Das fantastische Mittelalter

Sandra Kilb, Leiterin des Fischer- und Webermuseums Steinhude über die Grenzen zwischen Wissenschaft und Rollenspiel

1.) Frau Kilb, sie sind Archäologin, leiten das Fischer- und Webermuseum in Steinhude; außerdem organisieren sie die Convention “Hannover spielt”, kennen also die Szene genau. Wissenschaft, Museum und Rollenspiel, sind das unterschiedliche Paar Schuhe oder gehen die Bereiche ineinander über?

Antwort:

Man muss das alles differenziert betrachten.

“Hannover spielt” gab es ja bereits 16 Jahre, als ich zum Organisationsteam dazustieß, befand sich damals schon im Wandel weg vom reinen Rollenspiel Con hin zum Event mit Brettspielabteilung und Tabletop. Es verändert sich hier einiges, die Grenzen der Genres sind fließend - und genau genommen ist Rollenspiel bereits ein Thema der Kulturgeschichte des Spielens. Zu den Steinhuder Museen gehört ja auch noch das Spielzeugmuseum, also beobachte ich solche Entwicklungen natürlich.

Zur Frage nach Wissenschaft - Museum - Rollenspiel.

Man muss das Wort Rollenspiel hier sehr genau betrachten - was ist damit gemeint?
Die didaktische Methode, durch eine Simulation eine Auseinandersetzung mit einem vorgegebenen Thema zu erreichen? Das gibt es in Museen ja schon lange, fordert vom Museumspädagogen jedoch sehr viel Vorarbeit, die Rahmenbedinungen und Vermittlungsinhalte für das Spiel zu definieren. Dazu ist intensive Recherche und Fachwissen nötig - am Besten auch Erfahrungen in der Theaterpädagogik. Letztlich ist es eine Form von mehr oder weniger freiem Geschichtstheater. So frei es auch ist, es muss dennoch ein Drehbuch geschrieben werden und mit den Vermittlungszielen des Museums generell in Einklang sein.

Die Akteure sind beim Eintritt in das Spiel inhaltliche Laien, und lernen durch die Interaktion. Das funktioniert für die Beteiligten nur, wenn sie eine Neigung für diese sehr extrovertierte Art des Lernens haben und gut moderiert werden. Dann ist die Lernqualität aber weit überdurchschnittlich.

Das, was mit Rollenspiel üblicherweise gemeint wird - Fantasy-Rollenspiele, Pen- und Paper-Rollenspiele, das ist mittlerweile zum Thema der Spielwissenschaft geworden. Immer wieder gibt es an Universitäten Seminare dazu, sei es als Phänomen der Kulturgeschichte, Didaktik, Spieltheorie, und so weiter. Rollenspiel ist bereits in der Wissenschaft angekommen.

Fantasy-Rollenspiele oder LARP als Vermittlungsmedium in einem Museum halte ich für keine gute Idee. Es sei denn, im Rahmenprogramm zu einer entsprechenden Ausstellung.

2) Geschichts-Professoren arbeiten höchst selten mit Mittelalter-Events zusammen. Gibt es da einen Graben der Seriosität oder handelt es sich um universitären Standesdünkel?

Wieviele Universitäten veranstalten Kunsthandwerkermärkte? Ein Mittelalter-Event muss - das ist das Gesetz der Marktwirtschaft - Gewinn erzielen. Der Veranstalter lebt ja schließlich davon, es ist sein Beruf. Eintritte und Standgebühren von Marktständen sind die Basis. Vermutlich schreckt diese Notwendigkeit der Gewinnerzielung Wissenschaftler ab. Dieser Druck sorgt ja auch dafür, dass es auf Mittelalter-Events eben auch mal nicht so genau genommen wird mit der Darstellung historischer Lebenswelten. Es sind merkantile Veranstaltungen.

3) Eine Kritik an der Mittelalter-Szene, also dem, was unter Kelten- wie Wikingerfeste, Ritter- und Burgspiele läuft, lautet: Sie reproduzieren überkommene Geschichtsbilder wie edle Ritter und holde Maiden als Flucht vor einer komplexen Gegenwart, sind also antiwissenschaftlich. Lässt sich das generell sagen?

