Der Menschenskorpion 2.0

Diese Geschichte spielt in Liverpool. Sie ist einer Nacht entrungen, deren Dunkelheit die Erinnerung frei gestorbener Seelen in sich tragen mag. Diese Geschichte ist nicht schön, doch sie entspricht der Wahrheit. Darum soll sie erzählt werden. Die Wirklichkeit des Traumes; nichts ist schlimmer als das. Diese Wirklichkeit kann Momente überdauern und sich in das Leben sägen wie der scharfe Rand von Papier. Boris lenkten seine Schritte zu einem Haus in Tox Tath, einem Stadtteil in Liverpool. Regenschlieren lagen noch auf den Ehrfurcht gebietenden Gebäuden. Sturm hatte die Nacht befruchtet an einem Oktobermorgen. Ein Oktober war es wie in Kindertagen und Häuschen wie Schokolade schmiegten sich in eine Landschaft wie in einer Spielzeugeisenbahn. Ein Passant kreuzte dann und wann seinen Weg, als er die Croxteth Road entlang schlich. Bäume lagen auf Ziegelmauern in Kakaobraun, von den Orkanen der vergangenen Wochen entwurzelt. Stille breitete sich auf den Straßen aus. Diese Stille erinnerte Boris an die Gleichförmigkeit, mit der der Ganges die Verstorbenen in die Mangrovenwurzeln schwemmt.

Der Reisende betrat den Hof des Hauses. Seine Blicke wanderten von verbrannten Stühlen zu verschmorten Plastikpuppen, Müllstücke waren auf der Erde geschmolzen. Etwas ruhte in diesem Haus, in diesem Hof. Die Fenster aus der Kolonialzeit waren zerbrochen und von innen mit Pappe versiegelt. Müll lag überall, teilweise verbrannt, ein weit verstreuter Müllberg, verbrannt, als ob jemand versucht hatte, etwas zu beseitigen. Dieses Etwas hatte in Boris eine Hemmung ausgelöst, den Hof zu betreten. Er wusste nicht, was es war, noch nicht. Er fühlte, wie seine Wahrnehmung sich veränderte, eine Erkenntnis ließ ihn zurückschrecken. Deshalb ging er zurück zu dem Hotel in der Croxteth Road, in dem er mit seiner Schwester, ihrer Freundin und ihrem Freund Domizil gefunden hatte.

Kurze Zeit später saß er mit Malcolm, seinem Gastgeber im Zimmer und trank Tee. Sie hörten leise britische Popmusik. Die Straßenkälte von Tox Tath blieb draußen. Cristopher, der Freund von Boris Schwester, sortierte die Schätze, die er sich in einem Laden gekauft hatte, in dem alles ein Pfund kostete. Boris rauchte eine Gitanes, wusch sich die Hände, ohne den Müllberg auf dem Hof zu vergessen.

Die Nacht in Tox Tath hat einen eigentümlichen Reiz. Der Schrei eines Säuglings erschillt dann und wann. Man hört, wie er stirbt. Jugendliche kontrollieren die Dunkelheit, Kinder von schwarzen Vätern und weißen Müttern,. Die Mütter leben von Sozialhilfe, und die Väter sind nach Nigeria geflohen. Mehr Rassisten gibt es in England wohl nirgendwo als unter der weißen Bevölkerung Liverpools. Viele aus der Black Community hassen die Weißen. Die Mulattenkinder bezeichnet man als Bastarde und verabscheut sie. Diese Kinder schießen in der Nacht aufeinander. Diese Nacht ist anders. Hier gibt es Straßen, deren Atem drückt. Es braut sich zusammen, wenn Kinder sich um Telefonzellentrümmer scharen und Steine auf Autos werfen.

Ein Wind liegt in der Luft, ein Hauch, der sich zum Sturm entfaltet. Er braut sich zusammen, dann zerstirbt er, bis der Tag die kleinen Kämpfer in ihre Behausungen drängt. Ihre Sucht wartet auf die nächste Nacht, in der der Wind erneut den Duft von Mülltonnenfeuern in sich trägt. Die Kälte einer neuen Nacht bricht hervor, erweckt das Leuchten in den Augen der Raubkinder, die das AK-47 als ihren Freund ansehen.

