Schnuten und Poten

Peter Ambrosius spazierte wie jeden Abend mit seinem Hund, einem Golden Retriever namens Jano, den kleinen Weg hinter den Häusern entlang, der von den Ansässigen der Kackoweg genannt wurde, da viele andere Hundebesitzer mit ihren kleinen Lieblingen ebenfalls diesen Pfad nahmen. Die beiden kamen am Hühnerschlag des Herrn Metzner vorbei, der schwarz auf seinem Hinterhof die Schweine der Dorfbauern schlachtete. Peter wurde fast übel, als er in den Maschendrahtverhau blickte. Über einem rostigen Käfig voller Spatzen hing dort ein verwesender Schweinekopf, um den Fliegen herumsirrten. Peter schluckte und ging weiter. Bei solch einem Anblick hätte er fast Vegetarier werden können. So brachte er den Hund nach Haus, zog sich seine Dienstkleidung an, setzte sich in sein Auto und fuhr los. Momentan arbeitete er im ambulanten Pflegedienst, bei einem Spastiker, der auf einem Hof im Nachbardorf lebte.

Peter Ambrosius parkte seinen alten Ford Fiesta vor dem Reihenhaus, in dem Ralf Goffmann wohnte, verfluchte seinen Job wie jede Nacht in der Erwartung voller Windeln und schlafloser Stunden, rauchte noch hastig eine Zigarette und schloß die Tür auf. „Peter, wo bist Du? Du bist schon wieder zu spät. Das mache ich nicht mehr lange mit. Ich muß nämlich auffen Pott.“ Peter Ambrosius verdrehte genervt die Augen, setzte sein künstliches Grinsen auf, dass er sich für die Arbeit im Betreuungsbereich zugelegt hatte und betrat Ralfs Schlafzimmer. Ralf wog ungefähr 120 Kilogramm und deshalb war es immer eine enorme Anstrengung ihn in seinen Heber zu wippen. Peter Ambrosius krempelte also die Ärmel hoch, stellte sich neben das Bett und hievte Ralf in seinen mechanischen Heber, um ihn auf die Toilette zu setzen. „ Paß doch auf, Du tust mir weh,“ stöhnte Ralf, denn Peter war an das Wundgeschwür auf Ralfs Rücken gekommen.

„ Tut mir leid,“ murmelte Peter, hängte Ralf in den Heber und schob ihn in das weißgekachelte Badezimmer. Dann stellte er die Dusche an, prüfte die Temperatur des Wassers, hob Ralf in den Plastikduschstuhl, drehte sich um und wollte in das Schlafzimmer gehen, weil das Bett gemacht werden mußte. „ Du hättest mal zum Bund gehen müssen. Da hätten sie Dich richtig geschliffen.“ So tönte es mit rasselnder Stimme hinter ihm her. „ Dann würde ich Dich jetzt wohl kaum pflegen, Ralf,“ zischte Peter zurück. „Nö, aber so inner Fabrik, wo Du acht Stunden durchgehend arbeiten mußt, das wär das Richtige für Dich.“ „ Bei Dir arbeite ich siebzehn Stunden,“ konterte Peter, der inzwischen schon sichtlich wütend geworden war. „ Das ist doch keine Arbeit hier. Ich meine mal so richtig Paletten schleppen, sowas, wo Du nicht auf dumme Gedanken kommst.“ „ Die Europaletten wiegen 10 Kilogramm, Du wiegst 120.“ Dies rief Peter, während ihm Geruch verriet, dass nach der nächtlichen Dusche erst einmal der angenehmste Teil des Abends auf ihn warten würde. Er machte das Bett, wusch in der Küche das Geschirr ab, kochte Ralf seinen nächtlichen Beruhigungstee, verschnaufte einen Moment, bis er den erwarteten Kommandoton aus dem Badezimmer hörte: „Peter, wo bleibst Du denn. Ich bin schon lange fertig. Du fauler Sack. Leg Dich mal ein bißchen ins Zeug, Mann. Ich will endlich ins Bett.“ Peter holte Ralf aus dem Duschstuhl, wusch ihm den Kot aus dem After, hob ihn in den Rollstuhl, verarztete das Wundgeschwür, legte den schweren Menschen seitlich in sein Bett, setzte den Katheder an, deckte ihn zu und bereitete in der Küche das Mittagessen für den kommenden Tag für. Es sollte Schweinenacken mit Bohnen geben, denn Ralf war auf dem Lande aufgewachsen und liebte deftige Kost.