Die Klischees, die das Publikum mitbringt, sind ein sehr großes Problem für alle, die recherchierte Geschichte(n) vermitteln. Da ist es erst mal egal, ob dies Wissenschaftler oder Darsteller ohne universitären Hintergrund sind.

Wenn auf Mittelalter-Märkten “Kartoffelchips keltischer Art” angeboten werden, ist das inhaltlich extrem kontraproduktiv. Es gibt aber nicht “den Mittelalter-Event”. Es ist eine äußerst heterogene Szene, was Recherchetiefe, Materialwahl oder Qualität der Darstellung betrifft. Manche Darsteller oder Händler werden ja aufgrund ihrer sorgfältigen und reflektierten Arbeit auch von Museen gebucht - und sehen dies als Art Qualitätsbestätigung: “Wir treten auch in Haithabu auf” - wenn ein Wikinger-Reenacter das sagt, dann nicht ohne Stolz.

4) Sie sind als Archäologin sogar noch mehr an materiellen Belegen orientiert als die Historiker, die bereits als “Erbsenzähler” in den Geisteswissenschaften gelten. Wie viel Imagination ist möglich, wie viel ist nötig, um sich überhaupt ein Bild vergangener Geschehnisse machen zu können?

Die Re-Konstruktion von Vergangenheit, mal bewußt in dieser Typografie gesetzt, ist immer eine Annäherung an die Realität. Objektreste kann man im Labor intensiv untersuchen, man kann die Reihenfolge von Abläufen ermitteln, welcher Schritt bei der Herstellung zuerst kam. Wir können Materialzusammensetzungen analysieren. Was man manchmal nicht kann, ist das benutzte Gerät zu benennen. Deduktion grenzt ein - doch dann hilft manchmal nur Ausprobieren. Harm Paulsen hat hier eine Pionierrolle eingenommen. Ich glaube, für die Deduktion, die dem Ausprobieren vorangeht, ist Imagination schon notwendig. Man sollte einen Blick auf heute noch existente Handwerksgeräte haben, auch volkskundliche Gerätschaften kennen, die möglicherweise am langen Ende einer typologischen Reihe stehen, die bis in die Vorgeschichte zurückreicht. Die intrinsischen Informationen archäologischer Objekte sind verloren - sie werden immer abgeleitet. Beispielsweise, ob ein bestimmtes Schwert wohl einen sozialen Status repräsentiert haben mag. Es wird notwendigerweise sehr viel mit Bezügen und Vergleichen gearbeitet.

Im wissenschaftlich-theoretischen Bereich werden übrigens teilweise bereits Methoden der Konfliktsimulation eingesetzt, um historische Kriegs-Ereignisse besser verstehen zu können. Also hat eine kontrollierte Form von Imagination bereits Einzug auch in die Geschichtswissenschaft gehalten.

5) Manche Historiker kritisieren Mittelalter-Spektakel als Freizeit-Event, in dem die Zeichen des eigenen Alltags unsichtbar gemacht werden und damit auch die Plackerei des reale Mittelalters. Dem gegenüber stehen Reenacteure, die bis ins kleinste Detail das vergangene Leben nachspielen, ohne Strom, Wasser etc.. Ist es möglich, sich einer Epoche mit Reenactment anzunähern?

Es kann schon eine Annäherung stattfinden. Den modernen Zeitgeist abschütteln können wir allerdings alle nicht - es bleibt, auch bei größter Sorgfalt, eine Re-Konstruktion von Vergangenheit.

Eine gewisse Gefahr sehe ich übrigens, dass sich manche “an ihren Erfahrungen” festbeissen, und sie als “absolute Erkenntnisse” betrachten. In diesen Fällen würde ein universitärer Hintergrund vielleicht manchmal schon helfen, diese “Erkenntnisse” einzuordnen.

6) Historisches Material determiniert sich nie durch sich selbst, sondern wirkt durch die Deutung der Zeitgenossen - dazu gehört auch die Populärkultur. Bleibt der Wissenschaft anderes übrig, als solche Inszenierungen kritisch zu betrachten oder kann sie sich in die Populärkultur einbringen?

