Der Menschenskorpion

[...] Der Wahn erkennt in der Verklärung der Opfer ihre Erniedrigung. Er macht sich dem Ungeheuer der Herrschaft gleich, das er leibhaft nicht überwinden kann.[...]

Theodor W. Adorno, Die Dialektik der Aufklärung

Sein Name ist Boris. Er zittert manchmal. Seine Augen blitzen, seine Hände zucken gelegentlich. Wir fanden sein Tagebuch und fassten es zusammen.

In der Kälte eines Oktobermorgens lenkten Boris seine Schritte zu einem Haus in Tox Tath, einem Stadtteil in Liverpool. Der Verfall des Hauses zog ihn an. Nach Stürmen in der Nacht lagen am Morgen Regenschlieren auf den Gebäuden. Häuschen schmiegten sich in eine Landschaft wie in einer Spielzeugeisenbahn, Häuser in der Farbe von Schokolade. Einige Bäume lagen auf Ziegelmauern in der Farbe von Kakao. Dann und wann kreuzte ein Passant seinen Weg, als er die Croxteth Road entlangschlich. Orkane hatten die Bäume aus der Erde gerissen. Stille breitete sich auf den Straßen aus. Diese Stille erinnerte Boris an Gleichförmigkeit, mit der der Ganges Kadaver in die Mangrovenwurzeln schwemmt.

Der Reisende betrat den Hof des Hauses. Seine Blicke wanderten zu verschmorten Plastikpuppen, Müllasche lag auf der Erde verstreut. Ein Haus voll Merkwürdigkeiten. Es bestand aus drei Stockwerken, die Fenster aus der Kolonialzeit hatte jemand zerbrochen und von innen mit Pappe versiegelt. Er fühlte, wie seine Wahrnehmung sich veränderte, erkannte etwas und schreckte zurück. Müll lag überall, der zum Teil verbrannt war, verbrannt, als ob dort jemand versucht hatte, etwas zu beseitigen. Denn etwas störte. Dieses Etwas hatte in Boris eine Hemmung ausgelöst, den Hof zu betreten. Er wußte nicht, was es war, noch nicht. Deshalb drehte sich der Geschichtsstudent aus Hannover um und ging zurück zu dem Hotel in der Croxteth Road, in dem er mit seiner Schwester, ihrer Freundin und ihrem Freund Domizil wohnte. Dort ruhte etwas in diesem Haus der Zerstörung, in diesem Hof.

Er saß kurze Zeit später mit Malcolm, seinem Gastgeber, einem Mensch voll Korpulenz, im Zimmer und trank Tee. Sie hörten Popmusik aus England. Die Straßen in der Kälte von Tox Tath blieben draußen. Cristopher, der Freund von Boris Schwester, sortierte seine Schätze - Beute eines One-Pound Shops. Boris rauchte eine Gitanes und wusch sich die Hände. Er vergaß den Müllberg nicht.

Die Nacht in Tox Tath reizt mit einer Atmosphäre voll Eigentümlichkeit. Dann und wann zerreißt jedoch der Schrei eines Säuglings im Sterben das Eigentümliche und ersetzt es durch Terror. Jugendliche, Kinder von Vätern aus Nigeria und Müttern mit weißer Haut, kontrollieren die Dunkelheit. Die Mütter leben von Sozialhilfe und die Väter sind nach Nigeria abgehauen. Der Pariastatus der Kinder ist nachvollziehbar: In ganz England treiben nirgendwo mehr Rassisten ihr Unwesen als in Liverpool. Die Schwarzen aus der Black Community hassen dafür die Weißen.

Beide Seiten bezeichnen die Mulattenkinder als Bastarde. Nachts erschießen diese Kinder sich dann gegenseitig. In den Straßen von Tox Tath stößt der Atem dichter hervor als anderswo und getriebener stößt er aus den Lungen. Die Mulattenkinder zerschlagen Telefonzellen und rotten sich zusammen. Sie werfen mit Steinen auf vorbeifahrende Autos - und es brodelt.

Ein Wind liegt in der Luft, ein Hauch, der sich zum Sturm zusammenzieht. Er braut sich zusammen, dann zerstirbt er, bis der Tag beginnt und die Kinderkämpfer sich in ihre Behausungen zurückziehen, um dort die Nacht, eine neue Nacht, abzuwarten, in der der Wind erneut den Brandgeruch von Mülltonnen in sich trägt.