Danach legte Peter Ambrosius sich schlafen. Er schlief einige Stunden lang, dann piepte gegen 4 Uhr morgens der Wecker. „Peter komm doch endlich! Ich muß dringend auffen Pott.“ Hastig sprang der Krankenpfleger auf, denn wenn nachts etwas nicht nach Ralfs Willen passierte, rastete dieser regelmäßig total aus. Peter kam ins Schlafzimmer. „ Ich habe schon dreimal geklingelt,“ motzte Ralf. „ Langsam reicht es mir aber.“ „ Dir reicht es vor allem. Mir reicht es,“ dachte sich Ambrosius und setzte sein gekünsteltes Lächeln wieder auf, hob Ralf in seinen Rollstuhl, grinste scheinheilig und fragte: „ Darf ich Dir noch einen Wunsch erfüllen.“ „Mach noch mal einen Kaffee. Ich würde gerne einen Kaffee trinken.“ „ Damit der Kerl morgen früh wieder total unausgeschlafen ist und seine Launen an mir ausläßt,“ dachte Peter sich. „ Aber gerne doch,“ lächelte er und schwebte in die Küche während Ralf seine Wurst herausdrückte. Kaum war er angekommen hörte er es wieder. „ Peter komm noch mal, Du hast etwas vergessen.“ „ Was denn,“ fragte Ambrosius patzig. „ Du mußt erst die Penatencreme auf den Dekubitus schmieren.“ „ Aber klar doch, Ralf,“ erwiderte Peter, dessen Lächeln allmählich eine bittere Süffisanz nicht mehr verheimlichen konnte.

Nachdem er die Paste auf dem Rücken verteilt hatte, legte Peter Ambrosius sich wieder schlafen. Wenige Stunden nur blieb er liegen, bis der Wecker ihn erneut ins Schlafzimmer riß. „Was brauchst Du denn schon wieder so lange, Du Faulpelz? Mein Vater hätte Dir erstmal lange Meter eingeschenkt. Bei dem hättest Du sowas nicht machen können.“ Peter wußte zwar, wo Ralfs Ansichten ihren Ursprung hatten und inwieweit Ralfs Vater auch für den Unsinn verantwortlich war, den Ralf so von sich gab, aber das reichte leider nicht, um dies alles auf Dauer psychisch unversehrt ertragen zu können. Er holte Ralf aus dem Bett, duschte ihn, servierte das Frühstück, wusch ab, wischte die Fensterbank, fegte die Treppe und sah zu, dass er nach Hause kam, einige Stunden, bevor das Theater wieder von vorne losging.

Peter setzte sich auf den Fahrersitz seines Autos und drehte sich einen Haschtüte. Er fühlte jeden Knochen, jede Hautfaser. Seine Hände stanken nach dem trockenen Gummi der Arbeitshandschuhe. Er legte eine Cassette mit Deutschpunk ein und fuhr zugedröhnt in sein kleines Heimatdorf zurück. Peter hatte Ralf jetzt den Namen „die Kackwurstralle“ gegeben. Noch einige Stunden, ein wenig noch am Mittellandkanal umherlaufen, zum Bussardnest, bevor der Abstieg in die Hölle wieder von neuem begann.

