Werwölfe - Die Kulturgeschichte der Tierverwandlung


I) WERWÖLFE - Die Kulturgeschichte der Tierverwandlung

Werwölfe gehören neben Vampiren und Hexen zum Inventar der Horrorliteratur und des Gruselfilms. Sie sind dadurch bekannt geworden als Menschen, die sich bei Vollmond in rasende Bestien verwandeln. Sie gelten als Verfluchte, die bei Beginn der Vollmondphase ihr Haus nicht verlassen können, ohne eine Gefahr für ihre Mitmenschen zu sein, die gefesselt werden müssen und anfallen und zerreißen, was sich ihnen in den Weg stellt: Wütende Kannibalen in Tiergestalt, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind. Auch in das Fantasy - Epos „Der Herr der Ringe” nahm J.R.R. Tolkien den Schreckenswolf Warg als Tier von Sauron auf, dem Statthalter des bösen Gottes Morgoth. Sauron hieß ursprünglich Gorthaur: Herr der Werwölfe.
Nur wenigen ist jedoch bekannt, dass die Werwölfe keine literarische Erfindung sind, sondern als Glaubensvorstellung seit dem Altertum existent: Heidnische Kulturen verehrten „Wolfsmenschen”, die mythischen Gründer Roms wurden von einer Wölfin gesäugt; Menschen, die den üblichen Normen nicht entsprachen, wurden als Werwölfe angesehen und vom Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert hinein als solche gebrandmarkt.
Der Werwolf war kein ahistorischer Archetyp für menschliche Ängste, also die Virtualisierung der Angst vor dem Unbekannten, vor der „Bestie, die in uns allen schlummert,” sondern eine aus der europäischen Kulturgeschichte hervorgegangene „reale” Figur: Es bestand der Glaube an die tatsächliche Verwandlung eines Menschen in einen Wolf. Diese Vorstellung der Tierverwandlung ist nicht auf Europa bezogen. Afrikanische Kulturen haben entsprechend ihre Werkrokodile, Werleoparden und Werlöwen. In Indien kannte die Mythologie Wertiger, in Russland Werbären, in Japan ersetzten Werfüchse die verwandelten Wölfe, nachdem der Wolf in Japan ausgerottet war - ein mythengeschichtliches Pendant zur englischen Fuchsjagd als Nachfahre der Wolfsjagd. Auch in indianischen Kulturen war und ist die Verwandlung von Menschen in Tiere, die als Freunde und gleichberechtigte Wesen innerhalb eines kosmischen Kreislaufs angesehen werden und wurden, ein traditionelles Element. Die Sioux und die Comanchen glaubten, dass der Wolf ihr Verwandter sei. Dschingis Khan leitete seine Herkunft von einem Steppenwolf ab.
Schamanen verließen den Körper in Tiergestalt.
Der Werwolf ist innerhalb eines weiten Spektrums mythologischer Verbindungen von Mensch und Tier ein eigenständiges und besonderes Phänomen. Kein Tier ist dem Menschen enger verbunden als der Wolf und seine Haustierform - der Hund. Menschen und Wölfe jagten gemeinsam. Kein Tier ist so sehr Teil der menschlichen Gemeinschaft wie der Wolf. Tiermenschen waren und sind in der Mythologie Standard: Schwanenmädchen, Quellennymphen, Meernixen (Mensch plus Fisch), Satyrn (Mensch plus Ziegenbock), Kentauren (Mann plus Pferd), Minotauren (Mann plus Stier), die Liste der Tiermenschen ist fast so lang wie die Liste der Tiere. Kein Tier inspirierte aber Mythen so wie der Wolf. Die mythische Verbindung zwischen Menschen und Wölfen als ein Wesen existierte im südgermanischen Sprachraum als Werwolf, im angelsächsischen als Werewolf, im griechischen als Vrykolakas, auf dem Balkan als Vukodlak.
„Werwölfe” im germanischen Altertum und Frühem Mittelalter

