Der Völkerzoo - Zum hundertsten Geburtstag von Hagenbecks Tierpark

von Utz Anhalt (sopos)

Hagenbecks Tierpark in Hamburg, der erste Zoo, den Landschaftspanoramen und Freigehege kennzeichneten, feiert dieses Jahr hundertsten Geburtstag. In der Präsentation der Tiere und in den Sichtweisen auf Tiere und Menschen in Zoos lassen sich die Geisteshaltungen der jeweiligen Gesellschaft erkennen: Carl Hagenbeck baute 1907 den Tierpark in der Phase des Kolonialismus unter Kaiser Wilhelm II. Die zeitliche Überschneidung ist kein Zufall, denn der Zoodirektor war im Imperialismus des 19. Jahrhunderts zum weltgrößten Tierhändler aufgestiegen und ein Spiegel seiner Zeit: Er stellte in seinem “Panorama der Welt” nicht nur Tiere, sondern in Völkerschauen auch Menschen aus - vor allem aus Ländern, die die europäischen Großmächte unterworfen hatten.

Zoos sind nicht nur eine Institution, in der Menschen gehaltene Tiere anschauen, sondern auch die historisch neue Form der Wildtierhaltung des Bürgertums, in der Bürgerliche sich gegenüber Monarchie und Proletariat positionierten: Der erste Zoologische Garten der Welt, eine öffentliche Anlage unter bürgerlicher Kontrolle in der Stadt mit großem Tierbestand, entstand im Paris der Französischen Revolution 1794. Diese Anlage im Jardin des Plantes, geleitet von Naturphilosophen der Aufklärung, war ein bewusster Umsturz der Wildtierhaltung des Absolutismus. Die Tierhaltung des Ancien Regime ging in einem politischen Akt in einer öffentlichen Einrichtung auf, verlagerte sich vom Hof zur Stadt, vom Adel zum Bürgertum. An die Stelle geometrischer Wegesysteme des Barock, die die Macht des Monarchen symbolisierten, traten spielerische Bachläufe und versteckte Aussichtspunkte, um das Bild einer in Freiheit entfalteten Natur für freie Menschen zu schaffen.

Die Zoogründungen in London 1828 und in Berlin 1844 stellten hingegen keinen revolutionären Bruch zwischen Bürgertum und Adel da wie in Frankreich, sondern erfolgten in beiderseitigem Einverständnis von bürgerlichen Zoogründern und Krone. Kritische Bürger, Lehrer und Wissenschaftler, die Zoos als Anstalten der Volksbildung befürworteten, gründeten nach der gescheiterten Revolution 1848 in Deutschland Zoos, aber auch reiche Kaufleute mit Übersee- Erfahrung, besonders in Handels- und Hafenstädten wie in Frankfurt am Main 1858 und in Hamburg 1863. Die Motive der Zoogründungen schwankten zwischen Forschung, Bildung, Unterhaltung, Lokalpatriotismus und Provinzlerstolz bis hin zu finanziellem Interesse. Zoos waren ein Treffpunkt der Bourgeoisie, da die Arbeiter sich den Eintritt zumeist nicht leisten konnten.

Der Tierhändler Carl Hagenbeck stammte im Unterschied zu anderen deutschen Zoogründern weder aus dem Bildungsbürgertum noch aus dem Großkapital, sondern hatte auf dem Hamburger Spielbudenplatz nahe der Reeperbahn das Schaustellergewerbe gelernt - zwischen Marktschreiern, die “menschenfresserische Wilde” ebenso als “Kuriositäten” anpriesen wie den “Rieseneisbär” und andere Sensationen, die Profit versprachen. 1874 gründete Carl Hagenbeck seinen ersten Tierpark, nicht in den Vierteln des reichen Bürgertums, sondern in einem Milieu von Proletariat und Kleinbürgertum. Dieser Tierpark machte dem etablierten Hamburger Zoo am Dammtor massiv Konkurrenz, insbesondere, da der Eintritt bei Hagenbeck viel günstiger war und sein erster Tierpark auch nicht inmitten der Viertel des Großbürgertums lag.