Oft fragte Peter Ambrosius wie lange er diesen Job noch machen sollte. Selbstverständlich bewunderten all seine Freunde und Freundinnen seine Selbstlosigkeit, von der sie ja auch ein wenig profitieren konnten. Solange sie diese Arbeit nicht verrichten mußten, klang die sozialromantische Vorstellung, die mit Bekannten mit der Betreuung verbunden wurde ja auch immer ganz gut. Als hilfloser Helfer fühlte er sich trotzdem nicht, eher war er zu bequem, seinen Arsch mal dazu hochzukriegen einmal etwas ganz anderes zu tun, zum Beispiel freier Künstler zu werden, Bildhauer hatte er schon immer werden wollen. Vielleicht würde er sich irgendwann einmal dazu aufraffen können, zur Zeit auf jeden Fall nicht. Diese zeit schlich sich leider immer dann ein, wenn er gerade etwas anderes machen wollte.

Peter Ambrosius kam zu Hause an, schnappte sich den Golden Retriever, lud ihn auf den Rücksitz und fuhr mit ihm zum Mittellandkanal. Da ließ er den Hund frei laufen, blinzelte kaputt und zerschunden auf das bräunliche Wasser, schaute den Schiffen hinterher und wünschte sich, ein Binnenschiffer zu sein. Das wäre es doch gewesen, so Tag und Nacht auf einem Schiff hin- und herfahren, ohne sich ständig auf andere Menschen einlassen zu müssen, den Möwen und Krähen hinterherzuschauen und die Menschen am Ufer zu begrüßen. Peter runzelte ein wenig die Stirn. Dann drehte er sich um und ging nach Hause zurück, den Hund an der Leine kam er wieder am Garten des Schwarzschlachters vorbei. Von der Vorderseite des Grundstückes zerriß ein Quieken den gräulichverhangenen Morgen. Peter wurde fast schlecht.

Als sie ankamen, ließ er Jano im Garten laufen, gönnte sich ein Lavendelbad und versuchte, einige Minuten von seinem im Wortsinne beschissenen Job zu entspannen. Nachdem Peter Ambrosius ungefähr eine halbe Stunde in der Badewanne vor sich hingedöst hatte wollte er den Hund hereinholen. Der saß auf der Terasse.

Aber, verdammt noch mal, was war das denn bitteschön? Jano hatte ein halbes Schweinebein im Maul, den unteren Teil mit Klauen dran. Auf Peter wartete eigentlich noch eine chinesische Gemüsesuppe im Kühlschrank, doch jetzt war ihm der Apetitt vergangen. An diesem Morgen beschloß der Krankenpfleger Vegetarier zu werden. Mit großen braunen Augen blickte Jano ihn an, begeistert über seine neueste Errungenschaft. Peter sperrte Jano ins Schlafzimmer, legte das Schweinebein in den Kofferraum seines Autos, fuhr in ein naheliegendes Wäldchen und warf das Fleischstück in ein Farndickicht. Dann machte er sich auf den Weg zurück, zog seine Arbeitskleidung an und war bald wieder bei Ralle angekommen.

An diesem Abend hatte Ralf gute Laune und erzählte von seinen Jugendjahren auf dem Bauernhof. „ Peter, weißt Du, an Pfingsten, nach dem Kriege, da gab es immer Schnuten und Poten mit Steckrübensuppe. Das war mein Lieblingsessen.“ „ Was ist das denn?“ fragte Peter. „ Mensch, kennst Du das nicht. Vom Schwein, Schnauze und Pfoten. Das ist lecker.“ Peter merkte, wie sich sein Mageninhalt ausleeren wollte. Gerade kam ihm die Asoziation, dass Ralle mit seinen kleinen Ärmchen und seinem Kugelbauch selbst wie ein Schwein aussah. „ Schnuten und Poten also,“ dachte sich Peter. „ Du würdest Dich bestimmt gut mit Jano verstehen.“ „Morgen hast Du übrigens fast den ganzen Tag frei, Peter. Ich bin nämlich bei Bauer Pollentorf eingeladen.“

