Wolfsfreiheit

„ [. . . ] Der überführte und daher als schuldig befundene Täter wurde in der Regel dem Kläger „ zur freien Verfügung“ übergeben. [. . . ]“

Jutta Nowosadtko, Scharfrichter und Abdecker

Das Eis knirschte, während der Müllerjunge mit seinen Stiefeln hinein trat. Ihm war es zu kalt für März, als würde die Sonne zu früh untergehen, als hielte der Winter die Welt in einem Gefängnis aus Frost. Doch die Märzenbecher leuchteten in der Dämmerung und die Vögel des Frühlings sangen im Gestrüpp. Die Glocke weit entfernt im Dorf hatte eben sechs geschlagen. Wurde es im Frühling zu schnell dunkel. Oder verschluckte der Wald das Licht?

Egal, der Junge musste Holz für die Mühle besorgen, und er riss die schneebedeckten Äste aus dem Haufen hervor, aus dem Haufen am Rande des Waldsees. Er lud sich die Äste auf den Rücken und machte sich auf den Heimweg.

Täuschten ihn seine Augen oder legte sich die Nacht bereits auf die Erde? Wo mochte der Weg sein? Er kannte diesen Weg im Schlaf; täglich ging er durch den Wald von der Mühle bis zur Stadt. Der Junge hörte den Schrei des Eichelhähers. „Eichelhäher rufen nicht in der Nacht“, flüsterte er.

Die „Hunde Gottes“, die Mönche des Dominik hatten die Region von Hexen gesäubert. Die Unholdinnen, die ihr Unwesen getrieben hatten, hatte das Feuer gereinigt. „Meine Angst ist unnötig,“ sagte sich der Junge. Doch den Weg fand er nicht. Zweige knackten unter seinen Füßen und peitschten ihm in das Gesicht. Außerdem hatte es zu schneien begonnen; nur wenige Meter reichte sein Blick.

Er lehnte sich an eine Kiefer und hielt inne. An manchen Tagen scheinen die Vögel zu singen als spielten sie auf Knochenflöten; an diesem Tag schienen ihn die Kieferzweige greifen zu wollen wie Geisterfinger. Die Wolken verzogen sich wie Hunde mit dem Blutgeifer der Tollwut im Maul, und dieser Wind. „Der Wind“, wisperte der Junge, „mir ist, als sänge er vom Tod.“ Die Nacht hatte die Dämmerung noch nicht verschluckt und er sah Schemen; dort, zwischen derbem Farngestrüpp. In der Ferne heulten Wölfe, als würden sie sich im Hunger sammeln, um die Schafe der Bauern zu reißen. Was knisterte dort im Farn?

Was sollte hier nur wehen außer dem Frühlingshauch, der nicht kommen wollte? Er hatte den Waldrand erreicht; und was ihm auf den Schultern lag wie ein Nachtkalb war nicht nur das Holz. Er drehte sich um und blickte in das Zwielicht zwischen den Ebereschen und Wildpflaumen. Es raschelte, schon wieder, dieses Dämmergezücht.

Kroch ihm etwas aus dem Wald hinterher? Der Junge versteckte sich hinter einem Brombeerstrauch und beobachtete den Waldrand. War da nicht ein Blick, ein Augenleuchten, oder verwirrte ihn nur der aufkommende Schaum der Nacht? „Es mag ein Reh sein oder ein wildes Schwein“, beruhigte sich der Junge, drehte sich um und ging den Weg zur Mühle, einen Weg, auf dem der aufblühende Mond jetzt die wundersamsten Nachtpflanzen erschuf.

„Doch, da war etwas.“ Er zitterte, ein Schatten war über den Weg gehuscht und verbarg sich in den Büschen, die das Feld vor dem Wind schützten. Die Bauern hatten ihm oft vor der Nachthexe gewarnt, die dem Wanderer auf einsamer Flur auflauerte, von den Irrlichtern, den Seelen der im Moor Ertrunkenen. „Wenn ich auf dem Weg bleibe, kann mir nichts passieren“, flüsterte der Junge zu sich selbst.

