Rezensionen

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Rezension Sandrone Dazieri – In der Finsternis

Dante Torre ist als Freelance-Profiler begehrt, denn er erkennt die Abgründe der Menschen an Details, die anderen nie auffielen – und fast immer liegt er richtig. Damit verdient er seinen Lebensunterhalt, einen regulären Job hält der Labile nämlich nicht aus. Er leidet an Klaustrophobie und sammelt Dinge des Alltags.

Torres Begabung und seine psychischen Probleme haben den gleichen Ursprung: Als kleiner Junge wurde er entführt und verbrachte elf Jahre als Gefangener in einem Betonsilo. Dort lernte er, die kleinsten Hinweise seines Peinigers zu deuten.

Viele Jahre später verschwindet wieder ein Junge. Polizisten treffen auf einen Verwirrten, der sagt, er sei eingeschlafen, und als er aufwachte, wären sein Sohn und seine Frau verschwunden. Die Polizei findet die Leiche der Frau, nicht aber den Sohn und steckt den Vater als mutmaßlichen Täter in Untersuchungshaft.

Doch Polizeichef Rovere hat einen anderen Verdacht und setzt die Polizistin Colomba Caselli auf Torre an. Der Ermittler zieht nämlich Parallelen zu dessen Entführung. Dante denkt, dass sein Entführer hinter dem neuen Fall steckt. „Vater“ musste er ihn nennen, und die Behörden denken, dass der „Vater“ nur in Torres Fantasie existiert. Der offizielle Täter beging nach der Flucht von Dante Selbstmord – Torre sagt, es war Mord.

Die Polizistin Colomba Caselli glaubt Torre nicht nur, sondern will ihn überzeugen, auf die Spur des entführten Jungen zu gehen. Caselli selbst wurde vom Dienst suspendiert und leidet am Post-Traumatischen-Belastungs-Syndrom: Sie verfolgte einen Serienmörder in Paris, und als der in das Restaurant kam, wo sie ihn erwartete, explodierte eine Bombe und zerriss die Gäste. Caselli überlebte, fühlt sich aber für das Massaker mitverantwortlich.

Traumatisierte Protagonisten

Gebrochene Charaktere sind bei Thriller-Autoren in Mode. Der geschiedene Kommissar mit Alkoholproblem gerinnt zum Klischee und Täter mit einer bipolaren Persönlichkeit würzen Krimis.

Dieses Spiel mit der Andersartigkeit von psychischen Extremzuständen, ist indessen eine Herausforderung, an der viele Autoren scheitern. Traumatisierte haben nämlich keinen „Spleen“, der eine Figur um Facetten bereichert, sondern die Höllenfahrten des Unbewussten sind für „Normale“ eben so wenig verständlich wie für die Leidenden selbst. Ein Charakter, den der Leser nicht begreift, eignet sich indessen nur dann als Protagonist, wenn der Autor die Andersartigkeit erklärt – und zwar nicht mit dem Holzhammer, sondern in der Erzählung.

Dazieri gelingt das vorzüglich: In einer Art Prolog erzählt er den Alptraum von Dantes Kindheit. Torre schafft es kaum, bis an die Haustür zu kommen, seine Panik wirkt wie im echten Leben, seine Wohnung wie die eines Messies in einem Museum für Zeitgeschichte – und doch anders, denn ein Messie sammelt aus Verlustangst. Torre hingegen sammelt, um die Welt zu begreifen, von der er ausgeschlossen war.

Caselli und Torre verbindet die Vertrautheit von Menschen, die Schreckliches erlebten, so wie ein traumatisierter Soldat versteht, was ein sexuell Missbrauchter fühlt, wenn der sich in die Haut schneidet, um seinen Körper zu spüren. Dazieri recherchierte so gut, dass dieses Verständnis der beiden seelisch Beschädigten weder konstruiert noch sozialpädagogisch wirkt – sondern sich selbst erklärt.

Torre kann kaum den Alltag bewältigen, einerseits droht sein Nervengerüst zu zerbrechen, andererseits aber erweist es sich willensstark und analysiert hart in nicht-alltäglichen Situationen. Dazieri zeigt eine vielschichtige Persönlichkeit, die gelernt hat, entsetzliche Erfahrungen als besondere Begabung zu nutzen. Auch Caselli ist psychisch labil und eigentlich nicht dienstfähig; mit Hartnäckigkeit setzt sie sich aber durch.

Liebhaber oberflächlicher Action langweilen sich vermutlich durch den Einblick in Dantes Psyche. Wer indessen Erfahrung mit Traumatisierten hat, dem bietet Dazieri eine Fiktion nahe der Wirklichkeit. Assoziationen von Torre fügen sich langsam zusammen; dem Leser geht es wie den Ermittlern: So abstrus es aussieht, aber Dantes Einschätzungen stimmen.

Vom Serienmörder zum Polit-Thriller

Dazieri schreibt zwar auch über Traumatisierte, vor allem aber versteht er sein Handwerk. Er stößt den Leser von einer falschen Spur in die nächste und überrascht durch eine Wendung nach der anderen. Der „Vater“ bleibt im Dunklen; neue Morde beweisen, dass er existiert. Doch wer ist dieser „Vater“ ? Ein Kinderschänder als Serienmörder? Was hat es dann aber mit den Soldaten auf sich, die Jahrzehnte zuvor Behälter transportierten, wie Dazieri wohl dosiert einschiebt? Warum versuchen Spitzen des Polizeiapparates, Caselli und Dantes Arbeit zu sabotieren? Warum setzt Rovere Caselli auf Dante an?

