Wird der Wolf gefährlich? 11 Fragen an die Wolfsforscherin Elli Radinger
Wird der Wolf gefährlich? Interview mit Elli H. Radinger
1) Du hast gerade mit Günther Bloch zusammen ein Buch zu Wolf und Mensch heraus gegeben. Worum geht es in dem Buch?
In unserem Buch „Der Wolf ist zurück. Was mache ich, wenn …“ wollten wir den Menschen, die in Wolfsgebieten leben einen praktischen Ratgeber an die Hand geben, wie sie sich bei einem Treffen mit Wölfen verhalten sollen. Wir haben in letzter Zeit so viel Unsinn über Wölfe gehört von Menschen, die noch nie in ihrem Leben einen wilden Wolf gesehen haben, dass wir uns kurzfristig entschlossen haben, unsere 25jährige Erfahrung mit wild lebenden Wölfen der Panikmache entgegenzusetzen und aufzuklären.
2) Wölfe „begleiten“ eine Frau mit ihren Golden Retrievern, ein anderer Wolf dringt in eine Schafherde ein und ignoriert den Schäfer, die Wölfe des Rudels in Münster zeigen wenig Scheu vor Menschen. Die Diskussion tobt, ob die deutschen Wölfe sich so an Menschen gewöhnt haben, dass sie für uns gefährlich werden könnten. Du studierst seit Jahrzehnten frei lebende Wölfe. Gibt es eine solche Gefahr durch Gewöhnung?
Die lange Antwort auf diese Frage steht in unserem Buch. Ich versuche sie zusammenzufassen:
Es gibt nicht DEN Wolf und nicht DAS Wolfsverhalten. Wölfe haben verschiedene Persönlichkeiten und verhalten sich situationsbedingt unterschiedlich. Manche sind extrem scheu, andere eher forsch und neugierig. Besonders Jungwölfe. In den oberen Fällen waren es stets Jungwölfe, die „auffällig“ geworden sind. Hier muss man jeweils die einzelne Situation berücksichtigen. Wölfe sind extrem anpassungsfähig und können gut in der Nähe von Menschen leben. Dass einzelne Jungwölfe sich neugierig Menschen nähern, bedeutet nicht, dass sie sich an sie gewöhnt haben. Soweit ich weiß, sind die Wölfe schon weitergewandert.
3) Was ist der Unterschied zwischen einem Wolf, der für Menschen gefährlich sein könnte und Wölfen, die aus anderen Gründen in die Nähe des Menschen kommen – zum Beispiel, weil sie unsere Infrastruktur wie Waldwege und Straßen nutzen, oder weil sie neugierig sind?
Für den Wolf als Kulturfolger gehören Straßen und Wege zu seinem Lebensraum. Dass er sie nutzt, ist völlig normal. Es gibt keine Wölfe, die per se für den Menschen gefährlich werden können. Der einzige Fall wäre, wenn Wölfe gefüttert werden.
4) Ich kenne aus den Dokumenten der letzten Jahrhunderte Fälle, wenn auch extrem wenige, in denen frei lebende Wölfe Menschen als Beute töteten. Welche Faktoren müssen dafür zusammen kommen, und wie lässt sich das vermeiden?
In Europa wurden in den letzten 50 Jahren insgesamt 9 Menschen von Wölfen getötet: fünf durch tollwütige Wölfe, die anderen vier in der Nähe einer spanischen Ortschaft, wo die Kaniden angefüttert worden waren. Auch in Nordamerika war stets das Füttern von Wölfen der Hauptgrund von Angriffen.
Das Problem bei historischen Fällen ist, dass man die Tötungen nicht eindeutig Wölfen zuordnen kann. Es könnten genauso gut wilde Hunde oder Wolfsmischlinge gewesen sein. Heute kann man dank genetischer Untersuchungen genauere Feststellungen treffen.
5) Die Regierung in Niedersachsen zum Beispiel hat zwar einen Masterplan der Landesregierung, bei realen oder vermeintlichen Geschehnissen meldet sich dann indessen die Leiterin des Waldkindergartens zu Wort, oder zuständige Kreisjägermeister. Deren Statements sagen viel über ihre Ängste, Interessen und Verantwortlichkeiten - aber so gut wie nichts über den Wolf. Haben wir ein Defizit im Wolfsmanagement?
Wir haben definitiv zu viele Möchtegern-Experten und einen Mangel an echten Experten. Und damit meine ich an Menschen, die WILDE Wölfe über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet haben. In Sachsen klappt das ganz gut. Ich verstehe nicht, warum man sich nicht von der dortigen Regierung beraten lässt. In Niedersachsen werden Menschen als „Berater“ hinzugezogen, die entweder nur Gehegewölfe kennen (die sich anders verhalten als wilde Wölfe) oder überhaupt noch nie einen Wolf in der Wildnis gesehen haben. Und die sorgen dann mit oft unqualifizierten Aussagen beispielsweise zum vermeintlichen „unnatürlichen Verhalten“ des Wolfes für noch mehr Verwirrung und Ängsten unter der Bevölkerung.