Die Neugier siegte und Schritt für Schritt schlich der Junge zu der Stelle, wo der Schatten den Weg gekreuzt hatte. Die Nacht hüllte die Felder in ihren Schleier und er konnte nur Schatten zwischen Schatten erkennen. „Gütiger Gott“, stöhnte der Junge und bekreuzigte sich. Frische Spuren führten durch den Schnee in die Holunderbüsche: das waren nicht die Spuren von wilden Schweinen oder Hirschen, nicht die von Wolf oder Luchs, sondern die Abdrücke von Schuhen. „Hätte ich wenigstens ein Messer dabei,“ flüsterte der Junge. Er hörte den Schlag seines Herzens, so laut, so verräterisch für das, was dort zwischen dem Holunder lauerte. „Ist das die Holunderfrau, von der mir meine Mutter erzählt hat. Die Stadtherren sagen, sie sei ein Geschöpf des Leibhaftigen, eine Hexe, eine Striga, ein Dämon, der ungetaufte Kinder kocht und Salbe aus ihnen bereitet. „Ihr in die Fänge zu geraten, ist schlimmer als der Tod“, zauderte der Junge.

Dem Jungen stockte der Atem. Ein Schrei, Krak, Krak. Ein Eichelhäher. Den schickten die Hexen doch als Spion aus. Das hatte ihm seine Mutter erzählt. Und aus der Ferne heulten die Dämonen zurück wie Wölfe. Die Wölfe waren Geschöpfe

des Teufels. Das wusste er vom Pfarrer. Und die Eulen? Wenn sie Hexen in Tiergestalt waren? Hatte das Holunderweib ihn in ihr Spinnennetz geflochten, würde sie ihn in ihrem Topf kochen?

„Herr im Himmel, ich will noch nicht sterben. Erbarme dich meiner Seele,“ seufzte der Junge. Die Holunderzweige schienen sich zu verkrampfen wie knotige Finger alter Männer. Das Licht des Mondes glitzerte silbern über dem feuchten Gras vor den Büschen und erweckte den Anschein einer Grenze des Heils vor dem Bösen, das sich im Dunkel versteckte. Und dort, im Dunkel bewegte es sich, der Junge hörte den flachen Atem eines Wesens. Dann knackten Äste unter der raschen Bewegung eines Körpers.

Der Müllersohn sprang einen Armbreit zurück, stolperte, fiel mitsamt seinem Reisigbündel auf das Gras. Bevor er sich wieder aufgerichtet hatte, hechtete es sich aus dem Gestrüpp. Tief lagen die Augen, ein Gesicht konnte der Junge kaum erkennen, nur eine große Nase ragte zwischen schwarzem Haar hervor, zwischen Haar, das das Gesicht bedeckte, Haare, die wie Beine einer Riesenspinne über Rücken und Bauch fielen, als wären sie lebendige Kreaturen. Das Wesen ging auf ihn zu, langsam, es hatte zwei Beine – wie ein Mensch. Der Junge schrie und bekreuzigte sich: Diese Augen, diese Haare wie Holzkohle, das musste eine Figur des Leibhaftigen sein. „Vater unser im Himmel,“ stammelte er, in Angst erstarrt. Das Wesen trat näher und streckte seine Klauen aus, oder waren es doch Hände? Der Müllersohn schloss die Lider und betete. Dann roch er den fauligen Atem der Bestie. „Bist du ein Wesen aus der Hölle?,“ fragte er.

Ein Stöhnen drang in seine Ohren: „Kannst du mir zu essen geben?“ Der Junge öffnete zaghaft die Augen. Die Haare hingen über sein Gesicht und ein anderes Gesicht zeichnete sich vor dem Zwielicht ab, hier am Waldrand. „Ich habe Hunger,“ zischte der, der im Dämmerlicht stand. Der Müllerjunge sah einen Blick, ein Augenleuchten, zwischen Farndickicht und dann fragte er: „Du bist kein Dämon?“ „Ich bin ein Mensch wie du,“ antwortete der Andere. Der Junge öffnete seine Augen ganz und er blickte in Augen, in müde Augen, in Augen, die von Erschöpfung kündeten. Aber es waren die Augen eines Menschen, eingerahmt von einem Bart, der bis auf die Brust wucherte und mit Kletten, Zweigstücken und Grashalmen übersät war. Die Kleidung des Mannes bestand aus Lumpen, hier und da mit Moos ausgepolstert.