Rovere stirbt bei einem Terroranschlag. Er weiß um die Existenz des „Vaters“ und seine letzten Worte sind: „Er ist nicht allein.“ Ein Serienmörder mit Unterstützern? Inzwischen ist klar, dass der „Vater“ sich in Kinderporno-Foren herum treibt. Sind auch bekannte Politiker unter den Perversen? Werden Dante und Caselli deshalb gestoppt?

Bis kurz vor dem Finale sieht es so aus, und Dazieri hätte mit einem päderastischen Serienmörder, bereits einen anständigen Thriller geliefert. Dann aber dreht sich das Karussell: Es handelt sich nicht um sexuelle Perversion, sondern um Staatsräson - und einen italienischen Mengele.

Dazieri inspirierten Versuche der CIA; statt diese aber in Verschwörungs-Theorien weiter zu spinnen, setzt er sie in Literatur um: Dante weiß, dass er dem „Vater“ nicht entkommt. Mehr noch: Dante Torre ist nicht Dante Torre. Die Macht des „Vaters“ über Dantes Unbewusstes geht weiter als das Opfer und der Leser ahnten – und alles ist anders. Großes Kino.

Produktinformation

Gebundene Ausgabe: 560 Seiten

Verlag: Piper (9. März 2015)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3492056881

ISBN-13: 978-3492056885

Originaltitel: Uccidi il padre

Rezension: Elizabeth Kolbert / Das sechste Sterben – Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt / Suhrkamp Verlag Berlin 2015

„Wir entscheiden, welche Evolutionswege offen bleiben und welche für immer geschlossen werden.“ Elzabeth Kolbert

Der Mensch löst das sechste Massensterben von Arten in der Naturgeschichte aus, vergleichbar mit dem Ende der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit. Wissenschaftler bezeichnen unser Erdzeitalter auch deshalb als Anthropozän, weil nie zuvor eine Spezies andere Arten ausgelöscht hat, und das in einem Ausmaß, wie es sonst nur Naturkatastrophen vermochten – bei den Dinosauriern vermutlich ein Kometeneinschlag im heutigen Yucatan.

Georges Cuvier erkannte als erster, dass Tierarten aussterben, präparierte das erste Skelett eines Mastodons, hatte um 1800 bereits die Fossilien von 23 Tierarten gesammelt und entwickelte eine Katastrophentheorie. Der zufolge hätte es Verheerungen in der Erdgeschichte gegeben, in der Arten verschwanden. Dass sich Arten aber veränderten, wie Lamarck und Darwin später feststellten, lehnte er rigoros ab.

Jean-Baptiste Lamarck ging hingegen davon aus, dass sich die Tierindividuen anpassten und ihre Körper veränderten: Vögel, die im Wasser lebten, bekamen Schwimmhäute, Maulwürfe verloren das Augenlicht. Cuvier verspottete den Kollegen, nach dem „Enten durch Tauchen zu Hechten wurden; Hechte sich auf dem Trockenen zu Enten verwandelten.“

Cuvier war Standard in der Zoologie, doch dann kam Charles Darwin und mit ihm die Evolutionswissenschaft. Darwin war von Charles Lyell beeinflusst, dem Geologen, der erkannt hatte, dass sich die Gesteine veränderten; der lehnte jedoch die Lehre der Transmutation von Lebewesen ebenso radikal ab wie Cuvier. Darwin belegte hingegen, dass die organische Welt ebenso im Fluss war wie die anorganische. Diese Evolution sei eine natürliche Zuchtwahl, durch die sich die Arten langsam veränderten oder ausstarben. Die weniger begünstigten Arten müssten den besser angepassten Platz machen.

Kolbert zeigt, dass zwar Cuviers Idee widerlegt ist, nach der Arten sich nicht verändern, seine Katastrophentheorie aber stimmt: Es gab fünf globale Artensterben, von denen die im Perm nahezu 99% aller Lebewesen dahin raffte. Allerdings besetzten neue Arten die ökologischen Nischen, und dann ging die Evolution weiter, die Darwin als Wissenschaft begründete.

Cuvier und Darwin übersahen, dass sie Zeugen des sechsten Artensterbens waren: 1844 erlegten drei Isländer die letzten beiden Riesenalke, flugunfähige Meeresvögel, die ursprünglich von Norwegen bis Neufundland und von Italien bis Florida verbreitet waren. Sie schwammen wie Pinguine, waren an Land aber unbeholfen, ließen sich mit Knüppeln erschlagen, lieferten soviel Fleisch wie eine Gans, dienten als Fischköder und Brennstoff.

