Winterheulen
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Ulrich, Susanna und Martin, der Schotte, waren in der Stadt Thale im Ostharz angekommen.
Sie hatten das Auto vor einem einst wohl prächtigen, nun aber verfallenen, Gebäude geparkt und genossen nach einer mehrstündigen Autofahrt die Bergnatur. Am 21.Dezember lag Schnee an den Bergbächen, zwischen den Tannen leuchteten goldene Mosaike einfallender Sonnenstrahlen. Hier unten im Tal wirkte der Himmel blau, obwohl vom Berghang Nebel aufzog. Eisspitzen ragten aus schneeschweren Fichtenkronen auf den Boden in Moospolster, die den herumliegenden Wurzeln das Aussehen von Fabelwesen gaben. „Guck mal, eine Dryade“, sagte Ulrich zu seiner Freundin und zeigte auf einen Baum, aus dem eine Wölbung hervor stand wie eine Frauenbrust mit Brustwarze. „Die Baumfee hat sich versteckt, als wir das Auto geparkt haben, aber nicht schnell genug“, meinte Ulrich.
Martin und Ulrich hatten sich schon seit Stunden in die Wintersonnenwende am
Hexentanzplatz hinein fantasiert, über die schwarze Annis, die Kinder fressende Hexe der schottischen Highlands, Satanisten in Kalifornien, Goethes Faust und germanische Fruchtbarkeitsfeste geredet. „Hier wirkt es irrealer, wenn Autos fahren, als wenn hier ein Zwerg zwischen den Felsen hervortreten würde“, behauptete Ulrich. „Das sieht aus wie bei mir zu Hause in den Highlands. Schade, dass ich meine Kamera vergessen habe“, erwiderte der Schotte.
Die drei aßen Wildgulasch im Hotel „Zum Fichtenhof“, wärmten sich noch kurz am Kamin auf, beobachteten Bachforellen im Fischteich und stellten das Auto am großen Parkplatz bei der Bergseilbahn ab, mit der die Touristen im Sommer über das Flusstal der Bode hoch zum Hexentanzplatz fuhren. Sie wollten aber zu Fuß hinauf steigen. Schließlich waren sie hier, um sich in die Stimmung hineinzufühlen, in der die Menschen in alten Zeiten in der längsten Nacht des Jahres mit den Wintergeistern getanzt hatten und Odins wilde Jagd in den Raunächten über den Himmel gezogen war, die Zeit zwischen den Jahren, die Zeit der Dämonen.
Dem alten Glauben und der neuen Tourismusindustrie nach sammelten sich die Hexen in dieser Nacht oben auf dem Hexentanzplatz und flogen von dort zum Brocken, wo sie ihrem Herrn, dem Satan, den Anus küssten, Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, Hunden, Schweinen, Wölfen und anderen Tieren hatten und überhaupt wilde Orgien feierten. In Thale stellten Harzbewohner Hexenflugsalben nach Originalrezepten her. Tollkirsche, Stechapfel und Fliegenpilz waren nur einige der Substanzen, die, verbunden mit den Figuren der nächtlichen Natur, wilde Flug- und Sexfantasien entstehen ließen. Martin und Ulrich hielten sich an Schierker Feuerstein, einen Kräuterschnaps und hatten bereits die erste Flasche intus. „Ihr solltet nicht so viel saufen, bevor wir auf der Spitze sind. Unterschätzt das nicht. Die Felsen sind steil, es wird anstrengend“, sagte Susanna, die sich beim Trinken zurück hielt. „Außerdem öffnet Alkohol die Poren, bis wir oben sind, seid ihr erfroren.“