Die Nacht bricht neu mit Schwärze hervor, erweckt das Leuchten in den Augen dieser Raubtiere, die in der Zartheit ihrer Kinderjahre die Beretta als Freund und das AK-47 als Beschützer ansehen.

Es war so ein Tag. Malcolm kochte Kaffee, Boris und die anderen aßen zu Rollen gepapptes Weißbrot mit Cheddarkäse. Die Uhr zeigte Mittag; es regnete nicht mehr. „My hands are the killer that confirm my fears.“ An diese Zeilen der Gothic-Rock Band Christian Death dachte Boris, als er nach dem Essen im Bus zum City Center fuhr. Eine blonde Frau hustete neben ihm und Wolken tauchten früh am Nachmittag die Stadt in Dämmerlicht.

Boris traf sich mit seinen Freunden, denen aus Hannover und denen aus Liverpool, im Cafe Tobac in der Bold Street. Die Tische leuchteten, blau gestrichen in Lackfarbe, das Innere des Raumes war leer, beruhigend leer. Eine junge Marrokanerin servierte Mocca. Nach wie vor lag es in der Luft. Boris fühlte sich, als ob er sich in diesem Hof infiziert hatte, infiziert mit Zerfressenem, zerfressen von den Blatternviren eines Leichnams. So schien ihm auch die Ruhe des Cafes äußerlich.

Vor den Fenster gingen Passanten, Weiße und Schwarze, Pakistanis, Inder, Nigerianer und Scallies, wie sich die Schläger weißer Hautfarbe nannten, Arschlöcher, die andere Menschen krankenhausreif prügelten, schnell ein Messer in der Hand hielten und zustießen. Einer dieser Typen hatte einem Kumpel von Boris Schwester in einer Telefonzelle den Hals aufgeschnitten, weil der -seiner Meinung nach- zu lange telefoniert hatte.

Boris betrachtete Postkarten, die er seinen Freunden in Hannover schicken wollte. Eine zeigte die Docks von Liverpool, eine eine Kathedrale aus dem Mittelalter, eine dritte zeigte das Sternzeichen Skorpion. Die fesselte ihn: Ein roter Skorpion kroch über einen Sumpf. Die Karte trug die Inschrift: „Red is not the color of innocence.“ Boris schluckte. Er dachte an die Geschichte „The Masque of the Red Death“ von Edgar Allan Poe, an die Unentrinnbarkeit vor dem Unheil.

Kurz nach sechs - die Nacht begann. Sie saßen im Hotel und die Musik aus der Anlage übertönte zögernd den Sirenenklang und das Krachen der Glashausfassaden draußen. Malcolm zeigte Boris eine Straße der Gefahr.

Das war es: Haß und Verzweiflung trieb Kinder, die niemand liebte. Haß trieb sie, beim Häuserbrand in Wollust Lieder vom Tod zu singen. Aber es war nicht nur das. Voll Entsetzen spürte Boris, dass es noch etwas anderes gab und dass dieses andere sich in Müllbergen in diesem Stadtteil verbarg - wie ein Weihgefäß des Todes. Was stand hinter dem Sirenenheulen? War das eine Art Seele, Antrieb oder Kern des Ganzen? Es konnte doch nicht nur die Erbärmlichkeit des Kinderlebens sein. „Ist es möglich, dass Haß, Angst, Chaos und Verzweiflung Wirklichkeit werden?“ fragte er sich. „ Dass etwas entsteht, wenn Leidenschaft vergilbt und Inzest verschlingt?“ Die Musik dämpfte und beruhigte ihn. Autos fuhren am Fenster vorbei. Er dachte an den Müllberg. Als ob jemand versucht hätte, Unheil zu beseitigen. „Warum verbrannte der Müll nur zur Hälfte?

Warum nicht ganz?“ schwitzte er und blickte nach draußen. Dort kroch die Nacht wie ein Insekt. Wie Insekten flogen diese Kinder auf ihrer Suche nach Opfern in die Straßenzüge. „Wem bringen sie Opfer? Sind es Opfer für ihren Haß? Sind es Opfer für ihre Grausamkeit, ihre Einsamkeit, ihre Kälte?“ Das fragte sich Boris, und es drängte ihn, der Sache auf den Grund zu gehen.

In Tox Tath geht man, wenn man nicht einer Gang angehört, in der Nacht nur in Gruppen durch die Straßen oder bleibt zu Hause.