Das Anthropozän

Anthropozän bezeichnet unsere Epoche, die vor 11 700 Jahren mit dem Ende der letzten Eiszeit begann: Ein Drittel der Landfläche wurde von Menschen umgestaltet; fast alle größeren Flüsse wurden eingedämmt oder umgeleitet; Menschen verbrauchen mehr als die Hälfte des zugänglichen Südwassers; Kunstdüngerfabriken produzieren mehr Stickstoff als in sämtlichen Ökosystemen eingebunden ist; fossile Brennstoffe und abgeholzte Wälder ließen das Kohlendioxid in der Luft in 200 Jahren um 40 % steigen, und das Methan verdoppelte sich. Die Meere sind 30% saurer als um 1800; in der Arktis ist die permanent von Eis bedeckte Fläche nur noch halb so groß wie vor 30 Jahren. Unberührte Natur gibt es nicht mehr: Unbewohnte Gebiete sind von Pipelines, Plantagen und Kraftwerken durchzogen; auf entlegenen Inseln schwemmt Plastik an die Strände.

Tierarten wurden seit der letzten Eiszeit von Menschen direkt ausgerottet, durch Jagd und Lebensraumzerstörung wie der Auerochse, der tasmanische Beutelwolf oder die Großlemuren Madagaskars – und wahrscheinlich war der Mensch mitverantwortlich am Aussterben der Mammuts, Riesenfaultiere und Mastodons. Tiere, Pflanzen und Pilze, die wir in Ökosysteme einschleppten, deren Lebewesen keine Verteidigung ihnen gegenüber entwickelt hatten, waren noch verheerender: Ratten, Katzen, Schweine und Hunde dezimierten die Fauna unbewohnter Inseln.

In der Moderne beeinflusst die Zivilisation jedoch das Weltklima selbst: Allein der Klimawandel wird vermutlich 10 % aller Arten auslöschen. Versauern die Meere können Korallen keinen Kalk mehr bilden, und die Artenvielfalt im Meer siecht dahin.

Das Artensterben als Horrorkomödie

Kolbert erzählt wohltuend ohne „Es ist fünf vor 12“ Moral und räumt sowohl mit Rousseaus edlem Wilden auf (denn bereits die Menschen der Steinzeit rotteten Tierarten aus), wie mit dem Glauben an die (kapitalistische) Zivilisation. Es fehlt zwar eine Kapitalismus-Kritik, denn die Naturzerstörung ist auch eine Folge der Produktionsform; das ist aber auch nicht ihre Frage. „Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt“ zeigt sie hingegen auf einen Parforce-Ritt vom Great Barrier Riff zum Regenwald Perus und von den Ammoniten des Erdaltertums bis zu den letzten Sumatra-Nashörnern heute.

Das sechste Sterben beginnt Kolbert zufolge nicht erst mit der modernen Industrie, sondern mit dem Homo Sapiens: „Mit der Fähigkeit, die Welt in Zeichen und Symbolen darzustellen, geht die Fähigkeit einher, sie zu verändern und somit auch die Fähigkeit, sie zu zerstören.“ Menschen sind zugleich die einzigen Lebewesen, die Informationen über Generationen speichern und so aus historischen Fehlern lernen: Die Ausrottung des Riesenalks gab zum Beispiel den Startschuss für Vogelschutzgebiete.

Kolbert verwebt die Geschichte des Massensterbens mit der Geschichte der Biologie, verknüpft ihre Tauchgänge am Great Barrier Riff mit dem Sterben der Meere, kaut Coca Blätter und erläutert die Artenvielfalt der Tropen. Sie bastelt das sechste Massensterben in die Tragikomödie ein, dass der Erfolg des Menschen die ökologische Katastrophe bedingt und formt Populärwissenschaft als Meisterstück.

Rezension Hamed Abdel-Samad / Der islamische Faschismus

Ein Islam-Forscher, der mit dem Muslimfresser Henryk Broder auf Tour geht, wirkt erst einmal so seriös wie ein Ägyptologe, der Erich von Däniken beim Pyramidenbau der Außerirdischen assistiert.

Dabei liefert der Ex-Muslimbruder Abdel-Samad Insiderwissen: Die Muslimbrüder verstanden sich demnach selbst als (klassische) Faschisten: Ihr Gründer Al-Banna korrigierte Mussolini nur insofern, dass nicht erst der Faschismus, sondern der Islam die Militarisierung der Gesellschaft entworfen hätte: „Der Prophet ist unser Führer, der Dschihad ist unser Weg, und der Tod für Allah unser höchstes Ziel.“ Terrorbanden brüllten „Ägypten über alles“. Wie die NSDAP nutzen Muslimbrüder Demokratie als trojanisches Pferd, um Freiheitsrechte abzuschaffen. Ob Al Qaida, Khomeini, Salafisten oder Erdogan: Der Islamismus ist, laut Abdel-Samad, notwendig gegen Demokratie gerichtet.

Ein „Kult der Überlieferung“, die Ablehnung von Moderne und Aufklärung, Sexismus, Fremdenhass und Machismus. Dazu Unterwerfung unter Führer, ein zu vernichtender Feind, Kampf zum Selbstzweck - das ist, laut Abdel-Samad, der „Ur-Faschismus“. Dessen Keim steckt schon in Mohammed. Eine gewagte These, aber leider kaum belegt und als Begriff fragwürdig.