Auf dem Parkplatz liefen einige Opas und Omas herum, die alle die gleichen spitzen Hexenhüte trugen. Andere hatten sich als Teufel geschminkt, was in der Kombination mit Jeans und Blousons nicht gerade überzeugend aussah. Kinder bauten einen Schneemann, steckten ihm Scheibenwischer als Nase in den Schneekopf. „Wintersonnenwende ist hier Big Business“, sagte Ulrich. „Ein bisschen weniger kommerziell wäre es mir lieber“, erwiderte Susanna. „Die richtigen Okkultisten und Freaks suchen sich wohl ihre eigenen Stellen und nicht die Großevents“, vermutete Martin. „Warum heißt der Platz eigentlich Hexentanzplatz?“ fragte Susanna. Ulrich blätterte in seinem Reiseführer: „Goethes Walpurgispassage im Faust spielt auf der Hochebene bei Thale. Aber der Hexentanzplatz war auch eine wirkliche Kultstätte der Altsachsen. Man fand hier einen germanischen Opferstein aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert und ein Opferbeil aus Kupfer. Außerdem steht oben auf dem Berg eine Steinmauer, die ein Germanenstamm angelegt hat.“ „Der Ethnologe Hans Peter Duerr schreibt, dass die archaischen Kulturen glaubten, in zyklischen Festen die Wiedergeburt der gejagten Tiere unterstützen zu können. Die Tiere sollten in der Bergen, dem Bauch der Erde, leben und von der Erdgöttin, der alles gebärenden Tiermutter, zur Welt gebracht werden“, ergänzte Susanna. „Haben die auch Menschen geopfert?“ fragte Martin. „Die Germanen haben auf jeden Fall Menschen geopfert“, meinte Ulrich. „Die waren sowieso sehr kriegerisch, ihr höchster Gott Odin war auch Schlachtengott und ständig von zwei Wölfen, Geri und Freki, begleitet.“ „Die Wölfe haben mit kriegerisch wenig zu tun“, warf Susanna ein. „Geri steht für Vermittlung und Freki für Wachsamkeit.“
„Da oben gibt es eine Walpurgishalle mit einem einäugigen Odinskopf“, vermerkte Martin. „Odin wurde im Christentum zum wilden Jäger, der zwischen Weihnachten und Neujahr mit seinem Dämonenheer durch die Wolken zieht und geeignete Krieger sucht, die sich seiner Schar anschließen können. Da müssen wir hin zu dieser Halle, es sind Odinstage“, fügte Ulrich hinzu. „Kein Wunder, dass die Leute so etwas geglaubt haben, bei der Landschaft“, mutmaßte Martin und blickte auf die Felsformationen des Bodetals, den so genannten „deutschen Grand Canyon“. Der Granitfelsen der Roßtrappe bildete zusammen mit dem Hexentanzplatz weit über dem „Tal der engen Wege“ ein Felsentor, durch das sich der Fluss Bode in der Tiefe sein Bett zwischen kristallklarem Eis, Steinbrocken, Hornfels, Schiefer, Ramberggranit und umgestürzten Baumstämmen suchte. „Die Bode heißt nach dem Riesen Bodo. Der soll der Sage nach die schöne Brunhilde verfolgt haben. Die rettete sich mit einem Sprung ihres Pferdes über das Tal. Deshalb heißt der Felsen da drüben Roßtrappe und der Fluss Bodo. Ach so, Bodo wurde zur Strafe in einen schwarzen Hund verwandelt, der jetzt die Krone der Prinzessin bewacht. Um Mitternacht, besonders zur Walpurgis, hört der Wanderer sein Schreckensgeheul“, las Ulrich vor. „Die Zwerge und Elfen, die Kobolde und Waldgeister oder sogar der Teufel persönlich sollen nachts die Wanderer erschrecken, so dass diese vom Weg abkommen und in Felsspalten fallen oder im Fluss ertrinken“, fiel Martin ein. „So, und wenn ihr euch jetzt ständig Gespenstergeschichten erzählt, sind wir vor Anbruch der Dunkelheit nicht oben. Und wenn die Wanderer so viel saufen wie ihr, brauchen sie keinen Teufel, um in die Tiefe zu stürzen. Es friert, und bergauf wird es heute nicht mehr wärmer. Betrunken auf dem Eis ausrutschen ist kein Heldentod“, lenkte Susanna das Gespräch in eine praktische Richtung.