Der Müllersohn stand auf. „Warum versteckst du dich im Gebüsch?,“ fragte er den Fremden. „Hast du etwas zu essen?,“ fragte der ihn. „Ich weiß nicht.“ „Kannst du mir etwas geben, ein Brot oder ein wenig Haferbrei?,“ bat der Mann. „Hast du denn nichts?“ „Ich esse, was unter Regenwolken bleibt, Mäuse, Würmer, im Winter auch Flechten. Manchmal verfängt sich ein Reh oder ein Hase in meinen Schlingen. Bussarde und Schnepfen sind meine Gefährten. Ich höre das Wimmern des Rehs und die Wasserstellen teile ich mit den wilden Schweinen, vor zwei Mondphasen riss mir eine Bache das Fleisch an der linken Wade auf, als ich versuchte, einen Frischling zu erbeuten.“ „Warum?“

„Gib mir zu essen, dann erkläre ich es.“

Der Müllerjunge zauderte: „Aber sag, lebst du im Wald?“ „Ich bin auf der Flucht, seit Jahren. Niemand lebt noch, der mir Obdach gewähren könnte. Ein paar Bäume, Büsche, ein Platz, um mich zu verstecken, das reicht, wenn man flieht. Drei Zehen froren mir ab, aber das, was über ist trägt meinen Körper, zwingt ihn, sich weiterzuschleppen, Meter um Meter, denn keine Stadt würde mich dulden, ohne mich dem Henker auszuliefern. Kein Dorf kann ich betreten, ohne den Schergen gereicht zu werden. Anfangs, nachdem es mir gelungen war, meine Ketten abzustreifen, da schlich ich mich des Nachts in ihre Nähe, suchte, von den Abfallhaufen zu essen, da ein Knochen, den ich den Hunden entriss, ein andermal faulige Salatblätter. Die Zeit hat Spuren hinterlassen. Meine Zähne sind ausgefallen, außer einem Backenzahn, einem Schneidezahn und einem Eckzahn; meine Fingerhaut ist gerissen.“

Der Müllerjunge schwieg und gab dem Fremden sein Brot. Der stürzte sich darauf, als sei es ein Festmahl am Hof von König Johann, schlang es hinunter wie ein Wolf.

Nach einer Weile begann der Junge zu sprechen. „Und ich dachte, mein Leben wäre hart. Wo ich tagaus tagein arbeiten muss, Getreide mahlen, das Wasserrad bedienen, wenn sich Pflanzen und Schlamm verheddert haben, Tag und Nacht am Mühlstein stehen, aber zumindest habe ich ein Bett, wenn es auch eine Pritsche ist und einen Ort, von dem ich weiß, dass ich dorthin gehöre. Ich habe Mitleid mit dir, du armer Mann.“

„Du brauchst kein Mitleid zu haben. Diese Art des Überlebens im Walde ist die einzige, die mir noch vertraut ist. Selbst wenn ich wollte, möchte ich nicht in das Dorf zurück, in dem ich aufgewachsen bin. Das Leben ist hart, aber ich kenne die Gesellschaft nicht mehr. Das hier draußen, das ist einfacher. Es gibt keine Freunde und keine Feinde. Es gibt nur Beute, wenn ich hungrig bin und Beobachtung, wenn mein Magen gefüllt ist. Die Tiere scheinen das ähnlich zu sehen. Vor Bären muss ich mich in Acht nehmen, aber die haben ihre Wege, und wenn ich vorsichtig bin, störe ich sie nicht. Die Wölfe fürchten sich vor mir, bin ich doch einer von ihnen. “

„Du bist kein Wolf. Du bist ein Mensch. “ „ Frag mal die Leute im Dorf, frag die Menschen in der Stadt. Die werden dir die Antwort geben. Spätestens, wenn sie dich greifen, weil du Kontakt mit mir aufgenommen hast, wirst du sehen, dass ich für sie ein Tier bin, ein Wolf, der außerhalb ihrer Häuser und Herden lebt. Ich bin wie ein Wolf ein Jäger und Gejagter zugleich. Hast du die Fallen gesehen, die vergifteten Stücke Pferdefleisch, die Wolfsangeln, die in den Bäumen hängen? Es sind Fallen für die Wölfe. Sie haben die gleiche Freiheit wie ich, die Freiheit, dass jeder sie töten kann, wo immer er sie findet. Mein Leben ist ein Schwert, auf dessen Schneide ich tanze. Vielleicht halte ich es noch einen Sommer durch, vielleicht auch zwei. Bisher kann ich meinen Schmerz noch mit Tollkirsche und Stechapfel betäuben. Aber das wird nicht mehr lange der Fall sein. Meine Kraft ist nicht mehr stark wie in dem Winter, in dem ich fortgelaufen bin. “