Über den wirklichen Mohammed wissen wir nämlich sehr wenig; der Koran mit seinen Kommentaren war erst 200 Jahre nach seinem Tod verbindlich ausgearbeitet. Derweil wurzelt fast alles im Islam im alten Orient: Nahrungstabus von den Juden, die Propheten von Juden und Christen, Engel aus Babylon, der eine Gott (Ahuramazda) von den Persern; und das Weltkalifat beerbte die iranischen Großkönige.

Neu war indessen, dass ein Gesetzbuch in arabischer Sprache die zerstrittenen Araber „unter einem Gott“ einte. Imperien errichten Mauern, um die Peripherie draußen zu halten. Doch irgendwann überrollen die Ausgeschlossenen das Imperium: So wie die Germanen in Rom, so fielen die Araber mit dem Islam in Persien ein.

Wenn sich ein „Urfaschismus“ bei Mohammed zeigt, wie soll dann sein Kennzeichen „die Ablehnung von Moderne und Aufklärung“ sein? Unterwerfung, Machismus, Führerkult? Nebukadnezar; Karl, der Große; Dschingis Khan? Alles Faschisten? Die Liste ist ebenso unendlich wie ahistorisch.

In einem Totalitarismus-Brei verrührt Abdel-Samad neben Islamismus und Faschismus auch noch den Kommunismus. Analyse besteht aber darin, Unterschiede heraus zu arbeiten: Der Faschismus richtete sich in der Moderne gegen die politische Moderne – „liberte, egalite und fraternite“; Aufklärung, Bürgerrecht und Demokratie. Er bediente sich historischer Märchen ebenso wie der technischen Moderne, um vormoderne Herrschaft wieder einzuführen. Wie der Faschismus sind auch die Muslimbrüder ein Produkt der Moderne: Sayyid Qutb, das Vorbild Mursis, der seine „islamische Weltrevolution“ mit dem Nationalsozialismus verglich, war tatsächlich eine Art Faschist.

Der Islam aber ist dem entgegen eine vormoderne Kulturreligion, die in 1300 Jahren höchst unterschiedlich interpretiert wurde: War Mussolini Faschist, weil Julius Cäsar sich zum Diktator machte, oder Hitler Nazi, weil die Germanen Odin anbeteten? Faschisten halluzinieren solche Kontinuitäten; die historische Realität sieht anders aus.

Rezension Benjamin Percy / Roter Mond / Penhaligon 2014

„Hätte George Orwell sich eine Zukunft mit Werwölfen ausgemalt, dann wäre genau dieser Roman herausgekommen.“ John Irving

Werwölfe, die Flugzeuge in die Luft jagen und ein Präsidenten-Trottel, der selbst zum Werwolf mutiert? Das klingt nach irren Esoterikern oder nach einer Satire auf eben diese. Ist es aber nicht, sondern eine Parabel - in der Tradition von George Orwells „1984“ oder Karel Capeks „Der Krieg mit den Molchen“.

George Orwell skizziert in „1984“ totale Manipulation, die von den Manipulierten nicht mehr erkannt wird; in Karel Capeks „Krieg mit den Molchen“ dienen Lurche den Herrenmenschen als Sklaven, bis sie, wörtlich genommen, die Welt der Menschen untergraben.

Was erzählt Percy? Die Lykaner leiden an einer Mutation, die sie zeitweise in Tierartige verwandelt. Früher schnitten Ärzte ihnen deshalb Teile des Gehirns heraus; die Opfer starben oder vegetierten. Zugleich bekamen die Lykaner eine „Republik“ in einer Wildnis bei Finnland, wo die USA Uran ausbeuten und dafür die Lykaner unterjochen. Lykaner kämpften um ihre Rechte: Einige wurden Professoren an der Lykaner-Universität, andere gingen in den bewaffneten Kampf. Heute müssen Lykaner ein Medikament einnehmen, dass ihre Gefühlswelt nahezu abtötet, und das in Bluttests belegen. Die meisten fälschen die Tests, andere klagen weiter ihre Rechte ein, und die Guerilla mutiert indessen zum religiösen Terror.

Lykaner-Terroristen richten ein Blutbad in drei Flugzeugen an, und damit schlägt die Stunde des Gouverneurs von Oregon, William Chase: „Dies ist eine besondere Stunde. Amerika wird angegriffen.“ Der Ranchersohn wirkt, als hätte Charles Bukowski George W. Bush, Sarah Palin und Arnold Schwarzenegger zu einem Brei verrührt und dann durch das Klo gezogen. Er verkündet: „Extreminismus kann man nur mit extremen Maßnahmen bekämpfen“, und fordert eine öffentliche Datenbank für Lykaner; sie dürfen nicht mehr in Flugzeuge und den Staatsdienst; sie sollen einen Stempel „Lykaner“ in den Pass bekommen. Liberale beschwören zwar, dass Lykaner keine Terroristen sind; doch die Öffentlichkeit gehört den Demagogen.