Hagenbeck wuchs in der Phase der Hochindustrialisierung des deutschen Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, die das Kleinbürgertum an den Rand drückte. Er schaffte es als einer der wenigen Kleinhändler, in die Großbourgeoisie aufzusteigen. Die internationalen Kontakte im Hamburger Hafen, der Ausbau der Schifffahrts- und Eisenbahnlinien, sowie das Eindringen der Kolonialmächte in die Herkunftsländer der begehrten Wildtiere in Übersee ermöglichten ihm, innerhalb weniger Jahre eine geschlossene Handelskette aus Tierfang, Transport, Zwischenlager, Tierdressur und Verkauf bis hin zur Öffnung von Zoos und Zirkussen aufzubauen. Zu dieser Handelskette zählten seit 1874 auch Völkerschauen, die Kritikern bis heute als Inbegriff rassistischer Präsentationen gelten, in denen Menschen mit Tieren gleichgesetzt worden wären.

1874 zeigte Hagenbeck Lappländer mit einer Rentierherde; 1877 vermarktete er eine Schau mit Nubiern aus dem Sudan; 1878 stellte er Inuit im Berliner Zoo aus. “Wildes Afrika” 1889 und “Menschenrassen des Nil” 1914 lauteten einige der Titel, mit denen Hagenbeck Werbung für seine Völkerschauen machte. Sein Assistent, der Zoologe Alexander Sokolowsky, behauptete, seinem Chef wäre es um Aufklärung und Verständnis für andere Völker gegangen, sagte aber zugleich deutlich, dass die Völkerschauen den kolonialen Gedanken in Deutschland fördern sollten.

Tatsächlich überschnitten sich die Präsentationen Hagenbecks mit dem Selbstverständnis der Kolonialherren Europas: Ein Schauspiel zeigte zum Beispiel arabische Sklavenhändler, die ein Dorf im Sudan überfallen, um Sklaven zu jagen; Hagenbecks Tierfänger verjagen die Araber und feiern mit den Schwarzafrikanern ein Freundschaftsfest. Das war klassische Kolonialideologie; denn die Imperialisten begründeten die “Schutzherrschaft” über Afrika unter anderem damit, dem Sklavenhandel der Araber Einhalt zu gebieten. Dass der Profit beim europäischen Händler und nicht bei den Afrikanern vor Ort blieb, erschien in dieser Propaganda als humanistischer Akt.

Hagenbecks Assistent, Alexander Sokolowsky, war Schüler des “deutschen Darwin”, Ernst Haeckel. Haeckel hatte einen biologistischen Rassismus konstruiert, nach dem die Unterschiede zwischen “Natur- und Kulturvölkern” so groß wären wie die zwischen verschiedenen Tierarten. Die “gebildeten Europäer”, die “Kulturmenschheit” hätten nach Sokolowsky das Recht, die “primitiven Völker” zu studieren. Anthropologen wie Rudolf Virchow besuchten die Völkerschauen und vermaßen die ausgestellten Menschen, Kaiser Wilhelm II. ließ sich Menschen aus Afrika im Tierpark vorführen.