Es war einer dieser Tage. Malcolm kochte Kaffee, Boris aß zu Rollen gepapptes Weißbrot mit Cheddarkäse. Die Uhr zeigte Mittag, es hatte aufgehört zu regnen. „ My hands are the killer that confirm my fears. “ An diese Zeilen der Gothic-Rock Band Cristian Death dachte Boris, als er nach dem Essen im Bus zum City Center fuhr. Eine Frau hustete neben ihm auf dem Sitz, und Wolken hatten die Stadt bereits am frühen Nachmittag in das Licht einer fast stofflichen Dämmerung gehüllt.

Boris traf sich mit seinen Freunden, denen aus Hannover und denen aus Liverpool, im Cafe Tobac in der Bold Street. Die Tische leuchteten fast, gestrichen in Blaulack, die Leere des Raums beunruhigte ihn. Eine Marokkanerin servierte Mocca. Es lag in der Luft. Boris fühlte sich, als ob er sich in diesem Hof infiziert hatte, infiziert mit Zerfressenem. Er fühlte etwas in sich zappeln, so als ob er Blatternviren eines Leichnams in sich trug. Boris betrachtete Postkarten, die er seinen Freunden in Hannover schicken wollte. Eine zeigte die Docks von Liverpool, eine Kathedrale, eine dritte zeigte in brillanter Darstellung das Sternzeichen Skorpion. Ein roter Skorpion kroch über einen Sumpf. Die Karte trug die Inschrift: „ Red is not the color of innocence. „ Boris schluckte. Er dachte an die Geschichte „ The Masque of the Red Death“ von Edgar Allan Poe, an die Unentrinnbarkeit vor dem Elend. Er fühlte sich wie eine Maske des roten Todes, wie in einem Märchen, dessen Schrecken bevorstand.

Malcolm hatte Boris die gefährlichste Straße gezeigt. Passanten gingen vor den Fenster vorbei, Weiße und Schwarze, Pakistanis, Inder, Nigerianer und Scallies, Schläger weißer Hautfarbe. Scallies waren stolz darauf, dass sie schnell ein Messer in der Hand hielten und zustießen. Einer hatte einem Kumpel von Boris Schwester in einer Telefonzelle den Hals aufgeschnitten, weil der seiner Meinung nach zu lange am Telefon hing.

Kurz nach sechs begann die Nacht. Sie saßen im Hotel, und die Musik aus der Anlage übertönte zögernd die Sirenen. Glashausfassaden krachten, Fenster splitterten, Zweige zitterten im Wind. Hass und Verzweiflung trieb ungewollte Kinder, Häuser anzuzünden und ihre Wollust in Lieder vom Tod zu kleiden. Boris spürte, dass es etwas gab, das sich in halbverkohlten Müllbergen des dem Untergang geweihten Stadtteiles verbarg. Was stand hinter diesem Sirenenheulen? War das eine Art Seele, Antrieb oder Kern des Ganzen? Es konnte nicht nur die Sozialisation der Kinder sein. „Ist es möglich, dass Hass, Angst, Chaos und Verzweiflung eine Manifestation erfahren?“ fragte er sich. „Dass etwas entsteht aus dem Sterben der Leidenschaft und der Abtötung des Lebens?“ Musik beruhigte ihn. Autos fuhren am Fenster vorbei. Er dachte an den Müllberg. Als ob jemand versucht hätte, Unheil zu beseitigen.

„Warum ist Müll halbverbrannt? Zur Hälfte ganz?“ Er schwitzte und blickte nach draußen. Die Nacht kroch wie ein Insekt. Wie Insekten schwärmten diese Kinder aus auf ihrer Suche nach Opfern. „Wem bringen sie Opfer? Sind es Opfer für ihren Hass? Sind es Opfer für ihre einsame Grausamkeit?“ Das fragte sich Boris, und es drängte ihn, der Sache auf den Grund zu gehen.