Der Präsident wird gebissen - der heimliche Lykaner hetzt derweil weiter, aber sucht zugleich nach einem Impfstoff. Patrick, der „Wunderjunge“ überlebte als einziger die Anschläge, und die faschistische Miliz „The Americans“ will ihn als „Auserwählten“ in die Schlacht schicken. Doch seine Mutter ist selbst mutiert, und er verliebt sich in die Lykanerin Claire. Killer der Regierung ermordeten ihre Mutter und ihren Vater, Claire flieht zu ihrer Tante Miriam und erfährt, dass ihre Eltern für die Revolution kämpften, aber der Gewalt abschworen, als Claire auf die Welt kam. Miriams Mann Jeremy hingegen ist der „Andreas Baader“ der Lykaner und verantwortlich für die Anschläge. Jeremy wird verhaftet und zum Tode verurteilt; er griff als radikaler Bürgerrechtler zum (Gegen-) Terror, doch längst haben anders Motivierte die Waffen übernommen: Balor sieht sich als Werkzeug Gottes und will eine „reine Lykaner-Welt“ schaffen. Am Tag von Jeremys Hinrichtung wird der Mond rot; eine Sprengstoff gefüllte Cessna rast in ein Atomkraftwerk; 100 000 sterben sofort; der Westen der USA ist verseucht und wird evakuiert. Balor inszeniert sich als Priesterkönig im „Geisterland“. Am Ende wird Patrick gebissen und kommt damit Claire nahe; zugleich findet er den Impfstoff, doch Claire weigert sich, ihn zu nehmen – denn der Wolf ist eine Seite von ihr.

„Ihr könnt uns nicht besiegen, denn wir sind ein Teil von euch“, riefen Bürgerrechtler 1968 der Polizei entgegen, und Percy umreißt ein Amerika, das eine Minderheit unterdrückt und damit in genau die Hölle fährt, die die Hetzer zuvor an die Wand malten. Die Risse gehen durch die Psyche jedes Einzelnen. Dabei versteht er das Handwerk des übergeordneten Erzählers, der zeigt, aber nicht belehrt; er fordert so den Leser, selbst Position zu beziehen – und präsentiert zugleich eine schwarze Perle der Fantastik.

Utz Anhalt

Rezension Wofür es sich zu leben lohnt: Elemente materialistischer Philosophie von Robert Pfaller (Taschenbuch - 19. Juli 2012)

Die Kritik zuerst: Der Titel „Elemente materialistischer Philosophie“ könnte kämpferischer ausfallen, denn Pfaller schlägt einen Pflock ein gegen Postmoderne und Betroffenheits-Schnullipulli, gegen Neoliberale und „politisch korrekte“ Spießbürger. Während angeblich immer mehr „Gleichstellung“ herrscht, ein Gender-Lehrstuhl nach dem nächsten eingerichtet wird, Politiker gern schwul sein dürfen - und die Schwachen vermeintlich zu ihrem Recht kommen, zerstören narzisstische Puritaner den öffentlichen Raum - die res publica.

Weltweite Angriffskriege heißen heute „humanitäre Interventionen“, Klassenkampf von oben (Hartz IV) „fördern und fordern“, der Raub gesellschaftlichen Eigentums durch Private nennt sich „Flexibilität“ oder „Reform“. Kunst ist Marketing, und Lust steht unter Generalverdacht: Sex gibt es nur ohne Körper und Bier nur ohne Alkohol. Statt in der freiesten aller Welten leben wir in einer neoliberalen Sicherheitsdiktatur. Das ist nicht neu, bereits seit dem Überfall auf Jugoslawien wurde die grüne Lumpenintelligenz Objekt des Spottes: „Wir fordern den Drei-Liter-Panzer“ oder „Nie wieder Krieg - ohne uns.“

Pfallers Verdienst liegt nun darin, die Irrtümer der Postmoderne aufzuzeigen, und so zu erklären, warum aus vermeintlichem Hedonismus eine Birkenstock tragende Inquisition wurde: Wer sich wundert, warum postmoderne „Linke“ die Wunschliste reaktionärer vertrockneter Mohrrüben erfüllen, dem gibt Pfaller die Antwort: Der Narzissmus als Wesen unserer Zeit verzichtet auf den öffentlichen Raum und fühlt sich von der Kultur und Sexualität - die unabhängig von seinen Ich-Konstruktionen besteht - belästigt. Hier treffen sich postmoderne „Linke“ mit den neoliberalen Plünderern des gesellschaftlichen Eigentums. Dieses öffentliche Eigentum aber, so belegt Pfaffer, ist materiell.

Infantile Neospießer konstruieren in ihren Egoblasen objektive Wirklichkeiten hinweg: Diese, zum Beispiel Strukturen der Unterdrückung, soziale Klassen, Institutionen, bleiben aber – Rauchverbot hin oder her. Naive Befürworter des Rauchverbotes begreifen dabei nicht, dass auch ihnen eine öffentliche Kultur genommen wird: Wenn nämlich eine kulturelle Praxis zum persönlichen Risiko erklärt wird („du darfst rauchen, aber bitte zuhause“) wird auch die Vorsorge privat („du hast dich eben nicht genug gegen Passivrauchen versichert“). Genau darum geht es postmodernen Neoliberalen, wenn sie behaupten, für die Schwachen zu sprechen, so Pfaffer. Was als „Pro- und Contra-Diskussionen“ zum Wohle der Geschädigten verpackt wird, privatisiert in Wirklichkeit das Öffentliche.