6) Das Angst schüren vor dem Wolf entspricht der Hetze gegen Menschengruppen – bis hin zu den angeblichen Schleusern vom NABU, die Wölfe angeblich im Kofferraum aus Polen einschmuggeln. Der Krieg gegen den Wolf beginnt nicht per Zufall in der Zeit der Hexenverfolgung der frühen Neuzeit; auch Hirten landeten damals als Werwölfe auf Scheiterhäufen. Nun haben Mütter wirklich Angst um ihre Kinder, und deshalb lässt sich diese Angst schüren – vor dem fremden Menschen ebenso wie vor dem Wolf. Was lässt sich gegen Hassprediger tun, bevor der Mob sich in Bewegung setzt, um Wölfe zu lynchen?
Ach ja, die „Kofferraumwölfe“ und andere Verschwörungstheorien. Dass Mütter Angst um ihre Kinder haben, ist völlig normal und verständlich. Wäre schlimm, wenn es nicht so wäre.
Was sich gegen Hassprediger tun lässt, ist eine Frage, die seit Hunderten Jahren noch niemand hat beantworten können, weder für die Menschen noch für die Wölfe. Das Einzige, was man meines Erachtens tun kann ist Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung!
7) Ein Argument der Wolfsgegner ist, dass der Wolf nicht in die dicht besiedelte Kulturlandschaft passt. Ist das stichhaltig?
Nein, der Wolf ist ein Kulturfolger und lebt in Europa seit Jahrtausenden mit uns zusammen. Es gibt 400 Wölfe rund um Rom, Wölfe die mitten durch eine rumänische Stadt laufen – und von den Menschen noch nicht einmal als solche anerkannt werden, oder Wolfsmütter, die ganz in der Nähe von Bauern mit ihren Welpen spielen. Niemand regt sich darüber auf. Wölfe brauchen keine Wildnis. Alles, was sie brauchen, ist eine kleine ökologische Nische, wo sie ihren Nachwuchs aufziehen können – und dass sie in Ruhe gelassen werden.
In Tansania baden Kinder in Flüssen, die voller Krokodile sind, weil sie wissen, welche Stellen sie meiden müssen. In Deutschland gibt es einen Riesenmarkt für Hundespielzeug, aber seit der Wolf wieder da ist, kursieren die gleichen Fabeln wie vor Jahrhunderten. Brauchen wir eine Wolfserziehung im speziellen und ein Naturerziehung im allgemeinen?
Ich gebe für einen Großteil des momentanen Hype um den Wolf einigen Medien die Schuld, die die Gunst der Stunde nutzen, um Horrormeldungen zu verbreiten und ihre Auflage zu steigern. Sobald der nächste Kampfhund ein Kind gebissen hat, wird der Wolf wieder unwichtiger werden. Ich denke, die momentane Panik wird sich auch wieder legen, wenn die Menschen merken, dass sehr viel mehr Kinder durch das Auto oder den „netten Onkel von nebenan“ getötet werden, als von Wölfen.
Zur Erziehung? Aber JA! Absolut. Natürlich brauchen wir viel mehr Naturerziehung im Allgemeinen. Und dazu gehören selbstverständlich auch Wolf, Luchs, Bär und alle Wildtiere, die sich ihren Lebensraum zurückerobern.
9) Du kennst Wölfe nicht aus dem Fernsehen, aus dem Tierpark oder aus der Fantasie, sondern weißt um ihr Leben in freier Wildbahn. Wie ändert sich das Ökosystem, wenn die Wölfe wieder da sind?
Wölfe bringen das Ökosystem wieder ins Gleichgewicht, indem sie überwiegend alte, schwache und kranke Beutetiere reißen – im Gegensatz zu den Trophäenjägern. Sie sorgen dafür, dass die Wildtiere gesund bleiben und es beispielsweise weniger Verbiss an Bäumen gibt.
10) Manche Medien vermischen, was getrennt gehört: Wölfe, die Schafe reißen; Wölfe im Konflikt mit Hunden; Wölfe, die sich Menschen nähern – und Wölfe, die Menschen gefährlich werden. Welche Konflikte gibt es wirklich mit dem Wolf, und wie lassen sich diese kontrollieren?
Reale oder vermeintliche Konflikte gibt es überall dort, wo sich Wölfe Menschen nähern. Da gilt es zunächst herauszufinden, warum sie das tun. Hierfür brauchen wir echte Experten, die sich im Verhalten WILDER Wölfe auskennen. Dann kann man zur Not entsprechende Maßnahmen (Vergrämung etc.) einleiten.
Echte Konflikte entstehen auch dort, wo Wölfe gelernt haben, dass Schafe oder andere Nutztiere eine leichte Beute sein können. Hier sind die Nutztierhalter gefordert, die spätestens jetzt aufrüsten müssen. Wer seine Schafe schützt z.B. durch Elektrozäune und Herdenschutzhunde, muss den Wolf nicht fürchten.
11) Was können wir vom Wolf lernen?
Wölfe sind intelligente und enorm anpassungsfähige Beutegreifer. Ihr Familienleben, die Fürsorge für den Nachwuchs und für ihre alten und verletzten Familienmitglieder ist vorbildlich. Ich wünsche mir, dass all die Wolfsgegner und die Ängstlichen einmal mit mir ein paar Tage wilde Wölfe in ihrem natürlichen Umfeld beobachten könnten. Das würde vieles ändern.