Menschen und andere Tiere
Rezension Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.)
Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen
Krähen stellen Werkzeuge her, um Maden zu angeln, Schimpansen erkennen sich im Spiegel, Elefanten trauern um ihre Toten, Gorillas entwickeln Traditionen. Die, laut Noam Chomsky, angeborene menschliche Grammatik erscheint als letzte Bastion der menschlichen Einzigartigkeit. Vom planvollen Handeln über den Werkzeuggebrauch, vom Bewusstsein, ein Selbst zu haben, von Hineinversetzen in einen Anderen bis zur sinnvollen Anwendung von Symbolen verwischt die Grenze zwischen Mensch und Tier. Darwin löste einen Aufschrei aus, als er erkannte, dass Menschen aus Tieren entstanden und Arten veränderbar sind. Im Darwin-Jahr 2009 rückte die Bedeutung der Evolution für das Bild vom Menschen und das Mensch-Tier-Verhältnis in die Öffentlichkeit. Der Philosoph Peter Singer stieß 1975 mit „Animal Liberation“ und der Forderung nach Menschenrechten für die großen Menschenaffen die Debatte um Rechte für Tiere an.
Über die Kritik am Mensch-Tier-Verhältnis herrscht in der Öffentlichkeit meist Unklarheit. Mit „Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen“ ist beim transcript Verlag Bielefeld ein Sammelband zu dieser Debatte erschienen, der bewusst Partei ergreift. Der Ausgangspunkt ist, dass Probleme erst durch das Beziehen eines Standpunktes in den Fokus rücken; die Kritik an der Menschenzentriertheit, dem Anthropozentrismus vergleicht der Arbeitskreis insofern mit dem Klassenkampf bei Marx und der feministischen Debatte. Speziesismus als Konstruktion der Ungleichheit zwischen „menschlichen und nichtmenschlichen Tieren“ wird als Herrschaftskonstrukt wie Rassismus und Sexismus erörtert. Dabei führt die Einleitung in die Philosophiegeschichte des Mensch-Tier-Verhältnisses ein.
Die Beiträge stehen der Tierbefreiung nahe, sind aber interdisziplinär. Der Soziologe Sven Wirth fragt, ob die Machtkonzepte von Foucault auf das Mensch-Tier-Verhältnis anwendbar sind. Der Ethnologe Markus Kurth setzt sich mit Artikulationen der Tiere auseinander. Die Historikerin Mieke Roscher zeigt die Möglichkeiten einer Geschichtsschreibung der Tiere und untersucht die bildliche Selbstdarstellung der Tierrechtsbewegung. Der Sozialwissenschaftler Andre Gamerschlag plädiert dafür, den Ansatz der Tripple Oppression, also der Verbindung zwischen Klassenwiderspruch, Sexismus und Rassismus auf eine Unity of Oppression auszudehnen, die das Mensch-Tier-Verhältnis erfasst. Er bezieht sich dabei auf Intersektionalität, die Verwobenheit von Ungleichheits- und Machtbeziehungen. Dazu zählt er nicht nur die Tötung und Ausbeutung von Tieren, sondern auch die Abwertung von Menschengruppen über das Konstrukt Tier. Die Politologin Sabine Hastedt skizziert die Gemeinsamkeit zwischen der Konstruktion der Geschlechter-Bipolarität und der entworfenen Andersartigkeit von Mensch und Tier. Die Politikstudentin Swetlana Hildebrandt ergänzt diesen Ansatz durch eine Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnisses aus Queer Perspektive. Die Politologin Andrea Heubach verbindet Tierrecht und Sexismuskritik und kritisiert sexualisierende Muster innerhalb der Tierrechtsbewegung. Die Philosophin Aiyana Rosen widmet sich der Zeitgeschichte der Tierbefreiung vom Protest von 1980-1995. Mehrere AutorInnen schließen die Anthologie mit einem Beitrag über die Verbindung zwischen Hardcore-Musikszene und Veganismus. Der Schwerpunkt liegt auf Geisteswissenschaft.
