Der arabische Mauerfall - Die Revolution ist im Fluss

Die Revolution ist im Fluss – Der arabische Mauerfall

Utz Anhalt: Wie schätzen Sie das Geschehen in Arabien ein. Ist das eine Revolution?

Riad Al Qadi: Ich sehe das als arabische Revolution im Fluss. Im letzten Jahrhundert hatte die erste ägyptische Revolution ihre Ziele erreicht. Nasser brachte den Stein ins Rollen und beseitigte die feudale Herrschaft im Land, Mubarak drehte das Rad zurück. Jetzt wiederholt sich die Geschichte, die freiheitliche Bewegung lebte nach Nasser unter der Oberfläche weiter und kommt jetzt wieder hoch. 1952 kam die Revolution durch das Militär. Heute geht jedoch das Volk selbst auf die Strasse, die junge Generation. Noch ist unklar, wie das Militär sich verhalten wird. Die ägyptische Revolution wird jetzt ein Symbol für die anderen arabischen Länder. Der worst case bestünde darin, dass das Militär auf den Zug aufspringt und aus der Volksbewegung eine Diktatur macht.

Utz Anhalt: Was ist der Unterschied zwischen den Bewegungen in Tunesien, Ägypten und dem Jemen?

Riad Al Qadi: Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen den Bewegungen in den einzelnen Ländern. Der Grund für den Aufstand ist überall der gleiche. Das gesamte Volk steht unter Druck, die politische Atmosphäre ist vergiftet, die Regime sind autoritär und korrupt, die Wahlen gefälscht, die Macht aufgeteilt zwischen den herrschenden Familien, der Reichtum des Landes fließt in die Taschen von parasitären Eliten. Die Unterschiede sind graduell, in Libyen und Syrien gibt es deswegen keine Volksbewegung, weil die Kontrolle so perfekt und das System so totalitär ist, dass die Menschen sogar nachts vom Geheimdienst träumen und Demonstrationen erst gar nicht stattfinden.

Utz Anhalt: Die Volksbewegung in Ägypten wird oft mit dem Mauerfall in Deutschland verglichen. Sind solche Vergleiche nachvollziehbar?

Riad Al Qadi: Die Bedeutung dieser revolutionären Bewegung ist ähnlich wie damals im Ostblock. Die Menschen haben die Nase voll den Diktaturen und haben ihre Angst vor den Tyrannen verloren. Anders ist die Rolle der Amerikaner. Beim Mauerfall hatten die Amerikaner ideologisch gewonnen. Die arabische Opposition hingegen hat die Nase auch voll von den Amerikanern, die vom Irak bis Afghanistan im Namen der Demokratie Kriege führen und in Arabien die korrupten Regime, die Despoten und Menschenfeinde an der Macht halten. Gerade in Ägypten trifft es die Menschen tief, dass Mubarak Politik für Israel und die USA betrieb und das eigene Volk knüppelte und aussaugte. Jetzt zeigen die Menschen in Ägypten, dass sie selbst die Demokratie erreichen, während das Mutterland der Demokratie bei ihnen als Heuchler gilt.

Utz Anhalt: Wie sieht die weitergehende Perspektive in Arabien aus?

Riad Al Qadi: Das Volk hat die Angst verloren, und das lässt sich nicht mehr zurückdrehen, Die Menschen gehen friedlich und in Massen auf die Strassen. Ich bin im Jemen ziemlich sicher, dass die Revolution jetzt kommt. Die Menschen trauen sich, gegen den Diktator zu protestieren. In Tunesien und Ägypten ist der wichtigste Punkt, dass die Bewegungen unideologisch. Die meisten sind keine Nasseristen, Kommunisten oder Moslembrüder, sondern eine junge Generation, der es reicht. Es handelt sich um eine ganze Generation von gut ausgebildeten und kritischen Menschen, die das Regime mit leeren Händen da stehen lässt. Und sie sind gut organisiert und so vorgebildet und freiheitsliebend, dass sie sich von autoritären Heilsversprechen stalinistischer oder islamistischer Art nicht über den Tischziehen lassen. Weitergehende Perspektive: Es sind genau die Menschen, die eine wirkliche Demokratie aufbauen und leben können.