Die Bewohner des Viertels wissen, dass die Straßen den Tod trinken. Sie wissen, dass ein Menschenleben nicht zählt. Sechzehn Jahre bevor Boris seinen Urlaubsalptraum verbrachte entfesselten die Schwarzen ihren Haß auf die Unterdrücker. Der Stadtteil entflammte.

Liverpool ist eine Stadt der Armut und niemand restaurierte die Häuser. So hausen die Armen in Gebäuden, denen die Fenster fehlen, in Fassaden der Pracht, deren Dachziegel die Innenhöfe bedecken. Säuglinge sterben an Unterernährung, Alte an Lungenentzündung. Die Verzweiflung springt an jeder Ecke in die Augen. Die Kinder wachsen in dem Tod der Straßen auf und lernen zu töten, lernen zu überleben, lernen zu sterben. Denn sterben können sie in Tox Tath schnell.

Boris saß in der Badewanne mit dem Dreckboiler, der Stunden brauchte, um zu erhitzen. Dafür kochte das Wasser jetzt. Er sinnierte, heute Nacht zu dem Hof zu gelangen. Er mußte seine Unternehmung im Verborgenen durchführen. So legte er sich neben seiner Schwester ins Bett, las in einem Buch über die Sklaverei-Ausstellung im Liverpool Museum, wartete, bis sie das Licht ausknipste und tat so, als ob er schlafen würde.

Als Boris hörte, dass ihr Atem sich beruhigte und ein Schnaufen aus ihrer Nase drang, stand er auf. Der Geschichtsstudent schlich sich zur Treppe, wo Hose, Pullover und Jacke in ihrem Versteck lagen und ging zur Vordertür. An der Eiche, die in der Nacht die Silhouette eines verformten Gorillas anzunehmen schien, huschte er vorbei und trat auf die Croxteth Road. Eiswind strich um Boris Ohren. Stille lag über dem Viertel, von weit entfernt drang Motorenlärm. Er sah keinen Menschen. Boris hastete die Friedhofsmauer entlang, deren Schieferplatten im Zwielicht der Dunkelheit ein Eigenleben annahmen.

In Deutschland liebte er den Spätherbst mit der Klarheit seiner Kälte. Hier spürte er Angst, die die Kaltluft noch unterstrich, auch wenn sein Kopf sich klärte. Boris beschleunigte seine Schritte, fühlte sich beobachtet. Am Abend zuvor hatte er von dem Kobold Redcap gelesen. Das hätte er lieber bleiben lassen sollen. Boris versuchte, die Imagination ab- und die ratio einzuschalten, doch das war leichter gesagt als getan.

„Vielleicht hätte ich doch besser im Bett bleiben sollen,“ nuschelte der Student sich in seinen Dreitagebart. Weiße mochten die Kids nicht und deutsche Studenten aus der Mittelschicht, die in Liverpool ein paar Tage Gefahr schnupperten, um dann wieder in ihr Zuhause zurückzukehren, noch viel weniger. Die Mulattenkinder hatten sich nicht freiwillig entschieden, in der Unerträglichkeit des Chaos und in der Menschenunwürdigkeit des Verfalls zu leben.

Boris hörte es nicht krachen und das verunsicherte ihn. In den Nächten zuvor war es kaum zehn Minuten ruhig geblieben. Lag es daran, dass die Killerkinder ihn bemerkt hatten und auf der Lauer lagen? Er versuchte, sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Immerhin war er nur ein Mensch, der in der Nacht über die Straße ging.

Aber die Straße war Boris zu offen. Nebel zog auf, er konnte sich ein wenig verbergen. Boris sah nicht eine Mülltonne, hinter der er sich zur Not verstecken könnte.

Kein Baum und kein Busch bot ihm Deckung, wenn diese Kids mit Maschinenpistolen herumspielten oder Butterfly-Messer ausprobierten. Boris Knie schlotterten. Er lehnte sich an eine Mauer, blickte auf Raureif und Efeublätter und begutachtete die Szenerie. Wenige hundert Meter trennten ihn vom Hof. Die Straßen, in denen die Mulattengangs kämpften, lagen auf der anderen Seite eines Parks, der hinter dem Hof begann.