Carl Hagenbeck allerdings als politischen Ideologen des Imperialismus zu sehen, ist dennoch nicht richtig: Der Unternehmer hatte zwar Kontakte sowohl zu fortschrittlichen als auch zu reaktionären Prominenten seiner Zeit, vom berühmten Naturkundler Alfred Edmund Brehm bis zum rassistischen Theoretiker Ernst Haeckel, von Bismarck bis zu Wilhelm II. - eine reflektierte Identifikation mit deren Weltanschauungen lässt sich daraus aber nicht ableiten. Die politischen Geschehnisse seiner Zeit, ob Bismarck, Kriege, koloniale Freiheitsbewegungen oder Klassenkämpfe in Hamburg, interessierten ihn nur, wenn sie sein Unternehmen beeinflussten: sei es, dass im Mahdi-Aufstand der Tierhandel in Nordostafrika zusammenbrach, sei es, dass Bismarck ein Urteil über einen Wildesel abgab.[1] Den Aufmarsch der Soldaten im Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 beschrieb der Tierhändler zum Beispiel wie ein Panorama, ohne sich über die politischen Hintergründe Gedanken zu machen. Eben dieser Panoramablick und die Aussicht auf ein gutes Geschäft kennzeichneten Hagenbecks Präsentationen: Er war ein cleverer Geschäftemacher, der Assoziationen, Zeitgeistströmungen und Erwartungen eines deutschen Massenpublikums als lebende Bilderwelten inszenierte. Wie wenig diese Erwartungen der Wirklichkeit der präsentierten Menschen entsprachen, wurde deutlich, als eine Gruppe Bella-Coola, Indigene von der amerikanischen Nordwestküste, 1889 auftrat. Diese Bella-Coola trugen ihre reale Kleidung - keine Bisonfelle, Kriegsbemalung oder Federschmuck. Besucher entrüsteten sich: “Das sind keine echten Indianer”. Werbeplakate reduzierten die dargestellten Menschen auf Stereotype wie eben “wildes Afrika”. Diese optisch inszenierten Klischees wurden so arrangiert und inszeniert, dass die schon vorhandenen Imaginationen des Publikums den Schein der Authentizität bekamen. Die Bilderwelten der Völkerschauen knüpften an verzerrte Vorstellungen an und entwarfen sie wiederum von neuem.

Carl Hagenbeck brachte sein Selbstverständnis auf den Punkt: “Wo seid ihr geblieben, ihr Söhne der Prärien, die ihr euch meiner Führung in das Land der Weißen anvertrautet, die euch anstaunten wie Wundertiere?” Er betrachtete sich als überlegenen -weißen- Führer, der die “Exoten” in sein Land brachte, wo das -weiße- Publikum sie wie Tiermenschen aus einer Fabelwelt betrachtete und die europäische Überlegenheit gewahrt blieb. Die Völkerschauen waren romantisierende Variationen des Kolonialrassismus, eben nicht in der vernichtenden Konsequenz, sondern als Paternalismus, als Darstellung tolerierender Arroganz, in der der “Wohltäter” Carl Hagenbeck seine hütende Hand über “Naturmenschen” und Wildtiere hielt und ihnen Schutz in seinem Reservat, seinem Park, gewährte. Die Menschen in den Völkerschauen waren Carl Hagenbeck keine “Barbaren”, die es auszurotten galt, oder “Heiden”, die er bekehren wollte, sondern Schausteller, Angestellte, mit denen er Profit machen konnte. Er zeigte das Gespür eines Geschäftsmannes aus St. Pauli, der das Anpreisen von Sensationen gelernt hatte - ein Gespür dafür, die exotistischen Fantasien des Publikums als greifbares Theater zu inszenieren. Hagenbeck erscheint als Prototyp eines Self-Made-Man, eines Unternehmers, der in den neu erschlossenen Profitmöglichkeiten des Kolonialimperialismus aufstieg. Mit dem preußischen Kadavergehorsam hatte der Aufsteiger aus dem weltoffenen Hamburg wenig zu tun, sein bisweilen rücksichtsloser Individualismus entsprach eher dem amerikanischen Pionierideal. Das Vorbild für seine Völkerschauen fand er dementsprechend auch nicht in den Pamphleten völkischer Denker, sondern bei den “Wild West Schauen” von Buffalo Bill Cody. Der hatte seine realen Erfahrungen im amerikanischen Westen bereits zu Lebzeiten als Mythos vermarktet und zog mit Cowboys, amerikanischen Ureinwohnern, Planwagen, Pferden und Bisons um die Welt und inszenierte Western-Mythen als Schauspiele. Diese Schauspiele mit relativ original nach gebauten Kulissen und ehemals real in die dargestellten Geschehnisse Involvierten gab es in Deutschland nicht und Hagenbeck setzte Ähnliches um wie Buffalo Bill: Er setzte Erfahrungen seiner eigenen Expeditionen in Szene, die Homraner, die für ihn wirklich Tiere gefangen hatten, zeigten ihre Fähigkeiten einem deutschen Massenpublikum; die Pfleger seiner Elefanten ließ er aus Indien anreisen.