Utz Anhalt: Der Westen hat die Demokraten in Arabien im Stich gelassen, stattdessen die Diktaturen gestützt. Wie soll sich der Westen heute verhalten?

Riad Al Qadi: Die westlichen Regierungen und die deutschen Linken sollten endlich der arabischen Opposition zuhören, in Ägypten, Tunesien, Jemen und auch im europäischen Exil. Die Lüge von Ben Ali und Mubarak, die der Westen glaubte, war, dass sie die Opposition im Griff haben und für stabile Verhältnisse sorgen. Dafür nahm der Westen schlimmste Menschenrechtsverletzungen in Kauf. Nun beweisen die Menschen, dass die starke Hand des Polizeistaats sie keinesfalls unter Kontrolle hat. Ein demokratischer Prozess ist im Gang, für die westlichen Regierungen etwas unbequemer als vorher, denn demokratische Entwicklungen sind „unzuverlässiger“ als diktatorische Entscheidungen. Seit dem 11.9. behaupten die USA und die westlichen Regierungen, sie wollten die Demokratie nach Arabien bringen. Die Araber haben ihnen geglaubt und darauf gehofft. Die westlichen Regierungen unternahmen aber keinen Schritt in diese Richtung. Der Westen sollte endlich Mubarak, Saleh und die anderen Despoten fallen lassen und Mubaraks Krieg gegen die Opposition schärfstens verurteilen. Wenn der Westen Mubarak wegen seinen Menschenrechtsverletzungen verdammt, werden es sich die anderen Despoten zehn Mal überlegen, Gewalt gegen das Volk anzuwenden Wenn die Menschen die Hoffnung verlieren, die Gesellschaft friedlich verändern zu können, werden sie es mit Gewalt zu versuchen. Und dann sind wir wieder im arabischen Teufelskreis drinnen.

Utz Anhalt: Eine ägyptische Zeitung titelte nach Abu Ghraib „Frieden, Freiheit, Folter“. Welches Verhältnis haben denn die Demokraten in Arabien zum Westen, nachdem er sie verraten und verkauft hat?

Riad Al Qadi: Viele haben das Vertrauen in den Westen verloren. Dieses Vertrauen wiederzugewinnen, wird nicht einfach werden. Nun ist es aber so, dass die Menschen auf der Strasse, „westliche Werte“ ja gerade einfordern, nämlich Grundrechte, Meinungsfreiheit und demokratische Mitbestimmung. Der Westen müsste seine Politik gegenüber Arabien grundlegend ändern, nämlich die Demokraten unterstützen und nicht die diktatorischen Regime. Wenn er das glaubwürdig tut, dann wird die Opposition in Arabien ihm auch wieder vertrauen.

Utz Anhalt: Wie sieht die Situation denn in ihrem Heimatland, im Jemen, aus?

Riad Al Qadi: Die Hitze steigt nach dem politischen Erdbeben in Tunesien. Ausgangspunkt ist die Universität in Sanaa, der Hauptstadt des Jemens. Die Symbolfigur ist eine Frau, Tawakul Karamann. Sie führt eine Menschenrechtsorganisation. Zuvor war sie Abgeordnete von Al Islah, der islamistischen Partei. Sie verließ diese Partei und erklärte öffentlich, dass sie die Unterdrückung der Frauen durch die Islamisten nicht länger mitmacht. Wir haben uns mit ihr solidarisch erklärt. Es gibt im Jemen eine Pseudo-Opposition, so ähnlich wie die Blockparteien in der DDR. Die wird zur Zeit kontrolliert von der Militärdiktatur auf die Strasse geschickt, um dem Volkszorn den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das funktioniert aber nicht mehr. Tawakul Karamann ist ausgebrochen, das System bröckelt. Es ist noch keine eigene Bewegung. Die Demonstrationen, die wir im Fernsehen sehen, sind arrangiert vom Regime und dem Geheimdienst. Noch geht das Volk nicht selbst auf die Strasse, noch nicht. Das Regime inszeniert die Demonstrationen am Donnerstag, wo die Menschen arbeiten müssen, und nur die Mitglieder von Salehs Partei und den Blockparteien sind auf der Strasse. Saleh und Al Islah haben große Angst davor, dass das Volk seine Revolution allein führt. Die Menschen wollen aber, dass Saleh verschwindet. Und dieser Tag kommt, in den nächsten Wochen. Die Basis ist da. Es gibt aber einen Unterschied zu Ägypten und Tunesien. Beides sind moderne Zivilgesellschaften. Die Jemeniten sind aber ein bewaffnetes Volk. Die Menschen in den Stämmen sitzen auf Maschinenpistolen und Handgranaten, jeder erwachsene Mann hat eine Waffe. Und wenn Saleh Gewalt anwendet, kann das Land explodieren, ein Funke reicht.

