Man-Eater - Das Menschen fressende Tier
Wenn die Bestie den Menschen frisst
Keine Angst des Menschen ist elementarer, als die von einem Tier gefressen zu werden. Aliens von fernen Planeten, Drachen, weiße Haie oder Werwölfe – das Menschen fressende Tier ist das zentrale Motiv des Schauerromans.
Zugleich strahlt der “Menschenfresser” Macht aus, die Menschen zu allen Zeiten bewunderten: Herrscher schmückten sich mit den Fellen von Löwen, Leoparden und Tigern; die Wappen der Ritter zierten Bären, Wölfe und Adler. Heinrich, der Löwe; Richard Löwenherz oder der Wolf von Badenoch, das waren nur einige der unzähligen Namen, die sich Herrscher gaben, um zu zeigen, dass sie in den Kampf zogen wie Raubtiere. Einerseits ist das nichtmenschliche Tier dem menschlichen Tier verwandt (Geschwister), andererseits stehen sie sich fremd und feindlich gegenüber (Gegner).
Von der Beute zum Jäger zu werden, (oder vom Jäger zur Beute), ist heute die Quintessenz des Horrorfilms. Mal handelt es sich um reale und heute lebende Tiere wie ein Leistenkrokodil im Mangrovenwald Australiens in Blackwater, Komodowarane oder den weißen Hai von Spielberg; mal befriedigen Mutationen unsere Sehnsucht, gejagt zu werden: Genmutierte Haie in Deepwater, oder genmutierte Hunde in Wilderness, bizarre Genhybriden in Frankenfish. Ausgestorbene Beutegreifer, die wieder erwachen, versorgen uns ebenfalls mit Nervenkitzel: Dinosaurier in Jurassic Park, Riesenhaie in Megalodon oder Säbelzahntiger.
Unsere Vorfahren trafen vor zehntausenden Jahren auf Beutegreifer, denen gegenüber die heutige Serengeti wie ein Freizeitpark wirkt. Löwen, Tiger und Leoparden, Krokodile, Riesenschlangen und Haie gab es ebenso wie heute - dazu kamen aber Megapredatoren, denen die frühen Menschen wenig entgegen setzen konnten. Die überlegene Technik, nicht Geschick oder Stärke machte uns den Tieren überlegen.
Unsere Angst, und nicht etwa Moral, macht Beutegreifer zu Monstern. Die Evolution kennt keine Moral, und der blauwalgroße Meeressaurier Lipleurodon unterschied sich von einer Amsel, die einen Wurm frisst, nur insofern, dass er an der Spitze der Nahrungskette stand.
Drachen im indischen Ozean
Drachen lebten auf Inseln im indischen Ozean – so erzählten Einheimische europäischen Reisenden. Diese Drachen sollten Büffel ebenso fressen wie Kinder. Die Europäer hielten diese Geschichten für eine Variante von Sindbad, dem Seefahrer, doch dann entdeckte die Wissenschaft den Komodowaran.
Der Komodowaran ist die gewaltigste heute lebende Echse; über drei Meter lang und viel stämmiger als der längere Papua-Waran; mit gespaltener Zunge, und einem Kopf, der an einen Raubsaurier erinnert, steht er in Komodo an der Spitze der Nahrungskette. Er frisst angeschwemmte Kadaver an den Stränden, verschlingt ebenso Ziegen, Rinder und Hirsche. Die Echse greift auch Menschen an.
Seine Methode ist ebenso primitiv wie erfolgreich. Das Maul des Reptils bevölkern giftige Bakterien. Der Waran jagt weder raffiniert noch schnell; doch er muss sein Opfer nicht töten. Ein Biss genügt, und der Drache von Komodo muss nur noch den Kadaver der vergifteten Beute finden. Dabei hilft ihm seine Zunge, die die Witterung an das Jakobsche Organ im Gaumen weiterleitet.
Auf der Insel Flores lebten die “Hobbit-Menschen”, eine Inselform des Homo Erectus, die nur so groß wurde wie ein sechsjähriges Kind. Während die Menschen auf der Insel ebenso schrumpften wie Elefanten, wuchsen die Warane auf eine Größe heran, die die des Drachen von Komodo überstieg. Begegneten sich Zwergmenschen und Riesenechsen, dann kam dies der Begegnung mit einem Drachen nahe.
Wasserdrachen
In China inspirierte der China-Alligator Drachenmythen. Die kleine Art war früher im Osten Chinas in allen großen Wasserflächen weit verbreitet. Drachenmedizin in chinesischen Apotheken entpuppte sich als Alligatorknochen und Alligatorschuppen.
Die Spanier berichteten von Drachen, deren Brüllen unerträglich gewesen sei, und die dicht an dicht in den Sümpfen Floridas lagen. Holzstiche des 16. Jahrhunderts zeigen gewundene schlangenartige Kreaturen mit Greifvogelschnäbeln und Ohren: Es handelte sich um den Mississippi-Alligator.