Das Wesen kultureller Lust, liegt, laut Pfaffer, im ritualisierten Überschreiten von Normen. Erst dosierte Gefahr erzeugt diese Lust - sie hat notwendig eine „dunkle“ Seite: Alkohol wie Marihuana, Zigaretten wie Sex. Im Unterschied zum Profanen ist das Heilige dem Dreckigen verwandt – heilig wird es durch das Ritual, die Kultur. Der Genuss des Gefährlichen ist aber nur in der Öffentlichkeit des gesellschaftlichen Kollektivs möglich und reizvoll - im postmodernen Rückzug auf das Subjekt wird die Lust zur Sucht, und die Begierde zum Ekel. Die postmodernen Hexenjäger schwemmen diese Subjektivität jetzt dahin, wo zuvor die Bühne der öffentlichen Kultur war. Da sich jetzt jeder von irgendetwas belästigt fühlt, findet das öffentliche Erproben und diskutieren von Rollen nicht mehr statt.

Der Blick der Anderen und nicht die esoterische Nabelschau ist aber das Wesen der Res Publica: Ein Punk mit Irokesenschnitt und einem Kasten Bier 1985 mittags in der Fußgängerzone provozierte den Spießer gerade nicht, weil er so „authentisch“ war - sondern weil seine Rolle den Malocher an das eigene versäumte Leben erinnerte. Das postmoderne „Du kannst machen, was du willst, aber für dich“ provoziert gerade keine gesellschaftliche Diskussion, sondern schafft höchstens bemitleidenswerte Alkoholiker.

Zu den „Ismen“ der Diskriminierung wurde jetzt auch der „Klassismus“ entdeckt: Demnach werden an der Uni Studierende diskriminiert, weil sie aus sozial benachteiligten Klassen kommen. Dies alles in einer Uni, die Neoliberale und Postmoderne zur gleichen Zeit als öffentlichen Raum kaputt schlagen - und statt als erstes zu fragen, wie die materiellen Bedingungen der sozialen Klassen verändert werden können. Pfaffer zeigt, dass virtuelle „Anti-Diskriminierung“ mit materiellem Raub des kulturellen Eigentums zusammen fällt.

Materiell gesehen entpuppt sich das Mantra von „Vorsorge, Gesundheit und Verzicht“ als Bereicherung weniger. Es gibt nämlich nichts zu verzichten, so Pfaffer, weil jede Gesellschaft produziert und ihren Überschuss verausgabt. Die Frage ist nur, wer das heute tut: Während die Neoliberalen die Universität schrottreif schossen und aus Studierenden, die sich Bildung aneignen, Befehle empfangende Bachelor-Zombies formten, explodierte ein Schmarotzer-Markt für „Jobberater“, „Evaluatoren“ und Bildungsagenturen, die für das eigene Konto auf die „Notwendigkeit“ von (neoliberalen) Reformen drängen. Die „Sorge“ der grünlich-postmodernen Neoliberalen für die Schwachen entlarvt sich als parasitäre Strategie, um diese schwach zu halten. Private Räuber reißen sich unter den Nagel, was der Gesellschaft gehört - und was die Gesellschaft selbst aus vollen Händen verschwenden sollte.

Pfaffer zeigt die entscheidenden Weichen: „Schlechtes Leben ist mehr zu fürchten als der Tod.“ Den Genuss gibt es nur im einen Leben, und wenn dieser uns genommen wird, bedeutet das Sterben. Wer das Leben nicht riskiert, der stirbt von innen. Der postmoderne Narzisst verzichtet hingegen und nötigt diesen Verzicht den Anderen auf. Damit tötet er sie und sich bereits im Leben. Übrig bleibt eine Gesellschaft von innerlich leeren Feiglingen, die körperlich vielleicht später sterben als Andere, aber kein Leben haben, das zu leben sich lohnt.

Die materialistische Analyse, das „schnöde“ Außen eröffnet Perspektiven, den neoliberalen Raub zu bekämpfen und das schöne Leben endlich wieder einzufordern. Her mit dem Glamour, mit dem Zauber, mit der Bühne, mit dem feiern und prassen - in der Gesellschaft.

Rezension Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.)

Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen

Krähen stellen Werkzeuge her, um Maden zu angeln, Schimpansen erkennen sich im Spiegel, Elefanten trauern um ihre Toten, Gorillas entwickeln Traditionen. Die, laut Noam Chomsky, angeborene menschliche Grammatik erscheint als letzte Bastion der menschlichen Einzigartigkeit. Vom planvollen Handeln über den Werkzeuggebrauch, vom Bewusstsein, ein Selbst zu haben, von Hineinversetzen in einen Anderen bis zur sinnvollen Anwendung von Symbolen verwischt die Grenze zwischen Mensch und Tier. Darwin löste einen Aufschrei aus, als er erkannte, dass Menschen aus Tieren entstanden und Arten veränderbar sind. Im Darwin-Jahr 2009 rückte die Bedeutung der Evolution für das Bild vom Menschen und das Mensch-Tier-Verhältnis in die Öffentlichkeit. Der Philosoph Peter Singer stieß 1975 mit „Animal Liberation“ und der Forderung nach Menschenrechten für die großen Menschenaffen die Debatte um Rechte für Tiere an.