Utz Anhalt: Was würde denn eine arabische Demokratie von einer europäischen Demokratie unterscheiden?

Riad Al Qadi: Im Prinzip nichts. Die Demokraten in Arabien fordern freie Wahlen, Gewaltenteilung, Grundrechte wie in Deutschland oder Frankreich.

Utz Anhalt: In Afghanistan und im Irak werden Menschen im Namen von so genannter „Demokratie und Freiheit“ getötet. Jetzt zeigen die Menschen in Arabien, dass sie es sind, und nicht etwa Kriegsführer und Besatzer, die die Demokratie erkämpfen. Ist das nicht ein Signal gegen die Kriege, die der Westen im mittleren Osten führt?

Riad Al Qadi: Selbstverständlich ist das ein Signal. Die westlichen Länder sollen endlich Respekt für die Menschen in Arabien entwickeln und die Demokraten in unseren Ländern ernst nehmen. Sie sollen aufhören, im Namen des Kriegs gegen den Terror Despoten zu unterstützen. Sie sollen aufhören, im Namen der Demokratie Bomben zu werfen. Wenn die westlichen Regierungen nicht endlich die Araber ernst nehmen und sich mit den friedlichen Menschenrechtsbewegungen solidarisieren, schaffen sie sich neue Asylbewerber, die vor den Mubaraks und Salehs aus ihren Heimatländern fliehen. Zuerst allerdings sollen sich die westlichen Regierungen bei den Demokraten in Arabien dafür entschuldigen, die autoritären Regime an der Macht zu halten.

Utz Anhalt: Eine Angst im Westen ist, dass sich, wie seinerzeit im Iran, islamische Fundamentalisten durchsetzen könnten und einen Gottesstaat errichten. Ist diese Angst berechtigt?

Riad Al Qadi: Ich sehe derzeit keine Gefahr durch die Dschihadisten. Wenn der Westen Angst vor dem dschihadistischen Terror hat, dann sollte er vor allem seine Unterstützung für die Menschenfeinde in Saudi-Arabien einstellen. So groß kann die Angst vor den Dschihadisten ja nicht sein, wenn die westlichen Regierungen mit den schlimmsten von ihnen, dem saudischen Königshaus blühende Geschäfte machen. Wenn der Westen mit den Demokraten und Menschenrechtlern zusammen gearbeitet hätte, würde sich die Frage gar nicht stellen.

Utz Anhalt: Die Geschichte ist ja allzu bekannt. Die westlichen Regierungen stützen autoritäre Polizeiregime wie Saleh oder Mubarak. Und wenn die Menschen dann gegen diese Regime auf die Strassen gehen, breitet sich die Angst vor dem Dschihadismus aus. Die Angst vor dem Terror der Gotteskrieger ist ja manchmal berechtigt, oft versteckt sich dahinter aber auch die Arroganz, dass die Araber zu Demokratie nicht fähig wären. Zeigen jetzt die Menschen in Ägypten, dass die Alternative weltliche Diktatur oder Gottesstaat keine ist, sondern dass sie den dritten Weg, die Demokratie und Menschenrechte wollen?

Riad Al Qadi: Die junge Generation in Ägypten ist teilweise sehr gebildet, kritisch und weltlich orientiert. Und selbst die Moslembrüder in Ägypten heute sind nicht Al Qaida. Es ist eine Reformbewegung, die der Demokratie nicht im Weg steht. Sie würden ihre Basis im Volk verlieren, wenn sie den Weg der Taliban oder Al Qaida, oder den Weg des mit dem Westen verbündeten Herrschaftshauses in Saudi-Arabien gehen würden. Sie wissen das ganz genau, aber sie wollen das auch selbst gar nicht. Die Amerikaner sollen Diktatoren wie Mubarak und Saleh endlich fallen lassen. Dann möchten die Menschen in Arabien auch wieder mit ihnen reden.