Die Drei wanderten los. Ulrich ließ sein Jagdmesser im Auto, weil die Security oben beim Fest es ihm bestimmt abgenommen hätte. Wild zelten durften sie im Naturschutzgebiet auch nicht. Aber einige Flaschen Köstritzer Schwarzbier und eine zweite Flasche Schierker Feuerstein durften nicht fehlen, als Hilfsmittel, um die Walpurgisstimmung von Magie, Wildnis und Erotik genießen zu können. Einige Mädchen in Hexenkostümen und Besen gingen zur Seilbahn. Martin flüsterte: „Soll ich denen sagen, dass mein Scottish Sausage, my devil´s cock, dicker ist als ihre Besenstiele und, dass sie darauf zum Brocken reiten können wie noch nie zuvor in ihrem Leben?“ „Du kannst ja sagen, du bist der Satan und hättest dich als Mensch verkleidet. Darauf fahren die Girls hier bestimmt ab“, grinste Ulrich. „Bei uns in Schottland haben sie früher auch Hexen verbrannt. Die Leute bei mir, die glauben da heute noch dran, an den handlosen Bagpiper, den Kelpie, einen Dämon, der die Wanderer in den Sumpf zieht und an solche Sachen, da oben hat jeder See seine Nessie.“ „Bei so einem Scheiterhaufen wäre es jetzt wenigstens warm“, murmelte Ulrich und hauchte auf seine vom kalten Bier erstarrten Hände.
Die Drei wanderten jetzt am Fluss Bode entlang. Die Familien mit Kindern kamen gerade zurück, viele der Jungs trugen Dreizacke aus Plastik, sehr beliebt waren auch Teufelshörner, die im Dunkeln leuchteten, Gummihexennasen und Perücken mit eisgrauen oder feuerroten Haaren.
„Das ist ja wie auf dem Schützenfest“, lästerte Susanna. „Ich dachte, hier springen Leute, die das ernst nehmen, nackt um das Feuer herum.“ „Vor allem springt hier irgendjemand im Winter nackt rum. Da musst du schon bei der Walpurgisnacht wiederkommen, am ersten Mai. Ich frier mich jetzt schon tot“, erwiderte Martin. „Guck mal, das ist das ideale Setting für einen Fantasyplot“, unterbrach Ulrich das Gespräch. Die Dämmerung hatte eingesetzt und im Zwielicht verloren die Konturen an Schärfe. Die Steilwände auf beiden Seiten der Bode hätten auch aus dem Fels geschlagene Burgen eines Zwergenvolkes sein können, die mit den Menschen im Tal in Konflikt lagen. Durch Birkenblätter drangen Blaulichtsprenkel der untergehenden Sonne wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich auf den Waldboden und funkelten hier und da auf dem Moos und den mit Eis überzogenen Steinen.
Ein Eisentor verschloss einen Höhlenausgang, eine Informationstafel verwies darauf, dass hier Fledermäuse lebten. „Krak, Krak, Krak,“ tönte es über ihnen. „Susanna, da, ein Kolkrabe“, rief Ulrich. „Wie, keine Krähe?“ „Nein, er ist viel größer und hat einen kürzeren Schwanz. Außerdem ist seine Stimme tiefer.“ „Hugin and Munin“, erläuterte Martin. „They are the ravens of Odin, wisdom and cleverness. Maybe the wild hunt is beginning now, maybe Odin will take the horniest small witches from the Hexentanzplatz.” Die Drei wanderten bis zur Jungfernbrücke, überquerten die Bode, deren Wasser sich mühsam durch das Eis brach
und stiegen den Bergweg zum Hexentanzplatz hoch.
„Wird schon steiler“, stöhnte Ulrich. „Bei uns in Hannover bin ich Berge nicht gewohnt.“ „Wir in Heidelberg sind damit aufgewachsen“, lächelte Susanna. „Jede Woche so eine Tour und deine Kondition ist wieder in Ordnung. Du musst kleine Schritte machen. Könnt ihr die Flaschen nicht oben austrinken?“ Martin und Ulrich hatten die zweite Flasche Feuerstein schon halb geleert und Ulrich lallte bereits.
„Wir hätten früher losgehen sollen“, meinte Susanna. „Jetzt geht es noch gerade, aber in einer halben Stunde ist es dunkel, und dann wird es hier gefährlich.“ „Dann kommen die Werwölfe und Teufel, die Zwerge krabbeln aus ihren Höhlen und der schwarze Hund lähmt die Wanderer mit seinem Todesgeheul. Kein Wunder, dass die Romantiker hier ihre Impressionen bekamen.“ „Man merkt, dass du aus dem Flachland kommst. Wir Bergbewohner haben weniger Sinn für solche schaurig schönen Fantasien, sondern achten auf reale Gefahren. Und deswegen sollten wir schneller gehen und hier nicht herumträumen. Wenn es dunkel ist, kannst du nämlich die Luft und die Erde farblich nicht mehr unterscheiden“, warnte Susanna.
