Das Schwert

An einem feuchtkalten Tag, kurz nach Halloween stand ein dicker Junge im City Center von Liverpool. Der Junge hatte sich für ein Pfund ein Plastikschwert gekauft und spielte damit herum. Er stellte sich vor, dass er ein schottischer Schwertkämpfer sei und dieses kleine Plastikschwert sein Claymore. So träumte er sich durch das Dämmerlicht frühabendlicher Straßen, kam an Laternen und stolz aufragenden Kathedralen vorbei. Er ging an Pubs entlang, die von den Besitzern buntbemalt worden waren, vorbei an Buchläden, in denen Gedichtbände von Lord Byron und Short Stories von E. A. Poe Einblicke in andere Welten gaben. Der Junge träumte sich durch die Straßen - in einer anderen Stadt, in einer anderen Welt. „ [. . . ] Die Normalität von Gewalttaten war auch außerhalb der öffentlichen Räume, wie sie die Wirtshäuser darstellten, gegeben. Selbst in privaten Alltagssituationen wurden auftretende Konflikte durch außerordentliche Brutalität gelöst. [. . . ]“ Das las der Junge in einem Buch über Scharfrichter.

Ein Auto hielt an: „ Das sind toughe Guys hier Junge, die haben´ nen anderen Spleen als Du. Kann sein, dass sie das da als Provokation ansehen. “ Der Cop zeigte auf das Plastikschwert. „ Steck es ein!“ Der schottische Schwertkämpfer drehte sein Billigclaymore um und steckte es in eine Tüte, in der Plastikfrösche, eine Peitsche und Kleinkram lagerten.

Der Cop fuhr weiter, der Junge träumte und wandelte. Nach wenigen hundert Metern hatte er das Schwert wieder hervorgekramt. Unser Schwertkämpfer wanderte in die kalten Straßen des Stadtteils Tox Tath. Er schwebte zwischen König Artus und keltischen Märchen, als Schwertkämpfer, dessen Ziel der Sieg des Guten und die Bezwingung des Bösen sein sollte. Er flog durch ein magisches Universum. Es war schön in dieser Welt. Ja, so wäre er gerne gewesen, wie William Wallace oder Rob Roy oder all die Freiheitskämpfer, die er aus dem Kino kannte. Er hätte in einer Welt gelebt, in der es Rebellen gegeben hatte, die ihre Kraft aus dem Glauben an die Freiheit zogen, die ihr Wort hielten. Ohne dass unser Träumer es bemerkt hätte, stolperte er in die Nacht. Wie eine Wolke hatte sich die Nacht über Tox Tath gelegt. Der Junge aber befand sich in einer Realität, die auf Watte gelegt schien. Er dachte in etwas Anderem, er fühlte in etwas Anderem, er war in einer anderen Welt, als die Menschen, die er kannte. Er schwebte in der Wunderwelt, die den meisten Geistern der Straßen verborgen blieb. Ritter und Knappen, Kämpfer gegen die Unterdrückung lebten in dieser Welt.

Ein Doppeldeckerbus stoppte. Drei Jugendliche sprangen heraus. „ What a fuck,“ grinste der erste. „ What a shit!“ zischte der zweite. „ A sword guy? A foreign sword in our street?“ kicherte der dritte im Bunde. Ohne dass der Junge hätte verstehen können, schlug ihm der erste, ein Schmachthaken mit langen Fingern ins Gesicht. Der Junge wehrte sich nicht. Der zweite, ein Kraftpaket mit den Armen eines Orang-Utans und einem Gesicht voll Aknenarben hatte ein Springmesser gezogen, schlitzte er dem Jungen die Wange auf. Der Junge stand aufrecht.

Der dritte, ein Ausgezehrter, hielt ein Sammuraischwert in den Händen und hieb nach dem Traumjungen. Der kippte. Der Schläger riss die Klinge zur Seite und rammte sie in den Bauch. Unser Träumer taumelte und fiel zu Boden. Blut sprudelte in Fontänen aus seinem Leib. Der Mörder zog die Waffe heraus.

Der Junge starb. Das Schwert aus Plastik fiel zu Boden. Freiheitskämpfer vergessener Schlachtfelder tränkten den Himmel in Weihrauch. Das Blut des Träumers floss dampfend über das Plastik. Die Mörder lachten. Sie lachten, und im Himmel schien sich ein Licht zu bilden. Das Licht schlich sich zwischen Wolkenfriedhöfen durch die Kälte der Blutnacht. Dieses Licht traf das Plastikschwert wie ein Strahl einer verschollenen Sonne. Die Spielzeugwaffe zuckte, bäumte sich auf, die Klinge erstarrte zu Stahl. Das Schwert tanzte in der Luft. Das Spielzeug tanzte sich zur Waffe. Die Mörder grinsten nicht mehr. Ein Claymore raste durch die Nacht, trennte die Köpfe der Täter von ihren Körpern. Die flogen auf das Kopfsteinpflaster der Colgate Street. Die Köpfe reihten sich neben der Leiche ihres Opfers auf.

Ob die Geschichte glaubhaft wirkt ist zweitrangig. Doch sie entspricht der Wahrheit. Denn das Plastikschwert hängt auf der Toilette des Chronisten. Träume sterben nicht und die Freiheit kann nicht ermordet werden. Freiheitskämpfer, die ohne Schuld vernichtet werden, verfügen über Kräfte, die kein Mörder verstehen kann und kein Schläger erkennt. So steht es in den Läden geschrieben, in denen ein Plastikschwert ein Pfund kostet und für jeden Träumer erschwinglich ist. Denkt an diese Worte, sie lügen nicht. Lichter zuckten, die Nacht verwandelte sich in Finsternis und der Mond in Blut.

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Historiker, Dozent, Publizist