Das Wort „Wolf” leitet sich ab vom gotischen „vilvan”, das „rauben” oder „reißen” bedeutet. Insofern war die Bezeichnung Wolf im Altertum nicht explizit auf das Tier bezogen, sondern beschrieb eine Eigenschaft, die auch und gerade menschlichen Räubern zukam: Adolf oder Adalolf hieß der „edle Räuber”. Wolfgang war der, der „den Raub ausführte” beziehungsweise „in die Schlacht zog”, Rudolf war der „Ruhmwolf” oder der „ruhmvolle Räuber” und Ulrich der „Wolfshüter” oder der „Wächter des Räubers”. Der Wolf erscheint ethymologisch als Mensch. Mensch und Tier wurden folglich aufgrund einer charakteristischen Eigenschaft gleichartig bezeichnet. Hans-Peter Duerr untersuchte den Werwolfsbegriff unter dem Aspekt der Übernahme von gewünschten Eigenschaften eines Tieres genauer. Er erkannte, dass bei Menschengruppen, die in unmittelbarerem Austausch mit der Natur standen als die Gesellschaften der Neuzeit eine Auflösung der Grenze zwischen Kultur und Wildnis rituell herbeigeführt wurde. Erst das Verlassen der Kultur und das bewusste Aufsuchen der Natur, in der die betreffenden Individuen sich mit dem ihnen innewohnenden Tieraspekt konfrontierten, zeigte ihnen ihren Ort in der Gesellschaft. Der Werwolf war für Duerr ein Mischwesen in einer Zeit und Welt, in der Chaos und Ordnung keine Gegensätze sind. So waren in heidnischen Gesellschaften „Tiermenschen” die Krieger- und Männerbünde, denen das Recht zustand, zu töten. Sie verließen aufgrund göttlicher Weisung die Gesellschaft, lebten in der Wildnis und durften richten (im Sinne von „hinrichten”), weil sie als gesellschaftlich „tot” galten und dämonisiert waren. Dämonen wurden in heidnischen Gesellschaften üblicherweise als Tote oder als Tiere dargestellt und die Werwölfe waren solche Wesen, die menschliche Gestalt annehmen konnten, aber keine Menschen mehr waren. Die Trennung zwischen Menschen und Tieren, Menschen und Geistern war eine durchlässige. Tiere und Menschen konnten verschmelzen.
Als ausgewiesene Gruppe dieser Art beschrieb Duerr die „Berserker” oder „Bärenhäuter”, die die Leibwache der norwegischen Könige im frühen Mittelalter bildeten. Die Berserker handelten innerhalb eines nur für sie geltenden Kriegsrechts. Sie kleideten sich in die Felle von Bären oder Wölfen, um so mythologisierte animalische Kräfte wie Mordlust und Gewalttätigkeit anzunehmen. Bezeichnend ist, dass die Berserker Insignien des Todes als Schmuck trugen, die ihren Status als gesellschaftlich „Tote” symbolisierten. Die Berserker waren demnach Menschen, die sich bewusst in einen Ausnahmezustand ekstatischer Wildheit begaben und so zu Werwölfen wurden. Wie ihr Gott Odin, der sich auch in verschiedene Tiere verwandeln konnte (und speziell in einen Wolf), waren sie diejenigen, die über Tod und Leben zu entscheiden hatten. In der Erzählung von Beowulf, dem Bärenwolf zeigt sich diese Verehrung der wilden Beutegreifer. Ein anderer Name für besondere Krieger war „Ulfhepnar”, die in Wolfshaut gekleideten. Hinter solchen Bezeichnungen stand der Glaube, dass Menschen durch das Überwerfen eines Wolfspelzes und Tänze, die Wolfsverhalten nachahmten Wolfskräfte entwickeln konnten.
Die Berserker galten als besondere Günstlinge des Gottes Odin, der in seiner Frühform als Wodan, Wuotan oder Wotan (der Wütende) bekannt war. Während Wotan als plumper Haudegen charakterisiert wird, stellte Odin die spätere und verfeinerte Variante dar, die im Zuge eines ausgeweiteten Heerwesens eine Mischung aus Kriegsschamane, Militärstratege und weisem Übervater bedeutete. Odins Tiere waren bezeichnenderweise zwei Wölfe und zwei Raben. Wie der Rabe war auch der Wolf im germanischen Glauben ein dem Tode zugeordnetes Tier. Beide galten als feste Begleiter des Geschehens auf den Schlachtfeldern - zu Recht. Jede Religion hat einen wahren Kern, die frühen Jägergesellschaften waren Mensch-Wolf-Rabe Gruppen und dem Gott Odin liegen vermutlich Jagdschamanen zu Grunde. Wölfe folgten den Raben, die über potenzieller Nahrung kreisten und die Kooperation zwischen den mobilen Wolfsrudeln mit ihrem guten Gehör und Geruch und den aufrecht gehenden Menschen mit Distanzwaffen war eine erfolgreiche Einheit. Wölfe folgten später den Heeren in der Aussicht auf Nahrung.
Reale Jagstrategien können in die „Wolfsgewandung” eingeflossen sein. So warfen sich Indianer Wolfsfelle -wie beschrieben- über und krochen in Wolfsverkleidung in die Bisonherden, da Bisons vor einzelnen Wölfen keine Angst haben. Volkskundler erkannten darin die Basis für die Vorstellung von der Tarnkappe, die unsichtbar macht. In den frühen Jägerkulturen waren Wölfe Teil einer positiven Identitätsbildung auf der Grundlage der Kooperation zweier Spezies. Das sollte sich im Christentum ändern. Die Werwolfsvorstellungen im Mittelalter und der frühen Neuzeit sind Thema im nächsten Teil.

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Historiker, Dozent, Publizist