„Von wo bist du fortgelaufen?“ „Ich war Leibeigener, Sohn des Heinrich Bettlach, Eigentum des Grafen Balthasar.“ „Warum bist du weggelaufen? Wir alle haben unseren Platz in Gottes Welt und dürfen ihn nicht verlassen.“ „Platz in Gottes Welt? Ich hatte eine Braut und der Graf nahm für sich das Recht der ersten Nacht in Anspruch. Aber meine Braut und ich wollten nicht, dass dieser geile Ziegenbock sie besteigt und sagten Nein. Er hetzte seine Hunde auf uns. Sie zerrissen mein Minchen, ich konnte fliehen. Jetzt bin ich ein Wolf, ein Geächteter. Ich werde niemals in die Knechtschaft zurückgehen können, selbst wenn ich wollte. Wenn du vogelfrei bist, Junge, dann erkennen sie dich, in jedem Dorf und in jeder Stadt. Es gibt Wege in den Wäldern und noch einige wenige, die diese Wege kennen. Aber auch meine Jäger werden diese Wege kennen lernen. Ich sehe es an den Wölfen. Einige verstecken sich, bleiben unerkannt, schleichen sich in das Dorf und reißen ein Schaf oder ein Kalb. Doch für jedes Schaf, das im Dorf von einem Wolf geraubt wird, sterben dutzende von Wölfen. Ich habe sie beobachtet. Aber ich gehe nicht mehr in das Dorf. Es ist im Wald ungefährlicher. Die Schritte sind sicherer. Ich höre meine Jäger, bevor sie mich hören und ich verstecke mich. Noch geht es. “

„Ich mag dich gerne. Wenn du willst, dann werde ich dir Brot bringen, damit du nicht Hunger leiden musst. “

„ Aber sie vorsichtig Junge. Hier, das schenke ich dir. Ich weiß nicht, ob du lesen kannst, ich brauche das nicht mehr. Ich glaube nicht mehr an ihren Gott. Wenn ich tot bin, dann ist nichts mehr. Ich weiß, dass ich noch einige Zeit habe und genauso ende wie die Wölfe in den Gruben mit den Holzpfählen. Versteck dieses Buch, ich habe es meiner Herrin gestohlen.“ Der Mann, der wie die Wölfe lebte, überreichte dem Jungen eine Bibel.

„Ich kann nicht lesen, wilder Mann.“ „ Dann lern es. Ich habe es auch gelernt. Oder dachtest du, dass sie in der Grafschaft den Leibeigenen das Lesen beibringen. Wenn sie gewusst hätten, dass ich es mir beigebracht habe, dann hätten sie mich damals schon getötet. Nun, ich lebe noch, von Augenblick zu Augenblick. Ich habe Waffen, und ich kann kämpfen.“ Der Mann aus dem Wald zeigte dem Jungen einen Bogen und einen angespitzten Stock. „ Ich werde mich verteidigen und bis dahin leben. Ich muss gehen Junge, und du gehst besser auch. Hörst du es?“

Der Junge hörte das Bellen von Hunden in der Ferne. „Die Jäger werden bald hier sein mit ihren Hunden,“ meinte der Mann.

„Du hast nichts getan. Der Graf hat deine Braut ermordet, nicht du.“ „Glaubst du, ein Leibeigener bekommt Recht vor einem Adligen. Geh nach Hause, Junge. Mein Unterschlupf ist zwischen den beiden großen Weiden am See.“

Der Mann rollte sich, kroch vorsichtig auf allen vieren über das Trockenholz und schlängelte sich durch das Gras am Wegesrand, lief dann in ein Tannendickicht.“ Dann war er verschwunden und der Junge blieb allein.

Er ging zu seiner Mühle. Der Vater schlief längst. Der Junge legte sich auf seine Pritsche und dachte noch lange an den Mann, der wie ein Wolf lebte. Er blätterte in dem Buch und betrachtete die ihm fremden Zeichen.

Zeit verging, bis der Junge in der Mitte des Aprils wieder in den Wald kam. Jetzt blühten die Krokusse und das Leben war aus dem Winterschlaf erwacht. Der Junge fand das Loch, eine Beinlänge über der Wasseroberfläche. „Ich bin es, der Müllerjunge. Bist du da?,“ rief er. Doch es kam keine Antwort.