Als Unternehmer hatte der Hamburger Tierhändler kein Interesse daran, Indigene in Ketten nach Europa zu bringen, sondern daran, sie als Lohnarbeiter anzustellen: Er bewegte sich, wie auch die Mittelsmänner und Zwischenschichten in den kolonisierten Ländern, an Schnittstellen, die ihm der Kolonialismus bot. Hagenbeck baute sein Unternehmen nicht auf, um ein politisches Programm umzusetzen; er nutzte die koloniale Expansion, um sein Unternehmen voranzutreiben, aber nicht sein Unternehmen, um die koloniale Expansion voranzutreiben. Reflektiert griff er rassistische Stereotypen auf, wenn und weil sie in das Konzept seiner Schauen passten, nicht aber indem er selbst rassistische Theorien entwarf. Die Völkerschauen stehen in einem Zusammenhang mit den Dinosaurierplastiken und den Tierpanoramen, wobei der Monismus und Rassismus Ernst Haeckels - vermittelt über Sokolowsky - einen indirekten Einfluss hatte, aber eben keinen direkten. Hagenbeck selbst äußerte sich zu seiner Weltanschauung: “Obgleich ich durchaus nicht gesonnen bin, mein Licht als Geschäftsmann unter den Scheffel zu stellen, so muss ich doch bekennen, dass ich in erster Linie Tierliebhaber bin.”

Hagenbeck: “In den afrikanischen Urwald, in die Dschungel Indiens, in die weiten Steppen Sibiriens und die Eiswüsten der Polargebiete müssen Kundschafter entsandt werden. Ihnen folgen die Weltreisenden und Jäger mit ihren eingeborenen Hilfskräften. Anders als der Jäger, den nur die Lust am Sport treibt, müssen wir zu Werke gehen …” Hagenbecks Rolle für das Kaiserreich ist vergleichbar mit der, die “West-Men” wie Kit Carson für die Siedlertrecks und für die US-Army bei der Zerschlagung der Indigenen spielten - Pionierkenntnisse in der Peripherie - es ist nicht die Rolle von Krupp und Thyssen in den Weltkriegen, die Hagenbeck, der 1913, ein Jahr vor der Explosion des bürgerlichen Zeitalters, starb, nicht mehr erlebte.

Die Völkerschauen waren nur indirekt Propaganda für das Prinzip, sich die Herkunftsländer der Ausgestellten aneignen zu dürfen. Der koloniale Bezug in Hagenbecks Tierpark war imaginativ und unreflektiert, keine gezielte politische Perspektive des Imperialismus, sondern das Anknüpfen an vorhandene Vorstellungen, um Publikum anzulocken. Der Kolonialismus bot ein Ventil für die Kleinbürger, sich in der Peripherie einen Status zu verschaffen, statt sich gegen die Verhältnisse in Deutschland zu richten: Carl Hagenbeck ging es indes weder darum, die kleinbürgerliche Jugend zu mobilisieren, in Afrika einzumarschieren noch die Verhältnisse in Frage zu stellen, sondern sie in seinem Tierpark zu unterhalten. Hagenbeck schrieb: “Von den Somalis bis zu den Hottentotten, von den Kalmücken bis zu den Australiern haben die Völkerschauen alles in sich aufgenommen, was sich nur aus ihren Stammessitzen herauslocken ließ.” Es ging ihm darum, die “Anderen” als Schau zu präsentieren. Sein Vorbild waren nicht die Schriften der Rassentheoretiker, sondern Wachsfigurenkabinette, die “dickste Frau der Welt” und aus Fisch- und Affenkörpern zusammengenähte “Meerjungfrauen” auf dem Spielbudenplatz. John Hagenbeck, sein Halbbruder, schrieb in seiner Biografie, dass er sich im Gegensatz zu seinen Mitschülern nie in die Lektüre von “Lederstrumpf” oder “Der letzte Mohikaner” hätte stürzen müssen, da ihm “exotische Romantik” im “Hause Hagenbeck erblüht sei”. Und für diesen Exotismus in Hagenbecks Panorama stand eher Karl May Pate als der Kolonialist Carl Peters. Wenn Russell Means vom American Indian Movement über den Landraub an den amerikanischen Indigenen schrieb: “Sie kommen immer zu dritt, der Händler, der Priester und der Soldat”, dann war Hagenbecks Rolle die des Händlers. Die Völkerschauen veranstaltete er, als und weil der Tierhandel zusammenbrach.