„Den kenn ich, der wohnt bei mir im Dorf. Was gibt es denn da so Besonderes?“ „ Peter, kriegst Du denn überhaupt nichts mit? Da ist morgen Schlachtefest. Das Schwein bekommt was über den Detz und wir haben gut was zu essen. Mußt Du mich dann nur hinbringen und wieder abholen. Tagsüber kannst Du dann machen, was Du willst.“ „Schlachtefest, na ja, was denn auch sonst,“ grummelte Peter Ambrosius. „Wer flüstert, der lügt,“ motzte Ralle. Nach dem Essen folgte das allabendliche Ritual. Peter brachte Ralf mit dem mechanischen Hebeapparat ins Bett, legte sich schlafen. Die Nacht verlief ruhig. Beide schliefen tief und fest. Am Morgen ging es dann hurtig. Peter zog Ralf seinen schicksten Anzug an, glättete die Falten des Stoffs, die sich an der Rückenlehne des elektrischen Rollstuhls gebildet hatten, putzte seinem Betreuten die Brille, legte einen Kathederbeutel in die graue Nadelstreifenhose, wartete, bis der Fahrdienst kam, geleitete Ralf zur Rampe des VW-Bus, in dem Ralf in das Nachbardorf, Peters Heimatdorf gefahren wurde, setzte sich auf den Beifahrersitz neben einen Zivildienstleistenden von der Samariter-Pflegestation und fuhr mit den beiden zusammen zum Schlachtefest bei Bauer Pollentorf.

Sie kamen an. Peter hängte die Rampe aus der Hintertür und Ralf lenkte seinen elektrischen Rollstuhl geschickt auf die Straße. In Peter wurden Erinnerungen wach. Denn in seiner Grundschulzeit war Dirk, der Sohn von Heinrich Pollentorf sein bester Freund gewesen. Sie hatten viel Zeit im Stall verbracht, Dirk hatte ihm seine Lieblingsschweine gezeigt, die dann am Ende des Jahres geschlachtet wurden und sie hatten mit den Langhaardackeln gespielt. Peter dachte zurück, eine Geschichte wurde in ihm wach, als sie an dem Schweinestall vorbeigingen, der direkt neben der Diele im Hof lag, in dem sich heute das halbe Dorf zum Schlachtfest treffen würde. Mittags, wenn die Schweine schliefen hatte sich Peter damals in seinem jugendlichen Leichtsinn nämlich einmal in den Stall geschlichen. Dort gab es eine kleine Öffnung in einem Pferch, wo unten am Verschlag das Holz abgesplittert war.

Die Schnauze, Ralf würde sagen Schnute, eines Schweins hatte aus diesem Loch gelugt. Peter hatte gegen die Schnauze getreten. Das Schwein erwachte und wie in einem Dominoeffekt weckte es auch alle anderen Schweine im Stall, die grunzten und quiekten. Leider hatten die Schweine auch Bauer Pollentorf aus dem Schlaf gerissen. Der kleine Dirk hatte es damals ausbaden müssen. Sein Vater versohlte ihm den Arsch mit einem Ledergürtel. Das schlechte Gewissen plagte Peter Ambrosius heute noch.

Vor dem Stall spielten drei Kinder mit Katzen, Marthe, die fünfjährige Tochter des Elektrikers, Beate, die sechsjährige Tochter von Familie Meier und Andreas, der neunjährige Sohn von Bauer Lampe. Ralf fuhr mit seinem elektrischen Rollstuhl in die Diele, wo sich das halbe Dorf versammelt hatte. Peter sah die Kinder mit den Katzen spielen. Andreas zog eins von den Katzenbabies am Schwanz durch eine Pfütze. Die Katze miaute erbärmlich. „Laß das, das tut der Katze weh,“ rief Peter und erzählte dem Jungen von dem Schwein, dem er als Kind gegen die Schnauze getreten hatte und davon, warum er heute noch ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er an diesen Unsinn zurückdachte. Die Kinder kicherten, weil sie es so lustig fanden, wie die Schweine den Bauern aus dem Schlaf scheuchten. „Grunz, Grunz,“ lachte Andreas. Peter beachtete die Kinder nicht weiter und trat in die Diele. Rolf nahm an der Tafel Platz. Herr und Frau Pollentorf saßen da, Familie Meier, Hildebrandts, Herr Muschnik, der Ortsbürgermeister und all die anderen.