Utz Anhalt: Nun gut, wenn die Moslembrüder sich gegen die demokratische Bewegung stellen würden, wäre das auch ihr politischer Selbstmord. Auch die deutsche CDU hat die Religion im Namen. Und sie nimmt für sich in Anspruch, zum demokratischen Spektrum zu gehören. Ein schwieriger Punkt ist ja, dass in einer arabischen Demokratie islamisch ausgerichtete Parteien wie jede andere Richtung auch das Recht hätten, an der Demokratie teilzuhaben. Unter der Bedingung allerdings, dass der Rechtsstaat ein säkularer ist. In den USA gibt es religiöse Fundamentalisten zuhauf, die mit den elementaren Menschenrechten ebenso wenig zu tun haben wie Al Qaida. Aber Staat und Religion sind dort noch strikt getrennt. Wie sollten Scharia und Grundrechte zusammen gehen?

Riad Al Qadi: In Ägypten arbeiten die Moslembrüder zur Zeit mit den weltlichen Demokraten und Oppositionellen zusammen. Von einem Gottessstaat ist nicht die Rede. Die Menschen in Ägypten, auch die Moslembrüder wollen weder einen Polizeistaat wie unter Mubarak noch den religiös begründeten Terror von Al Qaida. Sie haben vom Terror die Nase voll und wollen endlich friedlich leben. Im Jemen ist es leider anders, weil jeder bewaffnet ist. Ägypten kann da ein Vorbild sein. Die Ägypter sind zivil und hoch gebildet. Die kannst du nicht behandeln wie die Tiere im Stall, oder wie in den Bergen Pakistans abrichten, als ob sie dressierte Hunde wären. Ich bin sehr optimistisch, was diese Bewegung angeht.

Utz Anhalt: Im Iran gab es ja ebenfalls eine Volksbewegung gegen das Regime von Ahmadinedschad. Lässt sich das vergleichen mit der Revolution in Arabien?

Riad Al Qadi: Was ähnlich war, sind die Grundforderungen. Wirkliche Demokratie, wirkliche Grundrechte. Aber die westlichen Medien haben die Bewegung dort kaputt gemacht. Sie haben sich einseitig gegen Ahmadinedschad gestellt, und zwar aus durchsichtigen strategischen und wirtschaftlichen Interessen. Und im Iran sitzt der Hass auf Übergriffe der Amerikaner sehr tief. Die Amerikaner haben den demokratischen Staatsführer Mossadheg ermordet und den Schah am Leben gehalten. Jeder im Iran weiß das. Und für jede politische Bewegung im Iran ist es das Aus, wenn sie auch nur in den Verdacht gerät, dass die Amerikaner ihre Finger im Spiel haben. Genau dieser Verdacht regte sich, und Ahmadinedschad spielte die Karte aus. In Ägypten ist das aber nicht so. Die Amerikaner haben Mubarak an der Macht gehalten. Jeder weiß das, jeder weiß, dass keine ausländischen Agenten mitspielen, sondern dass die Ägypter selbst das Regime stürzen.

Utz Anhalt: Was wünschen Sie sich für ihr Land, den Jemen, was für Ägypten, was für Arabien.

Riad Al Qadi: Ich wünsche mir eine wirkliche Demokratie, politische Freiheit und soziale Rechte, eine Gesellschaft, in der die Menschen ohne Angst leben können. Und ich denke, dieser Prozess hat begonnen und ist nicht aufzuhalten.

Neonazis und Serienmörder - Zur Soziopathologie der Zwickauer Zelle

Neonazis und Serienmörder – Zur Soziopathologie der Zwickauer Zelle

Ein Nazi-Trio mordete in Serie als Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“. Außergewöhnlich ist die Verbindung zwischen Rechtsextremismus und Serienmördern. Ein Serienmörder ist kein Massenmörder, der an einem Ort zu einer Zeit killt wie Mohammed Atta beim Anschlag auf das WTC. Ein Serienmörder ist auch kein „Spree Killer“, der an mehreren Orten in einem Zeitrahmen tötet wie Anders Breivik, der erst eine Bombe in Oslo warf und dann das Massaker in Utoya verübte, sondern tötet in zeitlichem Abstand.

