein düsterer Ruhm wie ihn der Rockstar Marilyn Manson verkörpert.

Die Grenzen zwischen Vampirrollenspielern, Liebhabern düsterer Musik und sexueller Randerfahrungen zu Borderline-Patienten sind fließend. Viele therapierte Borderliner bewegen sich in der Vampirsubkultur, allerdings sind die düsteren Gefühle für sie kein Spiel. Die Motive, sich Vampirsubkulturen anzuschließen, reichen vom Interesse an Anne Rice oder Twillight über Nahtoderlebnisse bis zum Glauben, wirklich einer Rasse von Untoten anzugehören. Gefärbte Kontaktlinsen, historische Kostüme und Fangzähne, die Haut aufritzen und Blut zu trinken, sind verbreitet, als Gemeinschaftsritual oder zur sexuellen Erregung. Der Kriminalbiologe Mark Bennecke sieht darin vor allem ästhetischen Fetischismus. Potenzielle Mörder und andere pathologische Formen sind absolute Ausnahmen.

Die Psychologin Katherine Ramsland fasst die Vampirfigur so zusammen: „Das Monster gehört mir!“ Wir würden der Absicht des Vampirs, uns zu zerstören, ein erotisches Wesen verleihen, wir liebten das Wesen, das uns ausbeutet. Und während wir alles täten, um ihn zurückzuhalten, wollten wir gleichzeitig, dass ein anderer Vampir seinen Platz einnimmt. Als Grenzerfahrung sei der Vampir eine Möglichkeit, die gesellschaftlichen Grenzen zu überwinden, die das Leben ersticken. Wir behaupten zwar, Ausbeutung abzulehnen, räumten ihr aber im geheimen einen Platz ein. Für junge Menschen, die sich machtlos fühlten und keine Chance sähen, ihr Leben planvoll zu gestalten, stünde der Vampir für die Macht über die Verhältnisse und die Körperlichkeit, die diese Menschen nicht empfänden. So spielt in heutigen Vampirszenen der Energievampirismus eine entscheidende Rolle. Manche wollen lernen, zu manipulieren und damit die psychische Energie anderer zu nehmen, andere vom Vampirismus Angezogene fühlen sich als Opfer dieses Energiesaugens – Opfertäter und Täteropfer. Sie alle erleben, wie ihnen auf dem Arbeitsmarkt die Lebenskraft entzogen wird, ohne dass sie einen Zugriff auf das Produkt ihrer Arbeit haben, „saugen“ aber zugleich die Lebenskraft anderer: Die Vampirszene ist eine Mittelschichtskultur, deren junge Generation den Abgrund hinter den bürgerlichen Werten, die Ausgrenzung der sozialen Underdogs verstanden hat, sich aber nicht als Revolutionäre versteht, um diese Verhältnisse zu ändern. Auf ihrer Suche nach Wahrheit stellen sie sich im Sinne C.G. Jungs dem Teufel und beziehen ihn mit ein, blicken, frei nach Nietzsche, in den Abgrund, der gleichzeitig in sie hineinblickt. Der gefallene Engel, der Vampir, wird zur Transformation des Schattens in die körperliche Welt, und damit zu einer Form der Erkenntnis.

Hinzu kommt eine Sehnsucht nach Geborgenheit, die Jugendliche in der Alltagswelt und in zerrissenen Familien nicht finden: Denn einer der Aspekte der Vampirkultur sei, laut Ramsland, der, dass der Meister seinen Untergebenen völlig aufnähme. Lust an der Unterwerfung ginge einher mit dem Bedürfnis nach Behütung. Dabei bietet der Vampir einen Rahmen, um einen Blick in den Abgrund zu werfen und Ängste ebenso wie die Wünsche auszuleben. Der Vampir steht für ungezähmte Gefühle in einer Gesellschaft, in der „Leben“ bedeutet, in das Einkaufszentrum zu gehen und Fernsehen zu gucken. Dafür steht auch das Blut trinken des Vampirs, sich selbst zu verletzen, im Wortsinn zu öffnen, das Risiko der Emotionen einzugehen gegen die Langeweile der Verhältnisse.