Hagenbeck schrieb über die Völkerschauen: “Was zuerst wie ein artiges Spiel und eine angenehme Abwechslung erschien, erwies sich als großes Glück. Der Tierhandel, weit davon entfernt, lukrativ zu sein, brachte in jenem Jahr große Verluste, und die Völkerschauen waren es nun, durch welche das Manko gedeckt wurde. (…) Aber schon im folgenden Jahr, das im Zeichen des Elefanten stand, wendete sich das Blatt.” Es ging ihm um das Geschäft.

Verkürzte Verurteilungen im Sinne einer stereotypen Täter-Opfer-Dichotomie erklären nicht das für Hagenbecks Unternehmenserfolg wichtige Geflecht von Widerstand und Kollaboration, persönlichem Vorteil und Ausbeutung. Das verdeutlichen zwei der Beziehungen, die Carl Hagenbeck pflegte: Sein Vorbild Buffalo Bill Cody war zwar ein Geschäftsmann, zugleich aber einer der ganz wenigen Weißen, den Sitting Bull, die bedeutendste Persönlichkeit des indigenen Widerstandes, als Freund ansah. Denn Buffalo Bill setzte sich für die Rechte der in erbärmliche Reservate eingepferchten Ureinwohner ein.

Der Somali-Scheich Hersy Egga war mit einer Gruppe auf einer Völkerschau bei Hagenbeck aufgetreten. 1906 suchte er 2000 Dromedare für die deutschen Truppen in Swakopmund aus, um den Herero-Aufstand niederzuschlagen und erhielt von Kaiser Wilhelm dafür eine Verdienstmedaille - Hagenbeck transportierte die Dromedare und ermöglichte Hersy Eggas Sohn den Schulbesuch in Hamburg. Hersy Egga war kein “Opfer rassistischer Völkerschauen”, sondern Geschäftspartner. Nicht das Engagement auf einer Völkerschau fordert in diesem Fall Kritik, sondern die gemeinsame Täterschaft als Kriegsgewinnler - Opfer waren letztlich Morengas Freiheitskämpfer. Kaiser Wilhelm interessierte hier Hagenbecks Verbindung zu den Kamele haltenden Somali und Hagenbeck machte das, was er am besten konnte - mit Tieren handeln. Für die tolerierende Arroganz, den Exotismus, gilt auch hier, dass sich Hagenbecks Sympathien und Antipathien auf den Nutzen oder Schaden für sein Geschäft bezogen.[2] Hagenbeck war der Einzige, der über die Kontakte und die Erfahrung verfügte, Dromedare in diesem Ausmaß zu importieren und war 1906 als weltgrößter Tierhändler Kaiser Wilhelm nicht gerade unbekannt, allzumal Hagenbeck Versuche gemacht hatte, fremde Wildtiere in Deutschland einzubürgern, was für Kaiser Wilhelm von großem ökonomischen Interesse war. Im Unterschied zu Sokolowsky, der sich damit auseinandersetzte und es begrüßte, welche militärische Bedeutung die Dromedare für “das Vaterland” hätten, erwähnte Hagenbeck nicht einmal, dass die Dromedare für die Niederschlagung des Hereroaufstandes gedacht waren - dafür aber die Eigenarten der Dromedare, die Probleme des Transportes, die klimatischen Umstände, die Kosten des Unternehmens. Diese Art der Schilderung durchzieht seine Autobiografie.[3] Tiere verkaufte er an Zirkusdirektor Barnum ebenso wie an den Sultan von Marokko, an Zoos wie an Zirkusse und Privatpersonen; stolz berichtet Hagenbeck von Kaiser Wilhelms Tierparkbesuch, ebenso stolz darüber, wie gut die “Kalmücken-Reiterschau” bei Kaiser Franz-Joseph in Wien ankam, ebenso stolz auch darüber, wie Zirkusdirektor Barnum ihm für 15.000 Dollar Tiere abkaufte. Das Geschäft kam vor dem “Patriotismus”.[4]

Im Unterschied zu Hersy Egga war die Erfahrung der Völkerschauen für andere Ausgestellte, unter anderem aus Feuerland und Grönland, eine Traumatisierung.