Serienmörder sind gezwungen, zu töten. Sie sind Süchtige, ihre Morde umgesetzte beherrschende Bewusstseinsinhalte. Der Vortrag beleuchtet die Zwickauer Killer im Vergleich mit anderen Serienmördern und führt in das Profiling ein.

Serienmörder und Soziopathen

Uwe Mundlos war ein guter Schüler. Uwe Böhnhardt jobbte als Gelegenheitsarbeiter, war ein bekannter Schläger, Waffenfetischist und Kampfsportler. Diese beiden ermordeten mutmaßlich mindestens zehn Menschen. Beate Zschäpe, die dritte der Zelle, war anscheinend an den Morden direkt nicht beteiligt. Die Täter gingen nach dem gleichen Schema vor, betraten einen Döner-Imbiss, schossen Einwanderern in das Gesicht und fuhren mit dem Fahrrad fort. Ein wiederkehrendes Tat- und Opfermuster lässt auf das Profil von Serienmördern schließen: Bei Jack the Ripper waren die Opfer Prostituierte, bei dem „Werwolf von Hannover“, Fritz Haarmann, junge Männer, bei Adolf Seefeldt Kinder in Matrosenanzügen, bei den mutmaßlichen Killern aus Zwickau Einwanderer.

Die „Dönermörder“ hinterließen, im Unterschied zu klassisch politischer Gewalt, keine Bekennerschreiben, die Ermittler tappten im Dunklen, vermuteten die türkische Mafia. Politische Kriminelle vermitteln ihre Botschaft, beseitigen aber die Spuren; Mundlos und Böhnhardt hinterließen keine konkrete Botschaft, nutzten aber immer die gleiche Pistole und bewahrten die Waffe einer getöteten Polizistin. Für politische Täter wäre das dumm, für den irrationalen Fetischismus von Serienmördern typisch. Mordsüchtige können sich ihr Opfermuster nicht frei wählen und auch nicht rational Spuren beseitigen, die Teil ihrer Pathologie sind. So wie die Zwickauer die Waffe als Trophäe behielten, sammelten andere Serienkiller Körperteile oder Kleidung ihrer Opfer.

Die Vorstellung eines Serienmörders geht oft einher mit dem Begriff des Psychopathen oder Soziopathen. Psychopath bedeutet seelisch Kranker. Aber die wenigsten seelisch Kranken sind gewalttätig, Soziopathen, sozial Gestörte, selten in Behandlung: Manche kommen wegen ihrer Skrupellosigkeit nach oben – in Amerika gibt es dafür den Begriff „Snakes in Suits“; Theodor Lessing sprach vom „Wolfsmenschentum in Anzug und Krawatte.“ Serienmörder haben aber die Grenze überschritten, die legale Ventile ermöglich hätte.

Soziopathen empfinden kaum Mitgefühl und reflektieren die Folgen ihrer Taten nicht. Diese dissoziale Störung trifft auf viele Serienmörder zu. Den Kranken fehlt Frustrationstoleranz, sie reagieren auf Enttäuschungen mit Gewalt, machen andere für Misserfolge verantwortlich, lernen nicht aus schlechten Erfahrungen mit ihrem Verhalten, sondern erklären ihre Brutalität „rational.“

Serienkiller fallen oft früh auf durch Tierquälerei, erste Gewalttaten und ein von Missbrauch und Brutalität geprägtes Umfeld. Treten zu kaputten Familien, fehlender Körpernähe und Drogenproblemen zum Beispiel fehlende Väter, Isolation und sexuelle Projektionen der Mütter prägt sich eine dissoziale Struktur. Kommt dazu Ablehnung durch Schulkameraden, Versagen der Sozialdienste, Ausgrenzung in der Nachbarschaft und Unfähigkeit, sich sexuell zu integrieren, ist dies ein Steckbrief für einen möglichen Serienmörder. Eine seelische Belastung wie der Verlust des Arbeitsplatzes löst den ersten Mord aus – und dann ist es zu spät. Gewaltfantasien enden im Todesritual.

Ein Serienmörder ist kein Massenmörder, der an einem Ort zu einer Zeit killt wie Mohammed Atta beim Anschlag auf das WTC. Ein Serienmörder ist auch kein „Spree Killer“, der an mehreren Orten in einem Zeitrahmen tötet wie Anders Breivik, der erst eine Bombe in Oslo warf und dann das Massaker in Utoya verübte, sondern tötet in zeitlichem Abstand.