Es ist in Tox Tath Brauch, nachts in Gruppen zu gehen oder zu Hause zu bleiben. Auch die freundlicheren Bewohner erzählen, dass die Straßen Mord getrunken haben. Sie wissen, dass ein Menschenleben weniger zählt als an anderen Orten. Die schwarzen Ausgestoßenen hatten in Riots ihren Hass auf die Unterdrücker entfesselt. Der Stadtteil hatte in Flammen gestanden. Liverpool liegt in Armut danieder, die Häuser restaurierte niemand. Die Armen hausen in Gebäuden, denen Fenster fehlen, in Wunderfassaden, deren Dachziegel die Innenhöfe bedecken. Säuglinge sterben an Unterernährung, alte Menschen an Lungenentzündung. Verzweiflung springt in die Augen. Kinder wachsen auf toten Straßen auf und lernen zu töten, zu überleben, lernen zu sterben. Denn sterben können sie schnell.

Boris saß in der Badewanne mit dem Dreckboiler. Er sinnierte, heute Nacht zu dem Hof zu gelangen. Denn seine Schwester und ihre Freundin fanden es verantwortungslos, im Dunkel auf die Croxteth Road zu gehen. Er musste seine Unternehmung heimlich durchführen. Er legte sich neben seiner Schwester ins Bett, las in einem Buch über die Sklaverei-Ausstellung im Liverpool Museum, wartete, bis sie das Licht ausknipste und tat, als würde er schlafen. Boris hörte ihr Atem ruhiger werden. Der Geschichtsstudent schlich sich zur Treppe, wo Hose, Pullover und Jacke in ihrem Versteck lagen und ging zur Vordertür. Er huschte vorbei an der knorrigen Eiche, die die Silhouette eines Gorillas anzunehmen schien, trat auf die Croxteth Road. Eiswind strich um Boris Ohren. Stille lag über dem Viertel, weit entfernt klang Motorenlärm. Kein Mensch war zu sehen. Boris hastete die Mauer am Friedhof entlang, deren Schieferplatten im Laternenschimmer der Dunkelheit in der Farbe von Kaffee leuchteten. Er liebte die Kälte des Spätherbstes. Hier hatte er Angst. Der Frost schien die Angst zu unterstreichen. Die Nacht schien dem Strich das Lineal zu geben, auch wenn sein Kopf dadurch klar blieb. Boris ging schneller, denn er fühlte sich beobachtet.

„Vielleicht hätte ich im Bett bleiben sollen,“ nuschelte der Student in seinen Dreitagebart. Weiße mochten die Kids nicht und Studenten aus der Mittelschicht, die Gefahr schnupperten, noch weniger. Die Kinder hatten sich nicht freiwillig entschieden, in Verfall zu leben.

Boris hatte es noch nirgendwo krachen gehört, das machte ihn unsicher. Hatten die Killerkinder ihn bemerkt? Er versuchte, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Er war ein Mensch, der nachts über die Straße ging und nicht der Mittelpunkt eines Universums. Die Gangs hatten untereinander genug zu tun. Aber die Straße öffnete sich zu weit. Er stand im Nebel, ein dunkler Fleck. Ein Räuber auf Beutesuche hätte ihn als Feuer leuchten sehen. Er hatte noch nicht einmal eine Mülltonne gesehen, hinter der er sich hätte verstecken können. Kein Busch würde ihm Deckung bieten, wenn Kids mit Abzügen ihrer Maschinenpistolen spielten. Boris Knie erweichten.

Er lehnte sich an eine Mauer, blickte auf Raureif und drehte sich eine Zigarette, atmete den Rauch ein und begutachtete die Szenerie. Es waren nur hundert Meter bis zu dem Hof. Die Straßen, in denen die Hauptkämpfe stattfanden, lagen auf der anderen Seite eines Parks, der hinter dem Hof begann. Gefahr konnte ihm kaum drohen, Killer hielten sich selten in der Croxteth Road keine Killer auf. Das hatte ihm seine Schwester erzählt. Die Kindmörder umkämpften ihre Reviere heiß, und es schien unwahrscheinlich, dass sie zum Freizeitspaß auftauchten. Sein Gefühl sagte anderes. Er hatte Angst. Der Student verspürte Angst vor einer Bedrohung, die über eine Faust im Gesicht hinausging. Es war, wie eine Hand, die sich in den Unterleib bohrt, die Innereien verknotet und durch den Mund hinausschiebt. Es war, als ob diese Hand bereits in ihm war. Er lief nicht weg vor dem, was ihm Angst machte, sondern ging darauf zu, ein Mechanismus, der in der Konsequenz fast immer fatale Auswirkungen zeigt.