Der Kurzschnauzenbär
In Nordamerika ging ein monströser Verwandter des heutigen Brillenbären umher; Grizzlys erscheinen ihm gegenüber wie Jungtiere. Dieser Kurzschnauzenbär war groß wie ein Pferd; aufrecht überragte er locker einen Basketballkorb. Damit nicht genug: Selbst im Vergleich zu seiner Größe hatte er enorme Kiefer, mit denen er die Knochen von Mammuts und Mastodonten knackte. Seine riesige Nase ermöglichte es ihm, Beute auf viele Kilometer zu wittern. Die Beine waren länger als die heutiger Bären - der Gigant lief ausdauernd.
Die meisten Paläontologen gehen heute davon aus, dass der Bär sich von Kadavern der heute ausgestorbenen Mammuts, Mastodonten, Steppenbisons und Wildpferde ernährte.
Machte ihn das für unsere Vorfahren ungefährlicher, als wenn er Menschen jagte? Sie waren keineswegs nur Großwildjäger, sondern verzehrten auch Aas. Wenn sie ein totes Mammut entdeckt und Wölfe wie Geier vertrieben hatten, trat jemand auf den Plan, bei dem Flucht die beste, aber oft aussichtslose Verteidigung war.
Ein einzelner Kurzschnauzenbär nahm es locker mit einem Wolfsrudel oder einer Gruppe Säbelzahntiger auf - und auch mit glücklosen Frühmenschen. Jagten die Menschen hingegen selbst, erwartete sie der gleiche Schrecken. Das frische Blut des erlegten Bisons zog den Bären an wie ein Magnet das Eisen. Manche Paläontologen meinen, dass allein der Bär die Besiedlung Amerikas über die Beringstraße um tausend Jahre verzögerte.
Der Grizzly- und der Eisbär lebten damals ebenfalls in Amerika, und auch sie waren für Menschen eben so gefährlich wie heute.
Große Katzen
Der Reiseschriftsteller Bruce Chatwin spekulierte, dass die Figur des Teufels, - eines durchtriebenen Einzelgängers, der jeden unserer Schritte beobachtet - seinen Ursprung in Menschen fressenden Katzen hat.
In Amerika ging außerdem Smilodon umher, der Säbelzahntiger. Dem Tiger stand er ebensowenig nahe wie Leopard und Löwe, doch er erreichte dessen Größe. Allerdings war er viel schwerer. Seine riesigen Zähne eigneten sich nicht, um Knochen zu zerbeißen. Er schlug sie seinen Opfern anscheinend ins Genick oder in die Kehle; dann riss er den Unterleib auf und verschlang die Innereien. Smilodon war vermutlich ein Schlüssel in der Nahrungskette, denn er hinterließ den Großteil der Kadaver für die anderen Fleisch-, Aas-, und Allesfresser, darunter den Kalifornischen Kondor und seine noch gewaltigeren Vorfahren.
Damit nicht genug, lebten in Amerika auch noch Säbelzahnkatzen. Die waren zierlicher als Smilodon, und ihre Zähne kürzer, aber immer noch länger als die heutiger Großkatzen. Diese Säbelzahnkatzen waren schnelle Jäger.
Löwen, Tiger und Leoparden töten heute noch Menschen. Meist handelt es sich um alte und kranke Tiere, die ihre bevorzugte Beute nicht mehr reißen können. Man-Eater unter den Tigern humpelten, hatten Schusswunden überlebt und diverse andere Behinderungen.
Doch die Tiger der Sundarbans, einem Mangrovendelta am Golf von Bengalen töten jedes Jahr über hundert Menschen. Hier greifen sie den Menschen als Beute an. In den Sundarbans leben über fünfhundert Tiger und damit die größte Population der vom Aussterben bedrohten Katze auf der Welt.
Die Tiger der Sundarbans lernten Menschen nie als Gefahr kennen, im Gegensatz zum “zivilisierten” Indien. Das Delta ist die letzte große Wildnis Südasiens. Holzfäller und Honigsammler, die sich in die Mangroven wagen, sind eine leichte Beute. Nicht der Tiger dringt in die Sphäre des Menschen ein, wie die Katzen, die sich anderswo an das Vieh der Bauern anschleichen, sondern der Mensch betritt das Reich des Tigers.
Rudyard Kipling setzte in seinem Dschungelbuch dem Tiger ein Denkmal als Feind des Menschen. Shir Khan heißt Großkönig Tiger, und der duldet in seinem Dschungel keinen Menschen. Shir Khan ist ein klassischer Man-Eater. Er hinkt, und sein einziger Verbündeter ist der stinkende Schakal. Im Disneyfilm wird Shir Khans Handicap nicht deutlich, doch Kipling setzte den Tiger, der seine natürliche Beute nicht mehr reißen kann, im alternativen Dschungelbuch in Szene. Hier bezwingt Mowgli mit einer Herde Wasserbüffel den behinderten Tiger, der um die Häuser der Menschen schleicht.