Er ging zu Frau Pollentorf, die überrascht sagte: „ Peti, was machst Du denn hier. Dich habe ich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen.“ „ Ich betreue den Ralf Goffmann,“ erwiderte er, „wie machen wir es denn, wenn Ralf nachher mal auf Toilette muß? Ich kann mich daran erinnern, dass der Eingang zu eurer Toilette eng ist. Der Eimer am elektrischen Rollstuhl ist kaputt.“ „ Wir haben mit den Samaritern abgesprochen, dass mein Mann und ich Herrn Goffmann nachher auf das Plumpsklo setzen, das alte neben dem Schweinestall, das kennst Du doch noch. Da paßt der Rollstuhl direkt davor.“ „Aber das ist doch ein wenig zu kalt. Es ist immerhin erst Ende März!“ „Ich bin nicht aus Zucker,“ grollte Ralf. „Na ja, das mußt Du wissen. Ich find es nicht toll,“ murmelte Peter.

„ Dann komme ich also in sechs Stunden wieder.“ „Ja mach das,“ nickte Ralf. „ Also viel Spaß Ralle,“ lächelte Peter und seine Augen wanderten über die Festtafel, über die Speck- und Knappwurstberge, die Leberwürste und Koteletts, die Haxen, Bregenwürste, die Mettwürste und das Bauchfleisch und blieben auf einem Schweinekopf mit Apfel im Mund hängen, der die Tafel schmückte. Durch das Fenster hörte er das Grunzen der noch lebenden Artgenossen. „Fehlen ja nur noch die Steckrüben,“ dachte er sich. Er schaute kurz an das andere Ende der Diele, wo Herr Metzner sich mit Hiltrud Brunstal darüber unterhielt, wie er seinen Urlaub auf Ibiza unterbrochen hatte, weil ihm das Schlachten so fehlte.

Wieder zuhause angekommen schnappte Peter sich Jano, der schlafend im Bett lag, reichte ihm eine Knappwurst, lud den Hund ins Auto und fuhr in sein Wäldchen. Peter setzte sich an seinen Lieblingsteich, ließ den Retriever laufen und drehte sich einen Joint. Ostern stand vor der Tür. Übermorgen sollte im Dorf das Osterfeuer abgebrannt werden. Vielleicht würde Rolf ja zur Feier des Tages nach dem Schlachtefest besonders dicke Eier legen. Peter schluckte. Sein Sarkasmus ging manchmal doch ein wenig zu weit. Hastig saugte er an der Haschtüte. Dann dämmerte Peter vor sich hin. Der Cannabiskonsum und sein Schlafdefizit überfielen ihn und er sank in Schlaf, träumte von Schweinen, die Menschen fraßen und von Menschen, die sich schlachteten und ihre Würste auffraßen. In diesem Traum verwandelten er und Dirk Pollentorf sich in Schweine, die von Herrn Metzner geschlachtet wurden. Und Jano fraß sein Bein.

Als Peter aufwachte hatte die Dämmerung eingesetzt. Das Erwachen war unangenehm, denn Jano stupste ihn mit der Nase an den Mund, saß vor ihm und bellte. „Sag mal, spinnst Du?“ Der Hund saß vor ihm, aufgeregt wie vor einem Spaziergang. Aber der Idiot war doch den ganzen Tag herumgelaufen. „Was willst Du denn?“ Peter Ambrosius war sauer. Dann schreckte er auf. Wie spät war es eigentlich. Er sah auf die Uhr: Gottseidank, zehn nach sechs, er hatte also noch eineinhalb Stunden Zeit, bevor er Ralf wieder abholen mußte.