Über die Kritik am Mensch-Tier-Verhältnis herrscht in der Öffentlichkeit meist Unklarheit. Mit „Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen“ ist beim transcript Verlag Bielefeld ein Sammelband zu dieser Debatte erschienen, der bewusst Partei ergreift. Der Ausgangspunkt ist, dass Probleme erst durch das Beziehen eines Standpunktes in den Fokus rücken; die Kritik an der Menschenzentriertheit, dem Anthropozentrismus vergleicht der Arbeitskreis insofern mit dem Klassenkampf bei Marx und der feministischen Debatte. Speziesismus als Konstruktion der Ungleichheit zwischen „menschlichen und nichtmenschlichen Tieren“ wird als Herrschaftskonstrukt wie Rassismus und Sexismus erörtert. Dabei führt die Einleitung in die Philosophiegeschichte des Mensch-Tier-Verhältnisses ein.

Die Beiträge stehen der Tierbefreiung nahe, sind aber interdisziplinär. Der Soziologe Sven Wirth fragt, ob die Machtkonzepte von Foucault auf das Mensch-Tier-Verhältnis anwendbar sind. Der Ethnologe Markus Kurth setzt sich mit Artikulationen der Tiere auseinander. Die Historikerin Mieke Roscher zeigt die Möglichkeiten einer Geschichtsschreibung der Tiere und untersucht die bildliche Selbstdarstellung der Tierrechtsbewegung. Der Sozialwissenschaftler Andre Gamerschlag plädiert dafür, den Ansatz der Tripple Oppression, also der Verbindung zwischen Klassenwiderspruch, Sexismus und Rassismus auf eine Unity of Oppression auszudehnen, die das Mensch-Tier-Verhältnis erfasst. Er bezieht sich dabei auf Intersektionalität, die Verwobenheit von Ungleichheits- und Machtbeziehungen. Dazu zählt er nicht nur die Tötung und Ausbeutung von Tieren, sondern auch die Abwertung von Menschengruppen über das Konstrukt Tier. Die Politologin Sabine Hastedt skizziert die Gemeinsamkeit zwischen der Konstruktion der Geschlechter-Bipolarität und der entworfenen Andersartigkeit von Mensch und Tier. Die Politikstudentin Swetlana Hildebrandt ergänzt diesen Ansatz durch eine Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnisses aus Queer Perspektive. Die Politologin Andrea Heubach verbindet Tierrecht und Sexismuskritik und kritisiert sexualisierende Muster innerhalb der Tierrechtsbewegung. Die Philosophin Aiyana Rosen widmet sich der Zeitgeschichte der Tierbefreiung vom Protest von 1980-1995. Mehrere AutorInnen schließen die Anthologie mit einem Beitrag über die Verbindung zwischen Hardcore-Musikszene und Veganismus. Der Schwerpunkt liegt auf Geisteswissenschaft.

Die Klärung des Standpunktes in der Einleitung ist wissenschaftlich redlich: Der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner wies darauf hin, dass das Verschleiern der eigenen Parteilichkeit hinter angeblicher Objektivität eine Mogelpackung ist, nicht aber ein offen gelegter Ansatz. Wichtig ist die Kritik am Dualismus, der, in der Tradition von Aristoteles, Tiere und Menschengruppen als voneinander getrennt konstruiert und sie auf- und abwertet. Dabei zeigen die AutorInnen im Detail auf, wie sich die Konstruktion und Abwertung des Tieres als das „Andere“, das „Unvernünftige“, das „nur Fühlende“ als roter Faden durch die abendländische Definition des Menschen zieht. Von Aristoteles bis zu Hobbes und von Descartes bis zu Kant und Heidegger ist die prinzipielle Grenze zwischen Mensch und Tier Grundlage von Theorien. Die AutorInnen schließen sogar, dass die konstruierte Zweiteilung zwischen Mensch und Tier das zentrale Element des abendländischen Dogmas darstellt. Und dieses Dogma stellen sie radikal, von der Wurzel her, in Frage. Der Fokus auf das Mensch-Tier-Verhältnis aus dem Blickwinkel der Tierbefreiung ist als geisteswissenschaftlicher Diskurs bis auf Ausnahmen wie das von Susann Witt-Stahl herausgegebene „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“ eine Pionierleistung. Die AutorInnen schaffen damit den Schritt in die wissenschaftliche Debatte statt „aus der Szene, für die Szene“ zu schreiben.

Eine Kritik am abendländischen Tierkonstrukt ist ein mutiges Unterfangen. An Säulenheiligen wie Aristoteles zu kratzen, dürfte massive Gegenwehr hervorrufen. Die Kritik ist wichtig, richtig und notwendig: Eine Legitimation für Völkermord und Kolonialismus, vom Christentum über die Versklavung Afrikas bis hin zum Nationalsozialismus war die Kennzeichnung der „Anderen“ als Heiden, Barbaren und Wilde, also als tierhafte Menschen. Die Kritik am Tierkonstrukt ermöglicht nicht nur, grausames Vorgehen gegen Tiere zu kritisieren, sondern Faschismus- und Rassismuskritik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Rassismuskritik erkannte die Unterscheidung zwischen höher- und minderwertigen „Menschenrassen“ als Motor, den verächtlich Gemachten das Menschenrecht abzuerkennen. In der Aufarbeitung des Nationalsozialismus kritisierte die Linke die Gleichsetzung von Menschen mit Tieren, so von Juden und Ratten. Die Trennung von Zivilisierten und Wilden ist Grundlage des Rassismus. Die AutorInnen erkennen als Fundament dieser Abwertung die Abwertung der nichtmenschlichen Tiere und stellen die entworfene Mauer zwischen Menschen und Tieren als Ideologie in Frage. Darin, diese Frage aufgeworfen zu haben, liegt die Stärke des Buchs.

