Yeti - Kam der Schneemensch aus dem Regenwald?

Yeti - Kam der Schneemensch aus dem Regenwald?

Mythen ranken sich um den Yeti, den Schneemensch des Himalaya. Forscher untersuchen Riesenspuren in der Form von Menschenfüßen. Der Bergsteiger Reinhold Messner meinte, dass es sich um Tibetbären handle. Andere sehen im Yeti ein Fabelwesen, eine Projektion menschlicher Ängste vor der Einsamkeit, Kryptozoologen suchen nach einer realen Kreatur. Einige Forscher vermuten, dass der prähistorische Gigantopithecus, ein Menschenaffe von enormen Ausmaßen, überlebt hat und als Yeti umhergeht.

Der erste Erklärungsstrang geht davon aus, dass es sich beim Yeti und anderen Wesen wie dem russischen Almas oder dem amerikanischen Bigfoot um Relikthominiden handelt, um Spezies, die weiter entwickelt sind als die Menschenaffen und ein eigener Zweig der Evolution. Die zweite Vermutung ist psychologischer Natur: Der Affenmensch symbolisiert die Grenze zwischen Natur und Kultur im Menschen und ist deswegen kulturübergreifend als Symbol verbreitet. Die dritte These, und um die geht es hier, sieht reale Tiere als Vorbild für den Mythos vom Affenmenschen.

Ein „Mensch“ nicht des Schnees, sondern des Waldes ist bekannt. Der Waldmensch, malayisch Orang-Utan. Wir kennen ihn heute als intelligenten Menschenaffen. Die Europäer des 19. Jahrhunderts waren anderer Meinung. Satyr nannte ein Wanderzoo einen der ersten in England ausgestellten Orang-Utans; “ein furchtbares Waldgespenst” schrieb 1893 ein gewisser Volkmar Müller, als sähe er ein Fabelwesen, keinen Affen. Ein Zusammenhang zwischen Yeti und Orang-Utan erscheint heute absurd, der eine lebt in der Kälte des Himalaya, der andere in der Regenwaldhitze Sumatras und Borneos. In historischer Zeit schwangen sich Orang-Utans aber durch die Baumwipfel des indochinesischen Festlandes und Südchinas. Auch die Menschen in Vietnam und Kambodscha kennen ihre “Affenmenschen.”, den ngui rung. Die Nordgrenze des historischen Verbreitungsgebietes des Orang-Utans ist von der Südgrenze des Yeti-Mythos, Bhutan, für Asien kulturell und geografisch einen Katzensprung entfernt. Tibet und Bhutan, die Schwerpunkte der Yeti-Sichtungen liegen an der Schnittmenge zwischen China und Indien. Die Mythologie Tibets kennt weiße Löwen, die die Schneestürme begleiten sollen. Löwen gab es im Himalaya eben sowenig wie Orang-Utans, im indischen Tiefland sehr wohl. Warum sollte eine chinesische Tierart nicht genauso in die tibetische Mythologie eingegangen sein wie der indische Löwe. Der Buddhismus und mit ihm der tibetische Lamaismus drang in der Zeit des Mittelalters von Indien nach China ein; Träger der Überlieferung in der Feudalgesellschaft Tibets waren die Lamas. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung sind Analphabeten - bis heute.

Symbolische Aspekte des Yeti

Yetis und andere „wilde Menschen“ personifizieren die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur – so manche Psychologen. Der Affenmensch der Wildnis ist so der Aspekt menschlicher Triebhaftigkeit, der Teil seines Unbewussten, der das Tierische im Menschen zur Geltung bringt. Auch das Mittelalter Europas ist reich an „wilden Männern“. Diese leben zum Beispiel mit dem Einhorn zusammen oder entführen Menschenfrauen. Sie erinnern an die Silene, die Faune und Satyrn der Mythologie Griechenlands, an die halbmenschlichen Wesen, die im Gefolge der Naturgötter umherstreifen. Diese, aber auch die wilden Männer der Alpen sollten Frauen nachstellen und sich berauschen. Man kann diese Sichtungen als Halluzinationen erklären, hervorgerufen durch die Einsamkeit der Wildnis des Himalaya, Höhenluft oder Schneetreiben, oder als Spinnerei und Bergsteigergarn. Der Theorie des Psychologen C.G. Jungs zufolge handelt es sich dabei um psychische Archetypen der Ungezähmtheit.

Mit diesem Modell könnte man aber auch Tigersichtungen als Ausdruck von Archetypen erklären – der Tiger gilt in der Traumsymbolik als Triebkraft, die außer Kontrolle gerät. Der menschliche Animismus, die Vermenschlichung der Naturkräfte ist weit verbreitet. Der Yeti könnte eine Art Wendigo sein, so der Name des indianischen Wintergeistes. Er könnte ein Symbol für die Gebirgsregion sein wie Jaguar und Schlange bei Regenwaldindianern Wald und Fluss symbolisieren. Tiger, Jaguare und Schlangen gibt es aber als Tiere aus Fleisch und Blut.

Über Menschen, die wirklich etwas sahen, sagt also der psychische Archetyp wenig aus. Einige „wilde Menschen“ stellten sich als real heraus. Berichte von behaarten Monstermenschen im Virunga-Gebirge entpuppten sich als Berg-Gorillas; der Orang-Utan heißt eben auf malayisch Waldmensch. Hannos Bruder Hannibal beschrieb Gorillas in der ersten überlieferten Darstellung als eine Art wilde Menschen. Noch Biologen des 20. Jahrhunderts bezeichneten Schimpansen und Orang-Utans als Satyre und Pane –nach Halbmenschen der Antike.