Ein Grund für den Erfolg von Hagenbecks Völkerschauen war ein in Deutschland seit der Romantik weit verbreitetes Klischee des von der Zivilisation unberührten “edlen Naturmenschen”, das schnell in seine Kehrseite, den “Menschen fressenden Kannibalen” kippte. Hinzu kam, dass nach 1848 Deutsche in Massen der Knute des Preußenstaates in die erhoffte Freiheit der USA entflohen waren - unter anderem in das heutige Texas. Deren Erzählungen fanden bei den Hinterbliebenen enorme Resonanz. Vor allem Karl Mays Fantasien über Indigene Nordamerikas, Helden des “Wilden Westens” und andere Naturburschen außerhalb der Industriekultur waren Bestseller an der Wende zum 20. Jahrhundert. Hagenbeck inszenierte literarische Fantasien wie die Karl Mays als Modell zum Anfassen mit realen Menschen und Ausrüstungen, die Echtheit vermittelten - mit Postkutschenraub oder Straußentreibjagden auf Rennkamelen. Es ist kein Zufall, dass Angestellte von Hagenbeck zu den ersten deutschen Dokumentarfilmern gehörten: die Inszenierungen nahmen spätere Filmplots vorweg.

Der Exotismus, die tolerierende Arroganz, der die Anderen ästhetisiert und zur Unterhaltung einsetzt, das Salz in der Suppe der eigenen Sehnsüchte nach Abenteuer und Entfaltung, kann durchaus Rassismus sein, auch wenn der Fremde vermeintlich positiv erscheint. Zu einer kritischen Auseinandersetzung zum Beispiel mit der Situation der indigenen Opfer des Völkermordes in Amerika waren die Völkerschauen nicht geeignet. Nordamerikanische Indigene mit dem Stereotyp der Bisons jagenden Präriekulturen waren zwar im deutschen Klischee - auch durch Karl May- positiver besetzt als in den USA, die Begeisterung für sie als Symbol für den “authentischen Freiheitskämpfer, der seine Scholle verteidigt” blieb aber Wunschvorstellungen verhaftet: Diese Wunschvorstellungen resultierten auch aus den Existenzängsten der Kleinbürger und ihrer unreflektierten Kritik an der Monopolisierung der Großindustrie.

Hagenbeck verbildlichte den Herrschaftsanspruch des weißen Mannes, in dessen Obhut exotische Tiere und als Exoten präsentierte Menschen gezähmt lebten. Und in dieser Tier- und Menschenschau lag Hagenbecks Fähigkeit darin, dass er die zur Schau gestellten Kulturen ebenso kannte wie die Fantasien des Publikums und so den Schein des Echten vermittelte. Er war eine Identifikationsfigur für viele, die unter der Enge im Wilhelminischen Staat und der Entfremdung ihrer Lebenswelt im Industriekapitalismus litten, denn er schien die aufgeführten Abenteuer selbst erlebt zu haben. Das Freiheitsversprechen seines Exotismus - Länder zu bereisen, die aufregender als die erlebte Wirklichkeit wären - wirkte in der Starre der deutschen Klassengesellschaft wie ein Magnet.

Carl Hagenbecks Landschaftspanoramen und auch seine Völkerschauen haben mit dem vernichtenden Rassismus, wie ihn die Nazis und ihre Vorläufer praktizierten, weit weniger zu tun als mit Bedürfnissen, wie sie heute Touristikunternehmen produzieren und befriedigen. Der Exotismus steht an der Schnittstelle zwischen Weltoffenheit und Paternalismus, Interesse an anderen Kulturen und deren Vereinnahmung. Kontinuitäten von Hagenbecks Völkerschauen sind nicht die Vernichtungslager für Juden, Roma und Sinti, sondern die “authentische Folkloregruppe” plus Animateur und Vollpension beim Urlaub in Antalya bei gleichzeitiger Ignoranz der Lebensbedingungen von Migranten hierzulande.