Die Psychologin Barbara Kirwin sieht die Vampirsubkultur westlicher Jugendlicher als Abgrenzung zu den Eltern. Heutige Erwachsene versuchen demnach, für immer jung zu bleiben, die Musik, die sie hören, ist ähnlich wie die der Teenager. Damit saugen sie die Jugend ihrer Kinder. Ein Selbstausdruck als Vampire wäre eine Reaktion darauf: als kranke Kinder der Verhältnisse. Die jugendlichen „Vampire“ erleben sich als Außenseiter. Sie trauen der Politik und der Gesellschaft nicht. Der Anne Rice Vampir Louis mit seiner Melancholie und sein Schöpfer, der egomanische Lestat, bieten Identifikationsmuster an. Lestat ist ein Rockstar, eine Gottheit in einer Zeit, in der es keine Götter gibt. Zudem gibt die Subkultur einen Rahmen für sexuelle Initiation: Blutfetischismus, S/M Szene und Vampire überschneiden sich. Virtueller Sex ist heute zwar allgegenwärtig, es fehlen aber Initiationen für den Eintritt in die Sexualität: Die bietet die Vampirszene mit Kleidungscodes, einer eigenen Sprache und ritualisierten Rollenspielen und außerdem eine Gemeinschaft, in der Grenzen ausprobiert werden. Die Subkultur wird Familienersatz: Es ist kein Zufall, dass sich Vampirrollenspieler in „Clans“ organisieren. Der Vampir ist ein Grenzgänger, auch bisexuelle Erfahrungen, Androgynität, das Spiel mit Geschlechterrollen, lassen sich in ihm ausdrücken. Eine unsterbliche Figur wie der Vampir suggeriert die Ausdehnung von Wünschen bis in die Unendlichkeit in einer Gesellschaft, in der alles immer schneller geht.

Twillight – Die Bis(s)- Romane

Das „Dazwischen Stehen“, in einem Zwielicht, einem Twillight zu leben, ist eine Erfahrung, die jeder Jugendliche macht: Wie der Vampir steht er zwischen Leben und Tod, der vergangenen Kindheit und dem zukünftigen Erwachsenendasein. Das erklärt, warum junge Mädchen verrückt sind nach „Twillight“ –Vampiren wie Edward in Stephenie Meyers Bis(s) Romanen, sie sehnen sich nach unsterblichen Lovern, die übermenschliche Kräfte und Charisma aufweisen. Und Edward ist ein ewiger Jugendlicher, ein unsterblicher 17jähriger.

Menschen suchen Projektionsflächen da, wo reale Sicherheiten fehlen. Gerade bei Twillight wird sogar eine puritanische Moral deutlich. Edward ist anders als die anderen Jungen, die das Mädchen Bella bisher kennen lernte, schön und geheimnisvoll. Doch dieses Raubtier bezähmt gegenüber Bella nicht nur seine Sexualität, sondern auch seinen Blutdurst. Und, wenn er das schafft, so die Botschaft, kannst du es zumindest schaffen, bis „zum Richtigen“ keusch zu bleiben. Edward betont, dass er aus einer Zeit kommt, in der sich ein Junge bei den Eltern seiner Angebeteten vorstellen musste: Erst im vierten Band bringt Bela ein Halbvampirkind von ihm zur Welt. Stephenie Meyers Erfolg liegt im Zusammenspiel von gegensätzlichen Welten: Eine prüde Geschichte um die reine Liebe spielt in der Welt der Vampire und Werwölfe, im Reich des Todes, des Blutes und den Abgründen der Lust. Das Wesen dieses Abgrunds entpuppt sich als Gentleman, der seine Angehimmelte vor seinen vampirischen Sexualtrieben, seiner Blutgier schützt: Der Vampir als Minnesänger vor seinem Burgfräulein, nur, dass er, und nicht sie sich verweigert. Stephenie Meyer fasst es so zusammen: „ (Vampire) sind die Popstars im Gruselkabinett: attraktiv, klug, cool und wohlhabend. Aber sie wollen dich töten. Und wir wollen sein wie sie, doch was sie wollen, fürchten wir.“
Es könnte sich bei dem Megahype um „Bis(s)“ um eine Gegenbewegung zur so genannten Generation Porno handeln. Virtueller Sex ist per Mausklick erreichbar, in allen Variationen. Tätowierungen sind Mainstream, ebenso S/M-Parties. Keinen Sex zu haben oder bis zum „Richtigen“ zu warten, wäre das Besondere für Jugendliche, für die Sex Konsum und Alltag ist. Tatsächlich nimmt in den USA die Zahl der Keuschheitsgelübde zu. Und auch in Deutschland scheint es eine Tendenz zu einem Neo-Biedermeier zu geben. Die Suche nach dem „starken Mann“, der seine Geliebte auf Händen trägt, ohne sie anzurühren, wirkt interessant, wenn Sexualbeziehungen unübersichtlich werden. Bei Twillight kasteit sich Edward, um Bella vor seiner Vampirsexualität zu schützen. Denn, so der Kernsatz: „Der Löwe verliebte sich in das Lamm.“ Da der Vampir Bella liebt, ist sie kein Opferlamm, sondern das Raubtier wird Beschützer: Erst nach der Hochzeit will Edward Bella in einen Vampir verwandeln. Nur, wer ewig lebt, kann ewig lieben. Der Kunstgriff bei Twillight besteht darin, aus der subversiven Vampirfigur, seit dem 18. Jahrhundert eine Chiffre für psychische und sexuelle Tabus, ein christlich-konservatives Erziehungsstück zu formen, gegen das die Oswald Kolle Filme Hardcore-Pornographie sind. Dabei ist Edward nicht nur sexuell ein „guter“ Vampir: Er muss Blut trinken, trinkt aber nur Tierblut. Twillight bietet hier eine moralische Identifikationsfigur an: Töten und Blut, das heißt, Energie saugen, aber nur so viel wie nötig. Ihm stehen die „bösen“ Vampire gegenüber, gegen die Edward kämpft. Das einfache Strickmuster scheint ein verbreitetes Bedürfnis nach konservativen Werten, dem „richtigen“ Mann zu berühren: 40 Millionen Leser weltweit sprechen für sich.