„Warum, der Schnee leuchtet doch weiß“, frotzelte Ulrich. „Ja, und wenn er im Sturm durch die Luft weht, tut er das auch“, zischte Susanna.
Martin war der Bergspitze wesentlich näher gekommen und wartete immer wieder auf seine Freunde. Für den Highländer Martin war dies ein Spaziergang, und auch Susanna sah den Weg nicht als wirkliche Bergtour an. Ulrich aber war abgefallen, schwitzte und ächzte unter der Last seines Übergewichts. Er hatte an sich eine gute Kondition, war aber das Überwinden von Höhenunterschieden nicht gewohnt. Susanna wartete an einer Wegschlaufe. „Lass uns eine Pause machen“, japste Ulrich. „Wir machen eine Pause, wenn wir oben sind“, antwortete Susanna und tastete sich vorsichtig über die eisglatten kalten Steine. Zwei Jugendliche kamen ihnen entgegen. „Viel Spaß“, meinte der Eine. „Da vorne liegt ein Baum auf dem Weg, und es wird steil. Der fest getretene Schnee ist eine Rutschbahn. Runter geht es schnell.“
Susanna und Ulrich marschierten weiter, Ulrich benutzte die zusammengerollte Matte als Krücke. „Ich kann die Steine noch erkennen, aber die Erde löst sich fast auf. Ist hier nicht irgendwo ein Geländer?“ Immer wieder rutschte er auf dem Eis aus oder trat in ein Schneeloch über einem Bachlauf, stolperte über eine Wurzel, die wie von einem weißen Leichentuch bedeckt lag. „Nein Schatz“, sagte Susanna. „Zurück können wir nicht mehr.“ „Hätten wir wenigstens Vollmond“, seufzte Ulrich, denn die Mondsichel lag wie eine hauchdünne Messingscheibe über den Fichten und strahlte kaum Licht ab. Dann stießen sie an den Baum. Er lag quer über dem Weg, Schnee bedeckte ihn, das Eis verschloss die feinen Zweige mit der Erde und den Steinen - und sie mussten durch Steingeröll um ihn herum krabbeln. Ulrich kam außer Atem und keuchte, lehnte sich mit dem Kopf an den Stamm und verschnaufte. Der Frost pulsierte in seinen Fingerkuppen. Er trank einen Schluck Feuerstein, rauchte eine Zigarette und zog sich an den Felsbrocken entlang nach oben. „Wildnis ist ja gut und schön, wenn man ihr nicht ausgeliefert ist“, nuschelte Ulrich.
„Susanna“, rief er, aber er hörte keine Antwort. „Susanna, Martin?“ Nichts. Vor ihm schien der Weg zu liegen, aber er konnte den Weg kaum von den Geröllhaufen und den Schneewehen unterscheiden und Nebel zog auf, waberte wie eine Gruppe durchscheinender Geister zwischen den Birken. Der im weiße Frost erstarrte Granit erinnerte ihn an einen Berg voller riesiger Totenschädel, die im Kleid des Winters verhüllten Zweige schienen ihm Rippenknochen zu sein, Ellenbogen und Schulterblätter, ausgebleicht, als hätte ein bösartiger Wintergott sie zum Opfer genommen, ein Gott, dem es nach menschlichem Leben dürstete, und der mit seiner Kälte die Lebenskraft entzog.
„Martin“, rief er. Dann hörte er ein Heulen wie von einem Wolf, gefolgt von „Ulrich, Ulrich, hier oben.“ „Heute ist Walpurgis“, atmete Ulrich auf, froh, dass er seinen Freund nicht verloren hatte. Dann spitzte er die Lippen und heulte zurück. „Uuuuuh, Uuuuuh.“ Und wieder: „Ulrich, Ulrich, Ulrich. Uuuuuuh.“ Ulrich hastete, seine Erschöpfung schien vergessen, jetzt hörte er die Lautsprecheransagen einer Mittelalterband, das war der Hexentanzplatz, die härteste Wegstrecke lag wohl hinter ihm. „Uuuuuh, Ulrich“, heulte Martin wieder.