Ein Dialog ist wünschenswert - auf beiden Seiten jedoch noch nicht an der Tagesordnung. Sobald Zielsetzungen auseinander gehen, sind Kompromisse notwendig. Ich sehe da beide Seiten in der Pflicht - auch die Veranstalter. Vielleicht wäre es ein Schritt, den einen oder anderen Händler auf einem Markt schlichtweg auszuschließen. Ich sage nur: Keltische Kartoffelchips. Aber der erhobene Zeigefinger der Historiker ist auch keine Lösung. Man muss schon gleichberechtigt über Zielsetzungen reden, um eine Annäherung zu finden.

Aus dem Universitären Bereich kenne ich da einige gute Vorreiter - beispielsweise das Freiburger Projekt zum Thema Geschichtstheater vor einigen Jahren unter Wolfgang Hochbruck. Er hat da wirklich Grundlagenforschung betrieben.

7) Gibt es eine strikte Grenze zwischen experimenteller Archäologie, living history und reenactment?

Formal betrachtet ist das Definitionssache. 1982 subsumierte Jay Anderson experimentelle Archäologie, Reenactment und vermittlungszentrierte Museumspädagogik im Kostüm unter dem Sammelbegriff Living History. Das ist schwer zu trennen. Häufig sind es ja auch die gleichen Akteure - oder sie verlagern ihren Schwerpunkt vom einen zum anderen. Inhaltlich gibt es natürlich Unterschiede in der Zielsetzung.

8) Die Mittelalterszene ist ein weites Feld: Von Mittelaltermusik, kombiniert mit Heavy Metal über Computer-Spiele wie World of Warcraft, Ritterkämpfe mit Vollkörperkontakt bis zu Tolkien-Conventions. Gibt es da einen roten Faden, und wenn ja, wie richtet der sich aus: Nach historischem Interesse oder als Suche nach einer anderen Wirklichkeit?

Das zu ermitteln, wäre Aufgabe für das Gebiet der Sozialpsychologie. Aus persönlichen, rein subjektiven Betrachtungen, heraus glaube ich, dass sich die Motivation für bestimmte Hobbies, Kleidung, Schminke, Spiele, etc.. je nach Stand der Adoleszenz verändert. Und sicherlich spielt da Eskapismus phasenweise eine Rolle. Aber diese Frage ist nicht schnell zu beantworten. Manch Reenacteur startete als LARPer (LifeActionRolePlayer) und umgekehrt.

9) Geschichtsprofessoren beäugen die Mittelalterszene mit Argwohn, ihre Studierenden treiben sich derweil beim Metstand herum. Vermutlich beginnt die Leidenschaft für Geschichte eher mit Pirat und Ritter spielen als mit der Begeisterung für Stadtarchive. Was war ihr Antrieb, Archäologie zu studieren und im Museum zu arbeiten?

Aus Geschichten. Als kleines Kind war ich fasziniert von Odysseus, es gab so eine wilde Fernsehserie “Unterwegs mit Odysseus”, die liebte ich. Neben den klassischen Sagen des Altertums war noch ein Jugendbuch sehr ausschlaggebend. Wie es heißt, habe ich vergessen, aber es spielte in der Bretagne und im Buch retteten ein paar Kinder einen Menhir vor der Zerstörung durch einen Bauunternehmer. Auf jeden Fall musste ich die Begriffe Menhir und Dolmen recherchieren - und so kams.

10) Sie leiten das Fischer- und Webermuseum und kennen sich mit Rollenspiel aus. Kann Museumspädagogik vom Rollenspiel lernen?

Es gehört - wie eingangs schon gesagt - unbedingt dazu, das Rollenspiel mit den Inhalten des Museums und vor allem dem Vermittlungskonzept des Museums abzustimmen. Aber vom Rollenspiel lernen kann man natürlich schon - beispielsweise über Dialoge statt Monologe (Einbeziehung der Gegenüber), Positionsveränderung, Simulation von fremden Lebenswelten, Selbst- und Fremdbetrachtungen.

Ja, man kann mit Elementen des Rollenspiels Führungen bereichern und lebendiger gestalten. Aber das ist professionell arbeitenden Museumspädagog(inn)en schon lange bekannt.

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Historiker, Dozent, Publizist