Die Faszination des ewigen Vorspiels verweist darauf, dass der Vampir in seiner nicht entschärften Form für Sex steht: Bereits in der Serie True Blood, die auf RTL II läuft, geht es, was Sex & Crime angeht, härter zur Sache. Der Biss des Vampirs, der Blutdurst, lassen sich als verschlingende Sexualität deuten. Während die Gothic Novel den Akt nur andeutete, gehört heute, außer bei Twillight, heftiger Sex zum Genre. Bereits die Opfer des Grafen Dracula geben sich hin, um mit dem „Kuss des Todes“ belohnt zu werden – die viktorianische Leserschaft wusste, was gemeint war. Der Filmwissenschaftler Roy Frumges kommentiert die heutige Welle trocken: „Der Werwolf ist der Manisch-Depressive, der Vampir der Sexsüchtige. Beides sind Grundmotive der heutigen Zeit.“ Die Leserinnen der Vampirstories sind denn auch weniger bei Horrorfreaks zu finden, sondern bei „normalen“ Frauen zwischen 15 und 30.

Die Faszination, die die dunkle Seite ausübt, lässt sich über den Vampir befriedigen. Dabei hat sich die Figur verändert: Die literarischen Vampire im Gefolge Draculas waren Feinde alles Menschlichen, Wesen des Teufels, der populäre Vampir der Postmoderne ist ein Gentleman, ein tragischer Außenseiter, ein Individuum in einer Zeit, in der die Individualität verschwindet. Im Turbokapitalismus, dem die verbindenden Rituale und Sicherheiten fehlen, bekommt der Vampir eine neue Rolle: Er wird ein Symbol für zeitlose Beständigkeit. Denn der Vampir ist zwar vom Blutdurst getrieben, bleibt aber in seiner Unsterblichkeit immer gleich. Fantastische Figuren sind Sinnbilder für die Bedürfnisse und Ängste von Menschen. Zum Problem wird es, wenn Menschen Symbol und Wirklichkeit nicht mehr voneinander trennen können – und in manchen „Vampirzirkeln“ besteht diese Gefahr.

David Wellington zeigt den Gegenpol zu „Twillight“: Seine Vampire sind mordende Bestien, denen jede Romantik fehlt. Wer sich die zum Vorbild nimmt, hat ein psychisches Problem. Menschen werden aber auch in Zukunft über den Tod nachdenken und sich nach dem ewigen Leben sehnen. Der Vampir, der Tote, der in die Welt der Lebenden eintritt, wird uns deshalb erhalten bleiben.

Literatur:

Utz Anhalt: Der Werwolf. Ausgewählte Aspekte einer Figur der Mythengeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Tollwut. E-Text im historicum net unter hexenforschung.

Norbert Borrmann: Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Kreuzlingen / München 1998

Nathan Schwartz-Salant: Die Borderline Persönlichkeit. Vom Leben im Zwischenreich. Düsseldorf und Zürich 1992.

Claude Lecouteux: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. Düsseldorf 2001

Christa A. Tuczay: Die Herzesser. Wien 2007.

Dieter Sturm; Klaus Völker (Hg.): Von denen Vampiren. München 1994.

Katherine Ramsland. Vampire unter uns. Köln 1999.

Richard Noll: Vampires, Werewolves and Demons. Twentieth-Century Reports in the Psychiatric Literature. New York 1992.

Hans Meurer: Der dunkle Mythos. Blut, Sex und Tod. Die Faszination des Volksglaubens an Vampyre. 1996.

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Historiker, Dozent, Publizist