Heutige Yetisichtungen

Die Orang-Utan Theorie hat eine Schwachstelle. Heute und in jüngster Vergangenheit berichten zahllose Augenzeugen von Yetisichtungen. Auch wenn man die Erfindungen berücksichtigt, bleiben immer noch diejenigen über, die etwas gesehen haben. Dieses Etwas ist in den heutigen Kälteregionen des Himalaya kein Orang-Utan. Für die Theorie eines kälteangepassten Menschenaffen fehlen Anhaltspunkte; im Prinzip könnte es eine solche Form zwar geben, doch halte ich dies für sehr unwahrscheinlich.[1]

Reinhold Messner stellte die These auf, dass es sich bei dem Yeti um den tibetischen Braunbären handelt, eine Art „Meister Petz“ mit menschlichen Charakterzügen. Die Fähigkeit des Bären, sich auf seine Hinterbeine aufzustellen, sein Sohlengang, sein rundes Gesicht wirken anthropomorph – menschenförmig. Zu der Bärentheorie passen Fußspuren im Schnee. Diese Spuren können sich verformen und vergrößern, wenn der Schnee taut. Auch Bären hinterlassen Sohlenabdrücke wie Menschen oder Menschenaffen. Der Bezwinger des Mount Everest, Edmund Hillary, untersuchte 1961 Yeti-Spuren und kam zu dem Ergebnis, dass es sich um gewöhnliche Tierspuren handle. Ein „Yeti-Skalp“ in einem Kloster entpuppte sich als Fell eines Serau, eines Verwandten der Gämse.

Fragen bleiben offen. Können die Sherpas, die die Fauna Tibets kennen, einen Bären wirklich nicht von einem „Affenmenschen“ unterscheiden? Ist vom Kaukasus bis in die Mongolei der Bär vermenschlicht worden. Unwahrscheinlich wäre das nicht: In den nordischen Mythen konnten Krieger die Kraft von Bären annehmen – sie waren Berserker. In Europa gibt es zahlreiche Geschichten von „Bärensöhnen“. Das waren Menschen, die unter Bären aufwuchsen und besondere Kräfte erlangten. Etwas sträubt sich gegen die „Meister Petz“- Theorie. Die Yetis, Almas, die Bigfoots und Sasquatch sind als eigenständige Figuren überliefert, in ganz unterschiedlichen Kulturen. Es gibt im Verbreitungsgebiet der Affenmensch-Erzählungen Märchen über Bären.

Auch andere Affen kämen als Vorbild für den Yeti-Mythos in Frage. So kommt der erst 2004 beschriebene Arunachal-Makak an den Hängen des Himalaya vor. Es handelt sich um eine der größten Makakenarten mit langem Fell von dunkelbrauner Farbe. Zwar bewegt er sich auf vier Beinen, beim Sitzen oder auf weite Entfernung hat er durchaus etwas dem Menschen ähnliches. Arunachalmakaken sind sind nur aus einem kleinen Gebiet im Nordosten Indiens bekannt, aus Wäldern zwischen 2000 und 3500 Metern Seehöhe. Sie sind tagaktiv und halten sich vorwiegend am Boden auf. In der Schneeregion des Gebirges lebt er nicht, aber doch nahe daran. Seine engsten Verwandten, der Assam- und der Tibetmakak leben ebenfalls im Einzugsgebiet des Yeti-Mythos.

Ausblick

Der kulturhistorische Hintergrund gibt Indizien für die Yeti-Figur. Eine hinreichende Erklärung bietet er nicht. Erzählungen über affenmenschliche Wesen existieren vom Kaukasus bis nach Sibirien und entlang der Gebirgsketten in Kanada und den USA. Almas, Mihgyur, Almasty, Bigfoot und Sasquatch sind nur einige der Bezeichnungen für diese Wesen. Man könnte mit Messner argumentieren, dass überall in diesem Gebiet der Braunbär vorkommt, auch andere Tiere kommen als Vorbild in Frage. Dabei ist die Vorstellung absurd, dass jemand einfach etwas sieht und dass daraus direkt ein Yeti entsteht. Erst innerhalb der jeweiligen kulturellen Tradition und in Erzählungen entwickelt sich aus Tierbeobachtungen und den Innenbildern der Psyche  „eigenständige“ Mythenfigur. Der Yeti ist vermutlich ein halbreales Mischwesen, in dem Beobachtungen einer oder verschiedener Tierarten in den Erzählungen zu einer neuen Kreatur verschmolzen.


[1] Neben unzähligen Spinnereien, Spekulationen und Fantasievorstellungen gibt es auch seriöse Untersuchungen, die die Existenz von Relikthominiden für real halten. Hier sind vor allem die Studien von sowjetischen Wissenschaftlern zu nennen, die Dimitrij Bajanow zusammenfasste. Dimitri Bajanow: Auf den Spuren des Schneemenschen, in der deutschen Übersetzung Stuttgart 1998. Die sowjetischen Wissenschaftler sind auch deswegen interessant, weil sie strikt naturwissenschaftlich positivistisch Mythenwesen der Folklore wie die Rusalkies als biologische Spezies interpretieren, ein interessanter Ansatz, der aber Schwachstellen hat: So fließen in dem Glauben an den Sumpfmenschen Louisianas indianische und europäische Fabelwesen zusammen.

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Historiker, Dozent, Publizist