Nicht er ging, sondern etwas trieb ihn, es fühlte sich an wie Nackenschläge. War er das? Ein Sklaventreiber im Hafen von Liverpool, der seine schwarze Ware auf den Markt treibt, zum Zentrum des Verkaufs, zum Fleischmarkt? Boris wollte dagegen ankämpfen. Es war zu spät. Die Läden in der Bold Street präsentierten Horrorliteratur. Nun merkte er es, dass die Beschäftigung mit dem Verborgenen eines realen Kerns nicht entbehrte. Boris trieb die Angst vor der Angst in die Angst.

Er erinnerte sich an die Postkarte, auf der ein roter Skorpion über einen Sumpf kroch. Boris dachte an den Stachel des Skorpions, an Afrika, an den Pandinus Imperator. Rot sollte nicht die Farbe der Unschuld sein, das Blut, das die Kinder Nacht um Nacht vergossen, die Angst und Einsamkeit, die sich in Grausamkeit kanalisierte. Boris zitterte, Fäulnis tranken sie wie der Sumpf auf der Postkarte, die Kinderseelen. Boris kippte, Erkenntnisse kollabierten. Wie Skorpione erschienen diese Kinder. Der Skorpion. Das Tierkreiszeichen, das über Kloaken kriecht, sticht und tötet. Das Sinnbild für ein Menschmonster im Überlebenskampf. Er hatte sich zu lange mit Astrologie beschäftigt. Der Skorpion brach das Tabu, erforschte die Perversion, reiste in die Unterwelt. Die Angst bekam in ihm und außerhalb von ihm die Oberhand, Boris wusste, was Kinder trieb. Der Skorpion musste es sein, sie brachten dem Stachel ihre Opfer. Eine Kreatur stach in Selbstzerstörung, während sie auf dem Absinth unter der Oberfläche dieser Kloake kroch. Ein Skorpion musste es sein, ein Menschskorpion. Es trieb ihn. Er raste auf den Hof zu, zwischen Gruppen von Gangkindern hindurch, vorbei an Minderjährigen, die eine Ratte mit Stricknadeln spickten, bis er zum Zentrum des Sogs kam.

Der Müll auf dem Hof phosphoriszierte. Die Leiche eines amerikanischen Touristen lag aufgedunsen zwischen den Plastikstücken, kenntlich an den Nike-Turnschuhen. Kinder von schwarzen Vätern und weißen Müttern standen um den Kadaver herum und hatten einen Singsang angestimmt. Angst und Hass hatten sich in Fleisch aus Chitin gehüllt. Ein Wesen mit dem Unterleib eines roten Skorpions und dem Torso eines Menschen kroch über den Abfall, die Augen schwarze Kugeln, die Hände mutierte Zangen. Die Kinder traten zur Seite. Der Menschskorpion kam zur Leiche. Boris Körper vibrierte. Das Geschöpf bog den Chitinschwanz. Er fiel nieder, Schemen tanzender Trommelkämpfer schlangen ihn in den Äther, der Nacken verkrampfte sich und die Gefühllosigkeit lähmte seinen Leib.

Dies geschah vor Tagen. Es erschien Boris wie ein Traum aus Schrecken in diesem Schrecken der englischen Städte. Ein Traum dachte er, saß in der Badewanne und starrte auf den Dreck im Spiegel. Woher kam die schwarze Stelle an seinem Becken, die aussah wie ein rundes Muttermal? Woher stammten die Spinnweblinien, die sich als Stern um einen Kreis auf seiner Haut ausbreiteten? Warum schallte der Klang seines Herzschlags lauter?

„ Boris, hast Du die Geburtstagskarte losgeschickt?“ rief seine Schwester Nadja. Er blickte auf die Karte mit dem roten Skorpion, die auf der Ablage unter dem Spiegel platziert war.

„ Hätte die nicht vorher Geburtstag haben können?“ Er grummelte.

Was bedeutete dieses Stechen, Der Wahnwitz zerrte wie Gift in der Nackenhaut und dämpfte jede seiner Bewegungen? Er blieb im Bett liegen. Boris verließ das Hotel in der Nacht, denn er hatte sich ein Klappmesser gekauft und das Kind weggeworfen, das Kind, das er selbst war. Der Tanz begann, man hatte ihn eingeladen und er hatte angenommen.

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Historiker, Dozent, Publizist