Keine Killer hielten sich in der Croxteth Road auf. Da die Gangs ihre Reviere abstimmten, schien es unwahrscheinlich, dass die Mörderkinder auftauchten. Das sagte die Logik. Sein Gefühl sprach anders. Er hatte Angst. Der Student fror vor Angst, die weit über eine Faust im Gesicht hinausging. Zuerst wollte der Tourist zurück ins Hotel gehen, es zog in die andere Richtung. Es? Wie am vorigen Morgen zog es ihn an. Er lief nicht weg vor dem, was ihm Angst machte, sondern ging darauf zu, ein Mechanismus gefährlich wie ein Maschinengewehr.

Nicht er ging, sondern es trieb ihn, zwang ihn: Es fühlte sich an, als ob jemand ihm von hinten in den Nacken schlug; wie ein Sklaventreiber im Hafen von Liverpool, dem Zentrum des Fleischmarkts. Boris wollte dagegen ankämpfen, wollte ins Hotel zurückgehen. Es war zu spät.

Er dachte an die Horrorliteratur in der Bold Street. Er merkte, dass die Künstler des Düsteren und Verborgenen auf die Wirklichkeit zielten.

Jetzt trieb Boris die Angst vor der Angst in die Angst. Er erinnerte sich an die Postkarte, auf der ein roter Skorpion über einen Fäulnissumpf kroch. Boris dachte an den Skorpionsstachel, an Afrika, an den Pandinus Imperator- den Riesenskorpion. Rot sollte nicht die Farbe der Unschuld sein. Wie das Blut, das die Kinder in der Nacht vergossen. Wie die Angst und Einsamkeit, die sich in Kaltblütigkeit und Grausamkeit verengte. Boris zitterte, denn wie der Sumpf auf der Postkarte verfaulten die Kinderseelen. Kinderseelen, die krochen wie Tausendfüßler. Boris kippte vor Schreck, die Erkenntnisse kollabierten. Der Skorpion. Das Tierkreiszeichen, das über Verwesung kriecht, sticht und tötet. Das Sinnbild für ein Menschmonster, einen Sozialdarwinisten im Überlebenskampf.

Der Student erkannte mit der Klarheit eines Kristallglases: Den Bruch des Tabus, die Erforschung der Perversion, die Reise in die Unterwelt. Die Angst gewann und Boris wusste, was die Kinder trieb. Der Skorpion trieb sie. Ihm brachten sie Opfer. Eine Kreatur der Kälte stach, eine Schöpfung aus Selbstzerstörung tötete. Sie bewegte sich auf dem Gestank unter der Oberfläche dieser Kloake.

Er raste auf den Hof, zwischen Gruppen von Gangkindern hindurch, vorbei an Mulatten, die eine Ratte mit Stricknadeln spickten, bis er zum Zentrum des Sogs kam.

Der Hof phosphoriszierte. Eine Amerikanerleiche lag zwischen den Plastikstücken, kenntlich am Hawaihemd und den Nike-Turnschuhen. Kinder von schwarzen Vätern und weißen Müttern standen um den Kadaver und stimmten einen Singsang an. Ein Wesen mit dem Unterleib eines Riesenskorpions und dem Torso eines Menschen kroch über den Abfall, die Augen Kugeln, die Hände Zangen. Die Kinder traten zur Seite, als der Menschskorpion zur Leiche kam. Im Bannstrahl ging Boris zum Wesen.

Sein Körper vibrierte, als dieses Geschöpf, aus Angst und Hass zu Fleisch geworden, den Chitinschwanz über den Kopf bog. Er fiel nieder und Schemen der Trommelkämpfer Altägyptens zogen ihn in den Äther, sein Nacken verkrampfte und Gefühllosigkeit fraß sich in die Lähmung seines Leibes.

Zwei Tage ist das her. Boris träumte die Schrecken dieser Stadt. Ein Traum, dachte er, saß in der Badewanne und starrte auf den Dreckspiegel.

Doch woher kam diese Stelle an seinem Becken, die aussah wie ein Muttermal, was waren das für Spinnweben in Sternform am Bauch? Warum schallte sein Herzschlag?

„Boris, hast Du die Geburtstagskarte für deine Mutter schon losgeschickt?“ rief seine Schwester Nadja von draußen. Er blickte auf die Karte mit dem roten Skorpion. An der Wand hing ein Stadtplan von Liverpool. „Die Karte ist ein Alptraum“, schrie Boris und flüsterte: „Und nicht nur die Karte.“

Wie Gift stach es in seine Nackenhaut und lähmte seine Bewegungen?

Boris zuckt manchmal mit den Augen.

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Historiker, Dozent, Publizist