Ein “African Village” im Zoo Augsburg 2005 löste internationale Proteste aus: Schwarze Deutsche, Ethnologen und Menschenrechtler fühlten sich an eine “koloniale Völkerschau” erinnert. Auslöser des Protestes war die Direktorin Barbara Jantschke, die sinngemäß auf eine besorgte Nachfrage geantwortet hatte: “Zum Zoo gehört die Exotik”. Damit sagte Frau Jantschke, dass Menschen aus Afrika, sich als Exotik präsentieren lassen. Die Kritiker hatten recht: Das “African Village” war ganz eindeutig ein kommerzielles Projekt mit “Afrika” als Lockmittel, ohne einen reflektierten Zugang oder Pädagogik zur Realität und Geschichte afrikanischer Gesellschaften zuzulassen. Die Veranstaltung war nicht geeignet, Afrikaner als gleichwertig zu empfinden, indem zum Beispiel Professoren aus Tansania über dortigen Naturschutz referiert hätten. Schwarzafrikaner, die Zöpfe flochten oder “typisch afrikanische Musik” spielten, waren Teil einer Ausstellung mit Tieren und Pflanzen. Auf das sarkastische Angebot eines brasilianischen Bürgers, sie hätten auch einen Zoo, wo die Direktorin doch typisch bayrische Tätigkeiten wie Kühe melken vorführen könnte, reagierte Frau Jantschke allerdings nicht. Auch der Zoo Hannover vermittelt mit der Dschungelbuch-Ästhetik eines “Dschungelpalastes” und “Kaffeegenuss am Sambesi” die falsche Authentizität eines Erlebnisses in neokolonialer Tradition.

Es geht auch anders: Im Zoo Erfurt steht am neuen Bisongehege eine Rede des Sioux Lame Deer, die die gezielte Ausrottung des Bisons im 19. Jahrhundert mit dem Ziel, die indigenen Kulturen zu vernichten, benennt. Ein Mann namens “Dusty” bietet “Abenteuer und Romantik” im “Indian Camp” auf dem Zoogelände. Warum führte aber die Veranstaltung in Augsburg zu internationalem Protest, während ein Blackfeet-Älterer die Bisonanlage in Erfurt persönlich einweihte? Die Unterschiede sind deutlich: “Dusty” lebt in seinem Camp, es handelt sich nicht um eine kommerzielle Veranstaltung, auch wenn sich “Dusty” mit Erlebnispädagogik seinen Lebensunterhalt verdient. Er ist seit Jahren mit Blackfeet befreundet. Der Blackfoot, der die Anlage einweihte, war kein Ausgestellter, sondern verstand sich als “Botschafter seines Volkes” - ein Partner, kein unterhaltender Exot. “Dustys” Arbeit besteht in einer Reflexion der leidvollen Geschichte und Gegenwart amerikanischer Natives. Der Zoo Köln informiert über Regenwaldzerstörung durch internationale Konzerne und Alternativen im Sinne einer nachhaltigen Nutzung, leistet ebenfalls Aufklärungsarbeit und baut Nationalparks in Vietnam auf. Eine kritische Arbeit in Zoos ist also möglich - Veranstaltungen wie das “African Village” zeigen, dass sie notwendig ist.

Anmerkungen:

[1] Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen: “Unser Tierparadies im Sudan war fast fünfzehn Jahre verschlossen, und der Engel im flammenden Schwerte, der die paradiesische Pforte bewachte, war Abdullahi Kalifat el Mahdi, der Nachfolger des Propheten. (…) Längst sind unter ägyptisch-englischer Herrschaft geordnete Verhältnisse zurückgekehrt. In den Gebieten indes, die für uns in Betracht kommen, hat sich vieles in trauriger Weise verändert. Der reiche Wildbestand, den meine Reisenden vor dem Mahdistenaufstand dort antrafen, ist heute auf kaum ein Zehntel des einstigen Bestandes geschrumpft.”