„Der Mann wird auf der Jagd sein“, dachte der Junge und legte ein Brot vor das Loch. Er machte sich mit seinem Klepper und einem Wagen voll Mehlsäcken zur Stadt auf. Er kam an den Stadtwachen vorbei, wankte über die Trittsteine, wich dem Unrat aus und gelangte zum Marktplatz. Mühsam kämpfte er sich seinen Weg durch die Menge und kam zu seinem Stand.

Alle waren da, der Bürgermeister, die Schöffen, die Bürger, die Knechte, die Schreiber, die Handwerker. Unruhe bewegte die Menge. „Liebe Leute, ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Ihr seid jetzt in Sicherheit. Gott bleibt nichts verborgen und kein Verbrechen gedeiht unter seiner hütenden Hand.“ Der Müllerjunge verstand nicht, was den Aufruhr verursacht hatte.

Der Müllerjunge hielt einen Bettler am Ärmel fest: „Sag mir, was ist los. Warum sind die Menschen so in Aufregung?“ „Ich weiß es auch nicht. Einige hohe Herren kamen gestern mit einer Kutsche in die Stadt. Es sind Priester, glaube ich. Sie beratschlagen irgend etwas von Bedeutung. Aber hast du vielleicht noch einen Groschen für mich?“

„Nein,“ sagte der Junge. Später fragte er einen Bäcker, der ihm einen Sack Mehl abkaufte, nach dem Grund für den Volksauflauf.

„Die hohen Herren vom Gericht weilen heute in der Stadt Landshut und warten auf den Scharfrichter Georg Trenckhler, ein Meister seines Faches. Sie haben eine Hex gefangen, aber die Hex gesteht ihren Schadenszauber nicht, denn Satan schützt die Striga. Unser Scharfrichter, Peter Nußberger, soll die Haare geschoren und das Nachtgespenst mit Weihwasser gewaschen haben. Georg Trenckhler ist bekannt dafür, die Zauberer zum Geständnis ihrer Verbrechen zu bringen. Die Hex soll sich mittels eines Gürtels aus Tierfell, den der Herr der Hexen, der Leibhaftige, gab, in ein wildes Tier verwandelt, Vieh und Kinder gefressen zu haben.“ „Aber werter Herr, ich dachte, die Hunde Gottes hätten die Hexen in unserer Region längst besiegt.“ „Das Böse, Junge, das Böse kennt viele Wege und die Teufel halten sich in der Finsternis versteckt.“

„Aber wie kann man sich vor ihnen schützen. Indem du dem Wort Gottes folgst, wie es geschrieben steht im Buch der Bücher.“ „Aber ich kann nicht lesen.“ „Dann geh in die Kirche und lausche den Worten des Predigers.“

Diesmal wollte er vor der Dämmerung zuhause sein, denn er hatte Angst. Wie hielt es bloß der Mann aus in einem Wald, in dem immer noch Hexen und Nachtgespenster ihr Unwesen trieben und kleine Kinder fraßen. Sie konnten überall sein. Die Krähen, dort am Himmel, wer sagte ihm, dass es keine Späher der Hexen waren. Und dort, ein Kreuzweg. Dort sollten sich die Hexen und Vampire in der Nacht treffen. Fliegenpilze, mit denen brauten Hexen ihren bösen Trank zusammen. Der Junge zuckte bei jedem Geräusch zusammen.

Heute fühlte er sich gerettet, als er in die Mühle kam, legte sich auf die Pritsche und drückte das heilige Buch fest an seinen Körper. Da, es knisterte wieder unter seinem Bett. War das vielleicht einer der Kobolde mit den Glubschaugen, einer von denen, die auf Mäusen ritten? Irgendwann fielen ihm die Augen zu. Er erwachte im Morgengrauen, ja, er musste schon wieder in die Stadt und hatte unruhig geschlafen. Denn in seinem Traum hatten sich Hexen in Katzen und Eulen verwandelt, ihm das Blut aus dem Hals gesaugt, sein Herz aus der Brust gefressen, hatten Schlangen dort, wo sie Arme hätten haben müssen und Mäuse mit roten Augen und Fangzähnen.