Die Luft stank nach Rauch und in der Ferne erklangen Sirenen. Hatte die Landjugend das Feuer schon vorgezogen oder hatte er zwei Tage durchgeschlafen. Peter erschauderte, denn wenn das der Fall wäre, dann war er mit Sicherheit seinen Job los, abgesehen davon, dass er sich vor Verantwortungslosigkeit selbst nicht mehr würde in den Spiegel gucken können. Mit dem Hund an der Seite lief er zum Auto. Aus der Richtung des Dorfes zogen Rauchschwaden. Er stellte auf seiner Uhr das Datum ein. Gründonnerstag, alles klar. Da hatte bestimmt Thorsten Blus am Feuer herumgezündelt. Das machten die Jungs von der Landjugend gerne mal.

Das Feuer kam aus Richtung des Dorfkerns. Dieses Jahr war es bestimmt auf der Wiese am Weiher, auf der Brachffläche neben dem Pollentorfhof. Warum hatte er den Holzhaufen dann vorhin nicht gesehen? Zumindest fuhr er jetzt dahin, wo er in einigen Stunden sowieso hätte sein müssen.

Was war das denn? Die Dahlenbergstraße, wo Pollendorfs Anwesen lag, war voll Menschen. Qualm drang vom Gehöft, nicht von der Wiese. Das Dorfvolk versammelte sich, Menschen gestikulierten und brüllten. An der Straßenecke vor Hof stand der kleine Andreas und hielt sich die Wange, weinte wie ein Wasserfall. Schweine rannten über den Hof, der Geruch verbrannten Fleisches und verkohlten Holzes erstickte die Atemmöglichkeiten. Der Hof war in eine Rauchwolke gehüllt. „Verfluchte Scheiße,“ schrie Peter.

Bauer Pollentorf warf Ferkel aus einem Fenster im Stall. Schweine mit gebrochenen Beinen und Brandwunden quälten sich über das Kopfsteinpflaster des Hofes. „Wo ist Ralf?“ brüllte der Krankenpfleger. Keiner antwortete. Er sah Frau Pollentorf, die die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug. „Wo ist Ralf Goffmann?“ schrie er sie an, deren Hab und Gut vor ihren Augen verbrannte.

„ Woher soll ich das denn wissen,“ funkelte sie ihn an. Von Verdacht getrieben schlug er sich durch die Reihen der Feuerwehrleute, die versuchten, das Feuer zu löschen. „Bleib stehen, das ist lebensgefährlich.“ Herr Wachtel von der Feuerwehr Sunstorf riß ihn an der Schulter, hielt Peter fest. Peter knallte ihm die Faust ins Gesicht. Der Feuerwehrmann kippte nach hinten und fiel. Der Krankenpfleger rannte in den Rauch und die Flammen, in die Diele, wo die Gesellschaft geschmaust hatte. Er sah nichts mehr, Glut, Asche, Holz, Fleisch. Fast schien er zu ersticken. „Ralf!“ brüllte er. Doch keine Antwort.

Der Wohnbereich war größtenteils intakt, das Feuer kam aus dem Stall. An brennenden Balken vorbei raste Peter zu der Tür, die in den Stall führte. Alles war ihm aus Kindertagen vertraut. Die Tür war heil, sogar die Schnitzereien wie Peter loves Diana waren geblieben.. Der Stall, ein Infernogestank. Gülle brannte, die Steinwände glühten. Peter stolperte, fiel fast, als er mit dem Fuß über ein Schwein stolperte. Das Tier zuckte, obwohl das Feuer es verkohlt hatte.