Die Klärung des Standpunktes in der Einleitung ist wissenschaftlich redlich: Der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner wies darauf hin, dass das Verschleiern der eigenen Parteilichkeit hinter angeblicher Objektivität eine Mogelpackung ist, nicht aber ein offen gelegter Ansatz. Wichtig ist die Kritik am Dualismus, der, in der Tradition von Aristoteles, Tiere und Menschengruppen als voneinander getrennt konstruiert und sie auf- und abwertet. Dabei zeigen die AutorInnen im Detail auf, wie sich die Konstruktion und Abwertung des Tieres als das „Andere“, das „Unvernünftige“, das „nur Fühlende“ als roter Faden durch die abendländische Definition des Menschen zieht. Von Aristoteles bis zu Hobbes und von Descartes bis zu Kant und Heidegger ist die prinzipielle Grenze zwischen Mensch und Tier Grundlage von Theorien. Die AutorInnen schließen sogar, dass die konstruierte Zweiteilung zwischen Mensch und Tier das zentrale Element des abendländischen Dogmas darstellt. Und dieses Dogma stellen sie radikal, von der Wurzel her, in Frage. Der Fokus auf das Mensch-Tier-Verhältnis aus dem Blickwinkel der Tierbefreiung ist als geisteswissenschaftlicher Diskurs bis auf Ausnahmen wie das von Susann Witt-Stahl herausgegebene „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“ eine Pionierleistung. Die AutorInnen schaffen damit den Schritt in die wissenschaftliche Debatte statt „aus der Szene, für die Szene“ zu schreiben.
Eine Kritik am abendländischen Tierkonstrukt ist ein mutiges Unterfangen. An Säulenheiligen wie Aristoteles zu kratzen, dürfte massive Gegenwehr hervorrufen. Die Kritik ist wichtig, richtig und notwendig: Eine Legitimation für Völkermord und Kolonialismus, vom Christentum über die Versklavung Afrikas bis hin zum Nationalsozialismus war die Kennzeichnung der „Anderen“ als Heiden, Barbaren und Wilde, also als tierhafte Menschen. Die Kritik am Tierkonstrukt ermöglicht nicht nur, grausames Vorgehen gegen Tiere zu kritisieren, sondern Faschismus- und Rassismuskritik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Rassismuskritik erkannte die Unterscheidung zwischen höher- und minderwertigen „Menschenrassen“ als Motor, den verächtlich Gemachten das Menschenrecht abzuerkennen. In der Aufarbeitung des Nationalsozialismus kritisierte die Linke die Gleichsetzung von Menschen mit Tieren, so von Juden und Ratten. Die Trennung von Zivilisierten und Wilden ist Grundlage des Rassismus. Die AutorInnen erkennen als Fundament dieser Abwertung die Abwertung der nichtmenschlichen Tiere und stellen die entworfene Mauer zwischen Menschen und Tieren als Ideologie in Frage. Darin, diese Frage aufgeworfen zu haben, liegt die Stärke des Buchs.