Der Müllerjunge spannte das Pferd ein und schleppte die Säcke auf den Wagen, setzte sich und fuhr los, durch den Wald, den Weg entlang. „Wie hält das bloß der Mann im Wald aus? Warum tun ihm die Unholde nichts?,“ fragte er sich und atmete durch, weil es endlich Tag war, die Zeit der frommen Christen. Er kam zum Stadttor und erhielt Einlass, fuhr beim Ratskeller vor. „Was brauchen die so viel Mehl?,“ dachte er sich. Dann sah er die Waffenknechte, die einige Bürger zur Seite drängten. „Platz für den Scharfrichter Georg Trenckhler, Platz, Eine Kutsche, fast wie die eines Adligen, fuhr vor. Die Knechte öffnete die Tür und ein Mann trat heraus, rückte sich einen roten Hut mit weißen Federn zurecht, rückte einen blonden Schnurrbart gerade und richtete einen schwarzen Rüschenkragen..

„Los, bring schon das Mehl hinein, das Brot für Herrn Trenckhler muss schnell zubereitet werden, er wartet nicht gern,“ wies ihn der Fronbote an. Der Müllerjunge packte die Säcke auf die Schultern und brachte sie in die Bäckerei unterm Ratshaus. Es musste wahrlich ein hoher Herr sein, denn im Speisesaal drehte sich ein Ochse am Spieß, die Silbertabletts quollen über vor gebratenen Hühnern und Gänsen, ein ganzes Schwein mit Apfel im Maul saß in der Mitte der Tafel. Der Junge steckte das Geld ein, was er für das Mehl bekommen sollte und fuhr mit seinem Einspänner in die Stadt hinaus. Im Wald kam er auf die Idee, noch einmal nach dem Mann zu sehen. Er schlich zu den beiden Weiden und rief. Niemand antwortete. Brotstücke lagen umher, aber sie sahen aus, als habe ein Rabe an ihnen gepickt, nicht ein Mensch gegessen. Er konnte die Buchstaben seines Namens und wollte dem Mann eine Nachricht hinterlassen. Er ritzte in einen Ast Müller Jörg und legte ihn so vor die Höhle, dass der Mann ihn nicht übersehen konnte.

Er kam nach Hause, wartete die Mühlenräder, brachte das Mehl in die Säcke und fing von seinem Vater die obligatorischen Schläge ein. Erst spät am Abend kam er zu Ruhe. Heute hatte nicht so viel Angst, sondern vertraute darauf, dass das heilige Buch ihn schützen würde. Draußen vor dem Ölpapier kratzte etwas, aber er wusste, wenn er nur fest an Gott glaubte, würden ihn die Hexen nicht holen können.

Am nächsten Tag hatte er frei, denn das Mehl war abgefüllt und sie hatten in einer Woche mehr verkauft als sonst in einem Monat. Sonst hatte er an seinem freien Tag geschlafen, aber der Gedanke an den Scharfrichter, der sich kleidete wie ein Edelmann, ließ ihn nicht los und gegen Nachmittag schlich er sich zur Stadt. Auf dem Marktplatz tummelte sich eine Menge und der Fronbote stand auf einem Podest neben einem Stapel getrockneten Holzes, an den jemand einen Pfahl befestigt hatte. Morgen, in der Stunde, nach Sonnenuntergang wird der Scharfrichter Georg Trenckhler das heilige Urteil ausführen.

Eine wirkliche Hexe hatte er noch nie gesehen. Das durfte er sich nicht entgehen lassen. Aber er musste arbeiten. „Hm, der Alte schläft immer länger, und wenn ich schnell laufe, bin ich zwei Stunden nach Sonnenaufgang zuhause. In der Dämmerung fand er einen Platz im Heuhaufen eines Pferdestalls und legte sich schlafen. Er blieb ganz ruhig, hier in der Stadt waren die Mächte des Bösen verbannt. Die Nachtgespenster trauten sich nicht aus dem Wald.

Der Junge erwachte, als das Morgenrot auf der Stadtmauer glühte. Die Wachenknechte bewachten den Holzhaufen. Dann trat der Scharfrichter mit weit ausholenden Schritten auf das Podest. In rechten Hand hielt er eine Zange, in der linken einen Eimer mit glühenden Kohlen. Mehr und mehr Menschen kamen auf den Platz, der Bürgermeister, der Schmied, der Apotheker, der Barbier, die Hebamme.