Lauter dröhnte es jetzt von dort, wo anscheinend das Festival stattfand, auf dem Gipfel im Osten. Doch dann, was war das? „Uuuuuh, Uuuuuh“, heulte es aus verschiedenen Kehlen aus dem Westen des Gipfels. Das war nicht Martin, und es war auch nicht der Wind, der direkt aus der Arktis zu blasen schien, der Wind, der stärker den Berg hinab trieb und Firnkristalle in sich trug. Dieses Heulen klang genau so real wie das von Martin. „Wölfe“, dachte Ulrich automatisch und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dann beruhigte er sich: „Erstens gibt es seit dem 19. Jahrhundert keine Wölfe mehr im Harz, zweitens greifen Wölfe keine Menschen an.“ Das Heulen hielt an, und es handelte sich eindeutig um mehrere Heuler. „Vielleicht sind das die richtigen Neuheiden und Neuhexen, die dort die Mutter der Tiere verehren und Odin Opfer bringen. Ist Odin auch der Gott des Winters?
Da sollten wir hingehen“, murmelte er und zog sich weiter an den Steinen entlang. Er orientierte sich jetzt an den Baumstämmen, denn außer den hellen Birken und den im Mondlicht silbern leuchtenden Steinen konnte er nichts mehr erkennen. Der Bach, in dem seine Füße steckten, das hätte auch eine Nebelschwade sein können und der Granitblock, der quer über dem Weg lag, ein Luftloch, in dem es zweihundert Meter bergab ging.
Er zog sich höher, von Baum zu Baum, und wieder hörte er das Heulen. Er hielt inne. „Das sind keine Menschen“, wisperte Ulrich. „Kein Mensch kann so perfekt das Heulen von Wölfen nachahmen. Hat vielleicht jemand heulende Wölfe aufgenommen und spielt das Tonband ab?“ Er verwarf den Gedanken sofort. Das hätte bedeutet, dass oben jemand saß, der wartete, bis Martin oder irgendwer anders anfing zu heulen. „So ein Quatsch“, schalt Ulrich sich selbst. „Vielleicht gibt es hier wieder Wölfe und keiner hat sie vorher gesehen“, flüsterte er und schüttelte erneut den Kopf über seine Unvernunft. „Die laufen dann bestimmt zum größten Event im Harz und setzen sich daneben.“ Er drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und nahm einen tiefen Schluck aus der Feuersteinflasche, sah sich um. Die Natur regte zu mystischen Fantasien an. Der Wind strich durch die Birkenzweige und brachte die gefrorenen Hölzer zum Klirren, als würden die Geister des Winters zum Tanzplatz ziehen, um die Hexen zu begrüßen, die Schatten zwischen den Baumwurzeln erweckten den Anschein dutzender Höhleneingänge zu den unterirdischen Städten der Erdgnome. Ein Ahorn war um einen Stein herum gewachsen, als sei das Holz im Eis erstarrte Lava. Seine Äste streckten sich in die Nachtluft wie Knochenfinger eines Nachtfestes. Dann ertönte erneut das Heulen: „Uuuuuuh“. Es vermischte sich mit dem Pfeifen des Windes zwischen Tannenzweigen, als käme ein fliegendes Heer vom Gipfel herab geweht zu ihm, als hätte Odin seine Neujahrswölfe ausgesandt, um Beute zu reißen, und er, Ulrich, war die Beute. „Keine Zeit zu träumen“, sprach Ulrich zu sich. „ich muss zum Tanzplatz, Martin und Susanna finden:“
Er gestand sich ein, dass er Angst hatte, unvernünftige Angst. „Ich bin ein aufgeklärter Mensch“, murmelte Ulrich. „Es gibt keine Elfen und keine Hexen und keinen wilden Jäger. Und es gibt im Harz auch keine Wölfe. Vielleicht halten da oben Gastwirte Hunde. Oder die veranstalten Schlittenrennen mit Huskies. Und die drehen durch wegen dem Lärm auf dem Festival.“ Er war dem Heulen näher gekommen, nah an der Hochebene und der Weg hatte jetzt ein Geländer, an dem er sich festhielt. Ihm schien jetzt, als würde er auf das Heulen zu gehen.
