Wolfsmenschen in der Kulturgeschichte und modernen Fantastik

Der in einen Wolf oder ein anderes Tier verwandelte Mensch gehört zu den zentralen Mythen der Kulturgeschichte und zu einer der beliebtesten Figuren im modernen Horrormovie. Die gängigen Merkmale eines Werwolfs sind durch den Horrorfilm geprägt. Der Werwolf in den Mythen der Menschheit unterschied sich aber massiv von der Bestie in Hollywood und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Die Einschränkung ist, dass Merkmale einer imaginierten Figur immer relativ sind: Auch die Vorstellungskraft der Menschen vergangener Kulturen war nahezu unbegrenzt; und wir werden unzählige Erzählvarianten finden, die vom gängigen Schema abweichen.

Halb Mensch, halb Tier

Das zentrale Element des Gestaltwandlers im Film und das Interesse der Maskenbildner ist der Prozess der Verwandlung in ein Tier, wobei der Werwolf oft eine Halbmenschform annimmt: Er geht aufrecht, behält händeartige Klauen, mit denen er Waffen bedienen kann, ihm wachsen Haare am Körper und Reißzähne, er ist körperlich ein Mischwesen aus Mensch und Wolf. Die Darstellung der Verwandlung selbst ist zwar ein Paradies für Bühnenbildner und Computeranimation, hat aber mit den vormodernen Glaubenswelten wenig zu tun. Der Werwolf in den Hexenprozessen der frühen Neuzeit, auch der Leopardenmensch afrikanischer Kulturen oder die Hexe, die sich in eine Hyäne verwandelt, erscheinen entweder als Mensch oder als Tier. Allerdings finden sich in der volkskundlichen Literatur vereinzelt Hinweise auf körperliche Merkmale in der Menschengestalt, zum Beispiel zusammengewachsene Augenbrauen, ein verlängertes Rückgrat oder Haarwirbel. Auch außergewöhnliche Verhaltensweisen galten in Kulturen, die an solche Wesen glaubten, in deren Menschengestalt als Kennzeichen, ein besonderer Geruch, besondere Blicke, etc.. Gelegentlich lassen sich “Wertiere” auch daran erkennen, dass sie Schmuckstücke wie Ohrringe oder Ketten in Tiergestalt behalten. Der Pakt mit dem Teufel, die magische Kraft des religiösen Rituals waren die Wege, zu diesem Wesen zu werden - ein Werwolf war ein übernatürliches Wesen, ein dämonisches oder ein göttliches Wesen, aber kein im Sinne der modernen Biologie vorgestelltes. Erst die Naturwissenschaft der Moderne stellte sich die Frage nach dem Wie einer solchen Verwandlung statt der Frage “Was will Gott uns damit sagen?” Und die Zoologie ist eine Wissenschaft des 19. Jahrhunderts.

In sogenannten animistischen Kulturen, die sich die Natur selbst als beseelt vorstellen, stellte und stellt sich die Frage ebenfalls nicht. In diesen Kulturen ist die Trennung zwischen materiell und geistig, Mensch und Tier, Fantasie und Wirklichkeit nicht absolut, sondern die sichtbare und die unsichtbare Welt sind gleich real. Zwar weiß ein Schamane im Gegenteil zu dem Schulethnologen, der ihn untersucht, ganz genau, ob er von einem Wolf aus Fleisch und Blut redet, den er jagt oder vom Geisttier Wolf. Ob jemandem, der in der unsichtbaren Welt, der zweiten Wirklichkeit, ein Wolf ist, Muskeln, Zähne und ein Fell wachsen, wäre einem Schamanen ein unverständlicher Gedanke. Ein Werwolf ist im schamanischen Denken eher jemand, der sich mit dem “Wolfsaspekt” seiner Persönlichkeit konfrontiert und diesen in sein Leben integriert.

Der Filmwerwolf, dem der Kiefer aus dem Mund bricht, dessen Hände sich zu Klauen verformen, der sich also biologisch verwandelt und als eine Art eigene Tiermenschspezies durch die Nacht läuft, ist letztendlich Charles Darwin und Lamarck zu verdanken, der Erkenntnis, dass Arten sich körperlich verändern können, bei Lamarck sogar die einzelnen Lebewesen. Dieses Denken spiegelte sich nicht nur im Kino, sondern auch in den Theorien über unentdeckte Lebewesen. Mythologische Tiermenschen des Himalayas, Russlands und Amerikas, der Bigfoot, Yeti, Sasquatsch oder Almas mutierten im 20. Jahrhundert zu überlebenden Populationen des Neanderthalers, der Tier- in diesem Fall Affenmensch entsprach dem damaligen Stand der Wissenschaft über die Entwicklung des Menschen.