Dann verlas der Stadtrichter das Urteil: „Jacob Bettlach gestand, vom Teufel einen Gürtel aus Wolfsfell bekommen zu haben, der ihm die Macht gab, sich in einen Wolf zu verwandeln. Als Wolf zerriss er seine Braut, Minerra Köster und stahl den Bauern Kühe und Schafe von der Weide. Auch trieb er grässliche Unzucht mit Wölfinnen, Hunden und Schweinen. Die männliche Hex, der Werwolf, ist zum Tode durch das Feuer verurteilt worden. Zuvor aber soll der Scharfrichter ihm das Fleisch mit Zangen aus dem Körper reißen, wie er es seiner Braut von den Knochen biss.“

Der Schinderkarren bewegte sich über den Platz, bewacht von zehn Waffenknechten. Leute sprangen zur Seite, als fürchteten sie sich vor dem Mann, der darin saß, eingesperrt in einen Holzkäfig. Der Wagen fuhr nah an dem Jungen vorbei. Dem stockte der Atem. Im Käfig saß keine Hexe, wie er gedacht hatte, sondern der Mann aus dem Wald oder das, was von ihm noch übrig war. Er konnte die Augen nicht öffnen, denn geschwollene Blutkrusten bedeckten sie. Kaum ein Teil seines Körpers schien keine Wunden aufzuweisen. Sein linker Arm hing schlaff hinunter, er war gebrochen. Die Hände konnte der Junge kaum noch erkennen, sie waren ein Brei aus Fleisch, Blut und Knochen, die aus der Haut hervorstaken.

Der Wagen hielt am Podest und die Waffenknechte zerrten den Gefolterten hinauf, pressten ihn auf den Boden. Der Scharfrichter holte seine Zangen aus der Glut und riss Fleisch aus dem Körper. Der Arme hätte wohl geschrieen, aber Blut sprudelte nur aus seinem Mund, der Junge sah genau hin, der Mann hatte keine Zunge mehr. Der Scharfrichter riss Fleisch aus den Armen, von den Schenkeln und zuletzt riss er ihm den Penis und die Hoden hinaus. „Der Werwolf wird nie wieder Unzucht treiben,“ rief der Scharfrichter. Die Gliedmaßen des Verwundeten zuckten wie ein letztes Aufbäumen eines lebendigen Menschen.

Dann trugen die Knechte den Körper zu den Holzscheiten, richteten ihn am Pfahl auf, entzündeten das Feuer. Das Gesicht des Mannes aus dem Wald verzerrte sich. „Was müssen das für Schmerzen sein;“ murmelte der Junge. „Er ist unschuldig.“ Es stank, ähnlich wie ein gebratenes Schwein, aber es war kein Schwein, sondern ein Mensch.

Die Flammen schlugen hoch und der Rauch lag über der Stadt. Irgendwann hatte der Brand ein Ende. Wo vorher ein Mensch gestanden hatte, befand sich nur noch verkohltes Fleisch. Die Menge begann, sich zu zerstreuen, da betrat der Fronbote noch einmal das Podest: „Sogar Georg Trenckhler, ein Meister seines Mund des Teufelsanbeters nicht die Namen der Komplizen entlocken können. Aber wir fanden einen Beweis in der Höhle des Unholds.“ Der Fronbote hielt einen Ast in die Höhe, den Ast, in den der Junge seinen Namen geritzt hatte. „Die Waffenknechte sind unterwegs, um den Komplizen des Teufelsbündners, mit dem er seine Schandtaten beging, zu fassen.“

Der Junge schlich sich zu dem Pferdestall, in dem er letzte Nacht gelegen hatte. Das war zuviel. Der Mann war unschuldig und ihn erwartete das gleiche Schicksal. Wo war der Herr des Himmels geblieben. Er lag unter dem Heu, bis es dunkel wurde. Dann kroch er über die Stadtmauer. Die Eulen buhten und die Fledermäuse flatterten zwischen den Bäumen umher. Doch diesmal hatte er keine Angst vor den Nachtgespenstern. Denn sie konnten nicht so schlimm sein wie das, was Menschen Menschen antaten. Und er hörte die Wölfe in der Ferne heulen, aber auch vor ihnen fürchtete er sich nicht mehr. Er verbarg sich im dichtesten Farngestrüpp.

Die Sonne ging auf, der Junge beugte sich in das Wasser des Waldsees, um zu trinken, da hörte er aus der Ferne Hundegebell. Es kam von mehreren Seiten, und es wurde lauter. Der Junge nahm einen Stein auf, denn er würde kämpfen und er dachte an jemand, für den die Sonne nicht mehr schien.

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Historiker, Dozent, Publizist