In Rauchgestank bahnte sich Peter seinen Weg durch einen Morast aus Blut, Haut und Sehnen. Muttersäue und Ferkel quiekten im Todeskrampf. Der Pferch mit dem Loch im Holz. Peter kam vorbei. Ein Balken stürzte hinter ihm zu Boden. Schweine schrien. Dann die Hintertür mitten im Scheiterhaufen, der Griff schmolz, das Holzfurnier brannte. Mit aller Kraft, warf er sich gegen die Tür. Die Tür gab nach. Er fiel in ein Inferno zwischen Stall und Scheune. Da, an die Außentür wäre er gekommen, hätte er den Umweg durch den Garten genommen. Was dort stank wie Torf war die Scheiße aus dem Plumpsklo. „Ralf!“ brüllte Peter. Das Feuer hatte den Unterbau des Plumpsklos erreicht. Wo war bloß der Rollstuhl? Da saß er, der dicke Ralf. „Peter!“ röchelte er, „Peter!“ Nur die Toilette war noch unversehrt, der Rest des Anbaus brannte.

„Hast ja ganz schön Feuer unterm Arsch!“ flachste Peter, den Humor auch in solchen Situationen nicht verließ. Er nahm Ralf in den Rautegriff und zog ihn von dem Ofen hinunter. Zurück, Schritt für Schritt, die Füße steckten bis über die Knöchel in brennendem Kot. „Mach mal´ne Diät,“ whisperte Peter, dessen Schuhsohlen seine Füße verbrannten. „Öööh,“ stöhnte Ralf, der keine Muße zum Scherzen hatte. Die Außentür, der Rollstuhl, der Balken, ein Meter, der Rollstuhl. Nachtluft zog Peter in die Nase, ein Meter, zwei Meter, der Stuhl, das Feuer so weit weg. Er ließ Ralf vor dem elektrischen Rollstuhl in das Gras fallen und verschnaufte. „Der Akku,“ seufzte Ralf. „Oh Kacke, ohne Akku fuhr der Rollstuhl nicht.“ Peter schluckte, denn der Akku war hinter der Tür des Toilettenhäuschens an die Steckdose angeschlossen. Hinein in die Hölle. Nur einen halben Meter diesmal. Er stürzte sich erneut ins Feuer, riß das Kabel aus der Steckdose und griff das Akkugerät mit verbrannten Händen. Der Eingangsbalken, ein Knacken, ein Geräusch. Ein Blick nach oben.

Alles war so weiß um ihn herum, die Luft wie in dem Krankenhaus, wo er seinen Zivildienst absolviert hatte. Das da vorne neben dem Bett, war das nicht Sanja Wolf, die Stationsschwester, in die er sich verknallt hatte. Was war geschehen? Da lag ja Jano, dort auf dem Plastikboden. Seine Mutter stand neben ihm. „Was ist mit Ralf Goffmann?“ fragte er. Sie blickte an die Wand. „Nun sag schon.“ „Er ist erfroren, in der vorletzten Nacht, einen Meter von seinem Rollstuhl entfernt.“ „Was ist denn da passiert?“

„Kinder spielten mit Katzen in der Scheune. Die Katzen verkrochen sich auf die Dachbalken. Um sie herunterzuholen wollten sie die Katzen ausräuchern und bauten sich Fackeln aus Stroh und Zweigen. Zur gleichen Zeit ärgerte der kleine Andreas die Schweine im Stall. Alle Schweine fingen an zu quieken.“ Die Kinder erschraken und ließen die Fackeln fallen. Die Scheune brannte wie Zunder.“ Peter würde sich das niemals verzeihen können. Denn er hatte Andreas die Idee gegeben.

Er fühlte sich leicht, seinen Körper fühlte er nicht, alles so locker, so angenehm. Er wollte aufstehen und seine Mutter umarmen, aber es gelang nicht. „Du, mein Körper fühlt sich so leicht an. Aber ich kann nicht aufstehen. Das ist merkwürdig.“ Er lächelte. Schockiert sah seine Mutter ihn an und brach in Tränen aus. „Der Balken hat Dir die Wirbelsäule zwischen dem zweiten und dritten Halswirbel zerschmettert.“ Peter kombinierte: „Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung, Querschnittslähmung, 100 %, voller Pflegesatz. Dann lerne ich jetzt ja einmal die andere Seite kennen“, sagte er. Doch zu einem sarkastischen Grinsen reichte es nicht.

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Historiker, Dozent, Publizist