„Was ist, wenn die Hunde nicht im Zwinger sind“, fröstelte es ihn. „Und wenn sie sich aufregen und im Wald herum laufen, Rottweiler oder Dobermänner?“ Und hatte er nicht eben einen Schatten gesehen, der sich bewegte? Dort oben, zwischen dem Asthaufen? Wäre es bloß hell gewesen. In solch einer Harznacht, wenn der Wind unter die Lederjacke kroch und die vom Bier nassen Finger erstarrten, wenn der Wind zwischen erfrorenen Tannennadeln knisterte, schien einem Ortsfremden wie ihm wohl alles verzaubert? „Wie soll ich denn Susanna erklären, dass ich Angst vor ein paar Hunden habe, als erwachsener Mann, ist das peinlich.“ Aber er hatte Angst, das musste er sich eingestehen. Natürlich wusste sein Kopf, dass der Schatten kein Hund gewesen war, sein Bauch sagte ihm anderes. Er sagte: „Flieh, solange du noch Zeit hast. Such dir einen Baum und klettere hinauf, da können die Hunde nicht folgen.“ „Vielleicht sind das ja die Hunde Odins“, machte er sich über seine Angst lustig, aber es reichte nicht zur Beruhigung. Er dachte an die wilde Jagd und an den schwarzen Hund, in den sich der Riese Bodo verwandelt hatte. „Ein schwarzer Hund, ich höre Gespenster. Wahrscheinlich habe ich nur mit offenen Augen geträumt. Hier braucht man keine Tollkirsche, um Halluzinationen zu bekommen“, rationalisierte er. Aber es heulte wieder. Ein lang gezogener Laut von mehreren Wesen. „Vielleicht sind es Huskies. Die bellen nicht, sondern heulen. Aber sie greifen keine Menschen an. Mastinos oder Rottweiler heulen nicht, die bellen mit tiefer Stimme.“ Aber es hörte sich an wie Wölfe. „Ich spinne rum wie irgendein Hinterwäldler aus Martins Dorf, als wäre ich ein Redneck, der glaubt, die Todesfee Banshee würde kreischen, wenn der Wind weht. Als ob hier Jack Frost umhergeht, der Dämon der Kälte. Oder die Gespenster derjenigen, die hier erfroren sind. Wofür habe ich eigentlich studiert?“
Dann machte er sich klar, dass er nicht irre wurde und auch nicht zuviel getrunken hatte. Denn das Heulen war eine Realität, auch wenn Susanna ihm das bestimmt nicht glauben würde. Das Heulen war genau so wirklich wie die Kälte unter seiner Lederjacke und die Seitenstiche, genau so wirklich wie sein weißer Atem in der Frostnacht. Er nahm all seinen Mut zusammen und folgte dem Geländer. Weit vorn sah er Licht und konnte Gesangsfetzen hören, dazu eine elektronisch verstärkte Fidel. „Gleich bin ich da“, schnaufte er.
Dann durchdrang es ihn, als ob jemand mit einem Stück Kreide über eine Schultafel kratzte, als piekte jemand mit Nadeln in seine Ohrmuschel. Bilder von Tieraugen, die rot im Dunkeln leuchteten, verflossen mit Wagen zwischen Wolkenrissen, dabei pochte die Fidel wilder und wilder in seinen Ohren. Er verspürte einen Druck auf seinem Kopf wie Höhentaumel. Denn es heulte wieder, aber diesmal so, dass seine Knochen vibrierten und seine Knie weich wurden, aneinander klapperten. Die Haare auf seinen Armen sträubten sich, als wäre er ein Tier, dem Gefahr droht, als wäre er auf seine Urinstinkte zurück geworfen, wie ein früher Mensch in einem Wald, in dem es Tiere gab, die ihn fressen konnten. War er das selbst, oder waren das seine Beine, die ihn antrieben, den Weg zurück, weg von dem, was im Dunkeln auf ihn lauerte, weg von den Bestien, die ihn jagten. Er stolperte, die Flasche zersplitterte, dann richtete er sich wieder auf und lief, rannte, stolperte, lief und rannte, prallte mit dem Kopf gegen einen Felsüberhang. Das Heulen wurde ein wenig leiser, aber weiter laufen, rief es ihm zu, weiter, weiter, weiter. Da, ein Stück Erde für seine Füße, wie schnell er doch springen konnte, Erde, was für ein großer Sprung, der Wind rauschte durch seine Haare, es war, als würde er fliegen, doch warum lagen seine Arme nicht auf den Steinen, warum strampelten seine Füße in der Leere. War das der Flug der Hexen? War das eine Erfahrung der Wintersonnenwende.