Vollmond

Für den Vollmond gilt das gleiche wie für die Silberkugel. Der Mond und die Nacht als Zeit und Ort der Nachtgestalten, der Mondkinder, also unter anderem auch der Werwölfe, hatte im magischen Denken Europas eine wesentliche Bedeutung, und die einzelnen Mondphasen galten als kräftigend, schwächend oder gar notwendig zum Wirken von Zaubern, für die Fruchtbarkeit der Ernte und der Frauen sowie für diverse andere Erfolge oder Missgeschicke. Eine besondere Bedeutung für den Werwolf hatte der Mond in Gesellschaften, die an Werwölfe glaubten, für deren Verwandlung nicht. Prinzipiell waren es eher die Schwellenzeiten und Schwellenorte, die die Verwandlung begünstigten, und an denen wir heute noch Feste wie Weihnachten (Wintersonnenwende), Walpurgisnacht, Sommersonnenwende, Halloween (zwischen Sommer und Winter), Karneval (das Ende des Winters) feiern. Der Grund liegt darin, dass die Menschen glaubten, dass sich in den Wendezeiten die Tore zwischen den Toten und Lebenden öffnen: Deshalb verkleiden sich amerikanische Kinder, Teenager, und auch Erwachsene am 31. Oktober, dem keltischen Samhain, in Werwölfe, Hexen, Vampire und andere Wesen der Nacht. Schwellenorte waren zum Beispiel Kreuzwege, Friedhöfe, insbesondere der Galgenberg. Die Zeiten, in denen Werwölfe sich in das Tier verwandelten, sind in den Mythen Europas allerdings unterschiedlich. Mal war es der Namenstag des Betroffenen, mal der Johannistag, mal die Zeit der Aussaat, in der livländische Bauern meinten, sich in Werwölfe zu verwandeln, um mit den Geistern der Toten um die Fruchtbarkeit der Felder zu kämpfen. Der Vollmond wurde erst durch die moderne Literatur und den Film zu einem Kernelement des Werwolfmythos.

Der Werwolf als Psychopath

Ein sehr beliebtes heutiges Motiv ist die Verbindung zwischen dem Werwolf und dem pathologischen Killer, dem Serienmörder. Den Werwolf überkommt sein Drang, zu morden wie den Serienkiller auch. Schon Theodor Lessing bezeichnete in den 1920er Jahren den Hannoveraner Jungenschlächter Fritz Haarmann als Werwolf von Hannover. Hier spielt die Vorstellung eine Rolle, dass die durch Zivilisation gebändigten Tierinstinkte des Menschen unter bestimmten Bedingungen außer Kontrolle geraten und die Verwandlung in ein Tier einhergeht mit einer Art pathologischem Rauschzustand.

“The Howling 1″ von 1981 behandelt das Thema mit schwarzem Humor: Eine Journalistin ist einem Serienmörder auf der Spur und findet sich in einem Experiment wieder, in dem ein Psychiater versucht, Werwölfe zu therapieren. Auch manche Historiker halten juristisch verhandelte “Werwölfe” wie Peter Stübbe 1589 für mögliche Serienmörder. Dafür gibt es aber keine Indizien. Jedoch gab es Mordserien, in denen die Täter glaubten, sich in Tiere zu verwandeln, so die Sekte der Löwenmenschen in Singida, Tansania, in den 1930er Jahren. Und es gibt tatsächlich sehr wenige Fälle von “pathologischer Lykanthropie”. Unter diesen sehr wenigen Menschen, die glauben, ein Wolf zu sein, sind wiederum sehr wenige, die in diesem Glauben Menschen ermordeten: “Romasanta - im Schatten des Werwolfs” von 2004 zeigt das Porträt eines solchen psychisch kranken Mörders und bezieht sich auf einen Prozess, der im 19. Jahrhundert in Spanien tatsächlich stattfand; der Film ist eher eine Dokumentation als ein Movie. Bei diesem Täter handelte es sich jedoch um einen modernen Menschen und nicht um ein Opfer der Hexenprozesse der frühen Neuzeit.

Werwölfe und Vampire

Mit dem Bewusstsein, dass die Tiere uns ähneln, aber doch anders sind als wir, kommt die Vorstellung der Tierverwandlung. Das Drama der menschlichen Sterblichkeit und unserer Tierhaftigkeit wird Menschen begleiten, solange es sie gibt. Ob im Glauben, in der Literatur oder im Horrorfilm: Der Werwolf bleibt uns erhalten - weil wir Menschen sind.

2 Responses to “Wolfsmenschen in der Kulturgeschichte und modernen Fantastik”

  1. Larissa Says:

    Ich mag die Werwolfgeschichten sehr und hier finde ich noch interessante Information! Vielen Dank für diesen tollen Artikel!

  2. admin Says:

    Liebe Larissa,

    danke für deinen Kommentar. Ich freue mich, dass du dich für Wolf und Mensch und für meinen Umgang mit dem Thema begeisterst. Vielleicht schaffst du es ja zu einem meiner Vorträge. Unsere Sendung für den History Channel läuft demnächst, abe rwohl nicht in Deutschland.

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Historiker, Dozent, Publizist