Haie
„Unsere Faszination für Haie reicht zurück zu jenem Augenblick, als der erste Mensch seinen Zeh ins Wasser steckte und wusste, da draußen ist etwas, das womöglich gefährlich ist. Ich hatte lange keine Ahnung, warum „Jaws“ so erfolgreich war, bis mir das klar wurde. Haie sind die Monster unserer Phantasie, und sie sind real.“ Peter Benchley
Kaum etwas ist unbekannter als das Meer. Der Anthropologe Joseph Campbell erörtert: „Die Volksmythen bevölkern jeden verlassenen Ort mit gefährlichen Wesen. Meeresgrund und fremde Länder geben freien Raum für die Projektion unbewusster Inhalte.“
Diese Projektion sprudelt im Angesicht des größten Fisches, der Großtiere jagt – bis hin zu jungen Grauwalen. Sieben Meter Länge sind für einen weißen Hai möglich. Ein solcher Riese hätte eine Bisskraft von 1,8 Tonnen und damit die größte Bisskraft aller Tiere. Ein spindelförmiger Körper und ein Revolvergebiss aus Sägezähnen formten aus dem „Menschenhai“ einen Superstar der Evolution. Er gehört zu den wenigen Haien, die (wenn auch extrem selten) Menschen töten. Die Menschen der Vergangenheit wussten über sein Verhalten sehr wenig. Verwesende Haikadaver, aus denen das Gebiss heraustrat wie eine Teufelsfratze, Riesen, die Seelöwen zerrissen wie ein Hund ein Kaninchen, tatsächliche Angriffe auf Menschen, sowie sein Element, das Meer, formten den Weißhai zum „Beleg“ für Monstermythen.
Nüchtern betrachtet ist ein Hai kein größeres Monster als eine Meise, die Raupen frisst – er steht jedoch an der Spitze und jagt zudem in einer Welt, in der der Mensch nicht zuhause ist. Elias Canetti schreibt: „Wäre das Meer nicht unerfüllbar, die Masse hätte kein Bild für ihre eigene Unersättlichkeit. (Das Meer) erinnert in seiner Wucht wie seinem Aufbegehren an ein einziges Geschöpf.“ Es „verschlingt“ in Sturmfluten ganze Städte. Der weiße Hai ist das passende Symbol für diese Macht.
Für Kuschelfantasien eignet sich der große Fisch bis heute nicht. Das ist gut so: „Bambi“ schadet Naturschutz ebenso wie der Hass auf Bestien. Der wirkliche weiße Hai lehrt nämlich nicht Panik, sondern Respekt. Peter Benchley schrieb: „Niemand ginge nur mit einem Bikini bekleidet in einen Dschungel. Wir nehmen den Ozean nicht als eine andere Welt wahr und tun so, als wäre das unser privater Swimmingpool. Es ist aber ein völlig separates Ökosystem - voller Tiere, die nur dadurch überleben, dass sie fressen.“ Die Natur ist weder eine Hölle noch ein Disneyland - und nicht der weiße Hai, sondern ein Weltwirtschaftssystem, das die letzten Ressourcen „verschlingt“, bedroht den Menschen und seine Umwelt.
Blutrituale
Warum fasziniert uns das Menschen fressende Tier? Ahlers führt aus: „Am Anfang steht die archaische Urerfahrung, in der das menschliche Tier ein Beutetier für nichtmenschliche Raubtiere ist. Und das hat gesessen, denn diese Urangst der Schutz-, Wehr- und Hilflosigkeit ist so schreckenerregend, so tiefenwirksam und so unverdrängbar gewesen, dass wir Menschen sie in Blutopferritualen bis heute dramatisch aufführen und nachspielen, um den Sieg über die nichtmenschlichen Tiere zu feiern.“
Barbara Ehrenreich zufolge verhalten sich Menschen gegenüber der Eigengruppe in Kriegszeiten in einem Ausmaß solidarisch, wie es im Frieden kaum vorstellbar ist. Sie vermutet in den positiven Gefühlen, die der Krieg auslöst die Verteidigung früher Menschengruppen gegen überlegene und Menschen fressende Tiere.
Der „Sieg“ des menschlichen Tieres forderte jedoch einen hohen Preis, nämlich die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Im Christentum und Abendland wurde das Tier Sinnbild der Unvernunft, des Triebes, des Sinnlichen und Schmutzigen. Die tierischen Impulse galt es abzutöten. Doch das Verdrängte bricht sich Bahn. Heute finden wir das Opfer an die Gottheit in angeblich notwendigen Tiermassakern für die Kosmetikindustrie ebenso wie in Schlachthöfen.
Erstveröffentlichung im Magazin NAUTILUS - Abenteuer & Phantastik, Ausgabe 135, 06/2015, http://www.fantasymagazin.de
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