Die Bergluft drang kalt und angenehm in seine Lungen, dann stoppte sein Sprung und es war, als hätte ein Zwerg eine Granittür vor ihm zugeschlagen. Ein Schmerz, als habe ein Germane mit einem Schmiedehammer auf ihn eingeschlagen, durchzog seine Schulter, seinen Rücken, seine Wirbelsäule. In seinen Schläfen pochte es von innen wie Gnome, die mit Spitzhacken das Erz aus dem Innern des Berges gewannen. „Susanna, Martin“, brüllte er. „Helft mir, helft mir, helft mir.“ Und immer noch hörte er das Heulen, das mit dem Wind in das Tal pfiff. Was wäre, wenn die alten Geschichten wahr wären und wirklich Geisterwesen in der Nacht der Nächte umhergingen? Warum hatte er bloß alles für lächerlich gehalten, was sich die Bergbauern erzählten? Wer hatte ihn bloß angegriffen? Er hörte ein Rauschen in seinen Ohren und Nachtgeschöpfe schienen ihn einzuhüllen und in das Reich der Mystik, in die Wunderwelt des Traumes zu führen. Dann das Leuchten. Waren das Irrlichter? Sie riefen seinen Namen. Nein, sie durften ihn nicht holen, nein, nein, nein. Er würde sich verteidigen. Die Lichter kamen näher und näher, sein Körper bäumte sich auf vor Schmerz, als er nach dem ersten trat. Dann tanzten Funken vor seinen Augen, dann wurde es schwarz und er sah Odin, den Göttervater auf einem schwarzen Hund durch eine mondlose Nacht reiten.
„Ulrich, Ulrich“, hörte er es wie aus weiter Ferne. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Es war weiß wie ein sonnenloses Licht in den Höhlen der Zwerge. „Ulrich, Ulrich.“ Er öffnete die Augen weiter. „Na, wachst du auf, Bloody Wanker, du Wilder.“ Das waren die Gesichter von Martin und Susanna. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst auf den Weg achten“, flüsterte Susanna ihm zu. „Da, da waren Hunde und Wölfe und Lichter, die, die haben geheult, sie wollten mich holen.“ „Die Feuerwehrleute wollten dich holen. Jemand hat ihnen Bescheid gesagt, weil du um Hilfe geschrieen hast. Du hast einem von ihnen in den Bauch getreten.“ „Aber, aber die Wölfe.“ „Auf dem Hexentanzplatz befindet sich ein Tierpark. Das Gehege der Grauwölfe grenzt direkt an den Bergweg. Sie haben uns geantwortet. Susanna und ich waren gestern Morgen im Park, als du noch in Narkose lagst. Es sind vier Wölfe. Ich habe noch ein paar Mal geheult, aber sie reagierten nicht. Wahrscheinlich haben sie gemerkt, dass ich nur so ein blöder Tierparkbesucher bin und kein Wolf“, grinste Martin. „Du hast Glück gehabt, Schatz. Du bist anscheinend vom Weg abgekommen und einen Geröllhang hinunter gestürzt. Aber drei Meter abschüssig vom Weg bist du gegen eine Schieferplatte geknallt. Die hat dich abgefangen, dabei hast du dir die Schulter und das Schlüsselbein gebrochen. Aber du hättest tot sein können. Darunter geht es hunderte von Metern in die Tiefe. Weihnachten musst du im Krankenhaus bleiben.“ „Oh Gott, was für ein Abenteuer“, murmelte Ulrich, blickte in die Zwergenkristalle, die sich in die Neonröhren eines Krankenhauszimmers verwandelt hatten, betastete seinen Gips und wusste, dass er diese
Wintersonnenwende nicht vergessen würde.