[2] Hagenbeck: “Sehr geschickte Helfer waren uns auch die Fallensteller aus dem Stamm der Takruris (…). Im Zuge der Völkerschauen lernte ich eine Anzahl der tapfersten Jäger kennen, die in mir nach ihren Begriffen so eine Art Oberhäuptling der von mir ausgesandten “Krieger” sahen. (…) Besonders mit dem Somalihäuptling Hersy Egga, den der Leser schon bei den Völkerschauen kennenlernte und der mir später bei meinem größten Transport von 2000 Dromedaren sehr behilflich war, verband mich eine andauernde Freundschaft.” Seine Beschreibung dieses Tiertransports für die Kolonialtruppen unterscheidet sich kaum von einem früheren Dromedarimport zusammen mit Hersy Egga: “Tränen flossen (…) sichtbar über die braunen Wangen unseres alten Freundes Hersy Egga, den Lesern bereits seit der Londoner Afrikaschau ein wohlbekannter Somalihäuptling. Er und sein Stamm waren hocherfreut, meinen Sohn und meine Reisenden in ihrer heißen Heimat wiederzusehen (…) Aber mein guter Hersy Egga hatte auch lobenswert gearbeitet. Hundertachtzehn ausgesuchte Dromedare standen zur Übernahme bereit.” Wenn man es nicht wüsste, könnte man kaum ableiten, dass es sich bei dem einen Dromedarhandel um einen “normalen” Tierimport für Zoos und bei dem anderen um einen Auftrag für die Kolonialtruppen handelt. Die “Freundschaft” zu Hersy Egga findet ihren “tieferen Sinn” darin, dass er ein zuverlässiger Geschäftspartner ist.

[3] Hagenbeck: “Genau 192 Tage nach meiner ersten Unterredung in Berlin konnte mein Sohn Lorenz dem abnehmenden Offizier den letzten Transport der 2000 Dromedare übergeben. (…) Eine Anzahl echter reinblütiger Renndromedare war dabei, die unter Lebensgefahr meiner Leute behandelt wurden, denn die Araberstämme betrachteten ihre Zucht gewissermaßen als ihr Monopol. Die Ausführung eines derartigen Riesenauftrages brachte eine starke finanzielle Anspannung mit sich. (…) Ich bin der Überzeugung, dass die Einführung des Dromedars in Südwestafrika sich als eine kulturhistorische Tat erweisen wird.”

[4] Der Marxist Markov kommentierte die mir vorliegende Ausgabe “Von Tieren und Menschen” von 1957: “Über Bismarcks drei Kriege, über die Pariser Kommune, über das Sozialistengesetz, über die dem ersten Weltkrieg vorauseilenden und gerade in Hamburg diskutierten internationalen Krisen, über Klassenkämpfe und geistige Strömungen suchen wir vergebens nach einem zustimmenden oder verdammenden Wort. Fielen nicht hin und wieder Namen und Titel prominenter Besucher von Hagenbecks Tierpark, so möchte man glauben, dass die -sollen wir sagen: kommerzialisierte - Tierliebe, fern von allen gesellschaftlichen Pflichten, ein Dasein in den Wolken geträumt oder gar gelebt hätte. (…) Mitunter stehen sogar, wie bei der Einfuhr von Kamelen nach Südwestafrika, militärische Erwägungen dahinter. Damit verliert der Tierhandel den Charakter einer politisch vergleichsweise indifferenten Zirkusangelegenheit. (…)Hagenbecks Erinnerungen sind recht offenherzig. Sie verschweigen nicht, dass es ihm vorwiegend ums Geschäft zu tun war. Seinem Ideal des tüchtigen und in keinem Bedacht wählerischen Selfmade-man bleibt er zeitlebens treu. Koloniale Freiheitsbewegungen bedeuten ihm nicht mehr und nicht weniger als eine Störung seines Tierfangs, und er ist empört, wenn sich “Eingeborene” der ihnen bestenfalls zugedachten Rolle des Bakschisch-Empfängers widersetzen.”

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Historiker, Dozent, Publizist