Die Schwäche besteht darin, in der Kritik am abendländischen Tierkonstrukt andere Weltvorstellungen kaum zu untersuchen. Interkulturelle Philosophie wie von Franz Martin Wimmer ist wie die Kritik am Mensch-Tier-Verhältnis eine Pionierwissenschaft. Der „Mythos vom Zivilisationsprozess“ Hans Peter Duerrs wäre ebenso zu berücksichtigen wie das philosophische Konzept von „Mutter Erde“ amerikanischer Kulturen, das dem Dualismus diametral gegenübersteht. Aristoteles Mauer zwischen Mensch und Tier richtete sich explizit gegen Kulturen, die sich nichtmenschlichen Tieren verbunden fühlten und versuchten, diese Verbindung durch Rituale herzustellen. Heide, Barbar, Savage, Wilder bezeichnete die, die Tiergeister verehrten; bei Jägern und Sammlern bedeutet, zum Leopard oder Wolf zu werden, nicht weniger, sondern mehr als ein Mensch zu sein. Die Auseinandersetzung mit Kulturen, die Tiere als Partner, Freunde und sogar Lehrer betrachteten, gehört zum Mensch-Tier-Verhältnis dazu. Andre Gamerschlag setzt sich zum Beispiel mit diskriminierenden Vertierungen wie „Freiwild“ auseinander, erörtert ehrende Tierbegriffe für Menschen wie „schlauer Fuchs“, „gemütlicher Bär“ oder „schlanke Gazelle“ aber nicht. Dabei verweist der sprachliche und bildliche Bezug auf Tiere gerade in der Allgegenwart seiner Facetten auf die Unmöglichkeit, Menschen und Tiere getrennt zu denken. Denn das Denken mit Tieren, das Lernen von Tieren ist ein Fundament der Kultur. Die Entwicklung des Tieres vom Gott zum Ding ist eine zentrale Frage der historischen Anthropologie. Der Titel des Buchs selbst verweist darauf, dass auch im Abendland das Verhältnis zum „Tier“ nicht nur abwertend ist. Das lateinisch-englische Animal leitet sich ab von Seele, Bewusstsein, Leben und belegt auch im Abendland die Wahrnehmung des Tieres als beseeltes Lebewesen mit Bewusstsein. Eine Trennschärfe zwischen negativen Begriffen vom Tier wie der Bestie und positiven wie Animal wäre wünschenswert gewesen.
Zu einer Kritik am Dualismus, der Mensch und Tier trennt, gehört eine Untersuchung des Monismus, der Tiere und Menschen als Einheit betrachtet im frühen Judentum, bei Jägern und Sammlern, den Jainiten Indiens und im heutigen evolutionären Humanismus. Zum Beispiel kannten amerikanische Kulturen, von den Inkas bis zu Indigenen Alaskas, keine undurchlässige Grenze zwischen Mensch und Tier. Im Gegenteil glaubten amerikanische Ureinwohner, dass Tiere ihre Verwandten sind. In diesem Punkt standen die zu „Wilden“ Entwürdigten den Tatsachen der Evolutionsgeschichte viel näher als das abendländische Herrschaftskonstrukt.
Darin liegt die zweite Lücke des Sammelbandes: Nichtmenschliche Tiere gehören nicht nur zur Kulturgeschichte des Menschen untrennbar dazu. Auch das Tier mit dem aufrechten Gang und dem großen Gehirn ist ein Produkt der eben nicht gesellschaftlichen, sondern biologischen Geschichte der Evolution des Lebens. Menschliche Kultur und biologische Evolution stehen im Wechselspiel. Zum Darwinjahr erschien eine Vielzahl von Veröffentlichungen über die Konsequenzen der Evolutionsbiologie für das Bild und den Begriff vom Tier. Ein Bezug auf diese Kontroverse, zumindest auf die Kritik am christlichen Dualismus von Richard Dawkins und die ethischen Konsequenzen, die Michael Schmidt-Salomon zieht, hätte die Anthologie ergänzt. Das Fehlen der Diskussion verweist darauf, dass die Kommunikation zwischen kritischer Geisteswissenschaft und Evolutionsbiologie mit Scheuklappen besetzt ist.
Allein, diese Lücken nach der Lektüre zu erkennen, verweist auf die Qualität der Beiträge. Eine Auseinandersetzung mit dem Tierkonstrukt im Abendland allein würde etliche Forscherleben füllen. Wer wissenschaftlich in kaltes Wasser springt und schwimmen lernt, hat es nicht verdient, Ohrfeigen zu bekommen, weil er sich nass gemacht hat. Als Einstieg in die kritische Auseinandersetzung mit dem Mensch-Tier-Verhältnis ist die Anthologie gut geeignet.