Regenwald im Supermarkt

„[...] Besonders viele Tiere leben im Kronenraum der Urwaldriesen und sind somit nur selten zu beobachten.[...]“

Diethelm Kaiser, Venezuela. Von den Anden zum Orinoco

Kennt ihr die Gesichter, die der Schnee streut, wenn er zerstoßen ist? Manchmal lachen sie, doch das passiert nur selten. Braun und grau erscheinen sie wie zusammengefaltete Leichenklumpen. Einst zog Daniel eine Schneise durch einen dieser Haufen, mit dem Vorderreifen eines Rollstuhls, denn er arbeitete in der Behindertenbetreuung und schob eine Spastikerin durch die winterliche Innenstadt. Ich möchte euch eine Geschichte erzählen:

Zwei schwarze Kreaturen sind vor dem Schneesturm geflohen. Die beiden hatten sich eine Höhle unter den Schneescherben gebaut, in Schneetürmen vor dem Kaufhaus K. Kolk hieß der eine. Sein Fell war schwarz, seine Augen leuchteten wie die eines Krokodilbabys. Die Haare auf seinem Kopf standen zu Berge wie Moos. Die unsichtbare Nase bestand nur aus zwei Schlitzen, die von drahtigen Haaren verdeckt wurden. Nur einen Zeigefinger maß er in seiner Körpergröße. Sein Bruder hieß Brun´Tur mit Namen. Er war kleiner und breiter als Kolk, beide ähnelten sich wie ein Haar dem anderen. Viele Jahre lang hatten die beiden in einer Baumhöhle gelebt, unter der Rinde eines Papayabaumes, am Ufer des Orinoko in Venezuela. Sie ernährten sich von den Früchten und verspeisten Moskitos, Spinnen oder auch kleine Tausendfüßler, die sich beizeiten in ihre Wohnung verirrten.

Kolk und Brun´Tur waren die letzten Überlebenden ihres Volkes, das einst einen großen Papayabaum besiedelt hatte. Sie lagen in ihrer Baumhöhle, da krachte es, Lärm erfüllte die Luft. Sie wußten nicht, was da passierte. Dann wurde es schwarz um sie herum. Sie flogen hin, sie flogen her, es war schwarz, Papayas rollten, Früchte rollten über sie hinweg, dann war es ruhig. Sie blieben zwischen einigen Früchten liegen.

Ob Tage vergingen, ob Wochen vergingen, das mochte keiner der beiden Kerle zu sagen, sie hatten jedes Zeitgefühl verloren. Dann folgte die Erschütterung. Wieder flogen die Früchte in der Dunkelheit durcheinander. Brun´Tur und Kolk wurden ins Licht hinausgeschleudert, in eine warme Luft, die merkwürdig trocken schien und einen ungewohnten Geruch ausstrahlte. Sie blickten sich um:

Um sie herum stapelten sich Papayas, Bananen und Mangos und viele andere Früchte, die sie nie zuvor gesehen hatten. Sollte das etwa das Land der Goldpapayas sein, von dem sie immer geträumt hatten? Kolk und Brun´Tur hatten diese Geschichten immer für Kindermärchen gehalten. Sie fraßen und fraßen und fraßen und fraßen und fraßen, Tag und Nacht. Ihre Bäuche wurden so prall wie der Bauch einer Anakonda, die ein Schwein verschlungen hat, ihre Münder glänzten bunt von gelbem Bananenbrei, roten Himbeeren, weißen Apfelstückchen, Aprikosen und Pflaumenmus.

Eines Tages fielen die beiden Burschen Schlaf. Wenige Stunden später wurden sie geweckt. Ihr Pampelmusbett kullerte auseinander, sie fanden sich am Boden eines Etwas wieder, das abscheulich und roch.

Mit ihren Händen rissen sie ein Loch hinein und fielen in eine weiße kalte Masse. Brun´Tur und Kolk hielten die Masse für Erde, doch nie zuvor hatten sie solche Erde gesehen. Auf ihrer Haut wurde die Erde zu Wasser, es sah aus wie stofflicher Nebel, doch kälter. Sie krochen durch die Materie, die Wasser und Land zugleich war. Dann kamen die Brüder zu einer Steinfläche.

Um sie herum blühte die Nacht, doch überall glühten Riesenbäume, wie aus Glas und ohne Blätter. Kolk fand verschrumpelte Früchte auf dem Boden, die sich auseinanderfalten ließen und den Trockenblättern ihrer Heimat ähnelten. In einer Höhle an einem Scherbenberg der weißen und kalten Masse bauten sie ihr Heim.

Doch wieder riss sie jemand Fremdes aus dem Schlaf. Ein riesenhaftes Tier raste auf ihre Behausung zu. Kolk sah noch seinen Bruder am Körper des Tieres kleben, bevor es ihn zermalmte. Er lebte noch zehn Minuten und erzählte Daniel seine Geschichte.

So erlebt man manches in der Innenstadt während des Winterschlußverkaufs. Durch seine Unvorsicht tötete Daniel mit einem Rollstuhl die Überlebenden eines kleinen Volkes. Nur er und ich wissen über diesen Untergang. So einiges liegt unter der Schneedecke begraben, das sich unseren Augen verbirgt und wir müssen genauer hinzusehen.

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Historiker, Dozent, Publizist