Die Schwäche besteht darin, in der Kritik am abendländischen Tierkonstrukt andere Weltvorstellungen kaum zu untersuchen. Interkulturelle Philosophie wie von Franz Martin Wimmer ist wie die Kritik am Mensch-Tier-Verhältnis eine Pionierwissenschaft. Der „Mythos vom Zivilisationsprozess“ Hans Peter Duerrs wäre ebenso zu berücksichtigen wie das philosophische Konzept von „Mutter Erde“ amerikanischer Kulturen, das dem Dualismus diametral gegenübersteht. Aristoteles Mauer zwischen Mensch und Tier richtete sich explizit gegen Kulturen, die sich nichtmenschlichen Tieren verbunden fühlten und versuchten, diese Verbindung durch Rituale herzustellen. Heide, Barbar, Savage, Wilder bezeichnete die, die Tiergeister verehrten; bei Jägern und Sammlern bedeutet, zum Leopard oder Wolf zu werden, nicht weniger, sondern mehr als ein Mensch zu sein. Die Auseinandersetzung mit Kulturen, die Tiere als Partner, Freunde und sogar Lehrer betrachteten, gehört zum Mensch-Tier-Verhältnis dazu. Andre Gamerschlag setzt sich zum Beispiel mit diskriminierenden Vertierungen wie „Freiwild“ auseinander, erörtert ehrende Tierbegriffe für Menschen wie „schlauer Fuchs“, „gemütlicher Bär“ oder „schlanke Gazelle“ aber nicht. Dabei verweist der sprachliche und bildliche Bezug auf Tiere gerade in der Allgegenwart seiner Facetten auf die Unmöglichkeit, Menschen und Tiere getrennt zu denken. Denn das Denken mit Tieren, das Lernen von Tieren ist ein Fundament der Kultur. Die Entwicklung des Tieres vom Gott zum Ding ist eine zentrale Frage der historischen Anthropologie. Der Titel des Buchs selbst verweist darauf, dass auch im Abendland das Verhältnis zum „Tier“ nicht nur abwertend ist. Das lateinisch-englische Animal leitet sich ab von Seele, Bewusstsein, Leben und belegt auch im Abendland die Wahrnehmung des Tieres als beseeltes Lebewesen mit Bewusstsein. Eine Trennschärfe zwischen negativen Begriffen vom Tier wie der Bestie und positiven wie Animal wäre wünschenswert gewesen.

Zu einer Kritik am Dualismus, der Mensch und Tier trennt, gehört eine Untersuchung des Monismus, der Tiere und Menschen als Einheit betrachtet im frühen Judentum, bei Jägern und Sammlern, den Jainiten Indiens und im heutigen evolutionären Humanismus. Zum Beispiel kannten amerikanische Kulturen, von den Inkas bis zu Indigenen Alaskas, keine undurchlässige Grenze zwischen Mensch und Tier. Im Gegenteil glaubten amerikanische Ureinwohner, dass Tiere ihre Verwandten sind. In diesem Punkt standen die zu „Wilden“ Entwürdigten den Tatsachen der Evolutionsgeschichte viel näher als das abendländische Herrschaftskonstrukt.

Darin liegt die zweite Lücke des Sammelbandes: Nichtmenschliche Tiere gehören nicht nur zur Kulturgeschichte des Menschen untrennbar dazu. Auch das Tier mit dem aufrechten Gang und dem großen Gehirn ist ein Produkt der eben nicht gesellschaftlichen, sondern biologischen Geschichte der Evolution des Lebens. Menschliche Kultur und biologische Evolution stehen im Wechselspiel. Zum Darwinjahr erschien eine Vielzahl von Veröffentlichungen über die Konsequenzen der Evolutionsbiologie für das Bild und den Begriff vom Tier. Ein Bezug auf diese Kontroverse, zumindest auf die Kritik am christlichen Dualismus von Richard Dawkins und die ethischen Konsequenzen, die Michael Schmidt-Salomon zieht, hätte die Anthologie ergänzt. Das Fehlen der Diskussion verweist darauf, dass die Kommunikation zwischen kritischer Geisteswissenschaft und Evolutionsbiologie mit Scheuklappen besetzt ist.

Allein, diese Lücken nach der Lektüre zu erkennen, verweist auf die Qualität der Beiträge. Eine Auseinandersetzung mit dem Tierkonstrukt im Abendland allein würde etliche Forscherleben füllen. Wer wissenschaftlich in kaltes Wasser springt und schwimmen lernt, hat es nicht verdient, Ohrfeigen zu bekommen, weil er sich nass gemacht hat. Als Einstieg in die kritische Auseinandersetzung mit dem Mensch-Tier-Verhältnis ist die Anthologie gut geeignet.