Tötungsdelikte geschehen meist in persönlichen Beziehungen. Die Opfer von Serienmördern müssen die Täter aber nicht kennen, sondern einem Muster entsprechen, zum Beispiel blond und schlank, oder, wie bei der Zwickauer Zelle, Einwanderer sein. Serienmörder sind gezwungen, zu töten. Sie sind Süchtige, ihre Morde umgesetzte beherrschende Bewusstseinsinhalte.

„Schweigen der Lämmer“ zeigte den Serienmörder als Genie. Zwar gibt es Serial Killers mit hoher Intelligenz wie Charles Manson, viele sind aber nicht intelligenter als der Durchschnitt, etliche bewegen sich an der Grenze zur Debilität. So war der Kannibale „Papa“ Denke als liebenswerter „Dorfdepp“ bekannt. Deutsche Serienmörder sind statistisch unterdurchschnittlich intelligent. Uwe Böhmhardt würde in dieses Profil passen.

Soziopathen und Faschisten

Böhmhardt und Mundlos waren mutmaßliche Serienmörder und Rechtsextreme. Rache, Verfolgungs- und Verschwörungsfantasien sind Antrieb für Serienmörder, die sich als Vollstrecker sehen: Ed Kemper übte, seinen Worten zufolge, eine „poetische Gerechtigkeit“ aus. Die Männermörderin Aileen Wuornos sah den höheren Sinn, „die Welt von diesen Dreckskerlen zu befreien“. Richard Trenton Chase, der „Vampir von Sacramento“, glaubte, dass Mafia und Außerirdische sein Blut austrockneten. Charles Manson, dessen Jünger Roman Polanskis Ehefrau ermordeten, inszenierte sich als Messias eines fantasierten Weltkriegs und tätowierte sich ein Hakenkreuz. Das pathologische Moment vieler Serienmörder zeichnet Nationalsozialismus ebenfalls aus: Hitler sah sich als Figur der „Vorsehung“; die „jüdische Weltverschwörung“ ist der Prototyp des Verschwörungswahns. Erich Fromm erkannte bei Hitler einen das Leben hassenden Charakter und sah dessen Ideologie als Ausdruck davon. Die Vernichtung eines konstruierten Feindes und Macht über Leben und Tod ist Motor faschistischer Weltanschauung. Das gilt auch für Serienmörder. Ob Böhmhardt und Mundlos die mörderische Pathologie zur faschistischen Ideologie trieb oder die Ideologie zum Mord lässt sich nicht scharf trennen. Faschisten sind keine unpolitischen Soziopathen, aber der Faschismus ermöglicht es Soziopathen, ihre Störung umzusetzen. Mitleidlosigkeit ist in der Nazi-Ideologie erklärtes Ziel. Gehirnwäsche und das „Abrichten zum Töten“ belegen, dass den meisten Menschen die Empathie erst zerstört werden muss. Dagegen bildeten den Kern der NS-Kampfverbände, über die sich heutige Neonazis definieren, Männer, deren Psyche dem Töten entsprach. Wie Breivik nach dem Massaker seine „Mission“ als „Ritter“ zu verkünden, ist dem faschistischen Ideal näher, als ohne Botschaft mit dem Fahrrad zu verschwinden.

Zu offensichtlich?

Zwischen den Zwickauer Neonazis und „normalen“ Serienmördern gibt es einen Unterschied. Kaum eine Szene ist so von V-Männern des Verfassungsschutzes durchsetzt wie die rechtsextreme. Der Gründer des „Thüringer Heimatschutzes“, zu dem die Täter gehörten, Tino Brandt, arbeitete als V-Mann. Die „Kameradschaft Jena“, Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt darunter, stellte 1997 Bombenattrappen in der Jenaer Innenstadt ab. Das Trio gründete danach den „National Sozialistischen Untergrund“. Es handelte sich nicht um unbekannte Serienmörder, auf die die Polizei durch Spuren aufmerksam wurde, sondern um gesuchte Kriminelle. Die rechte Szene scheint ihre Kameraden als Killer geahnt zu haben. So sangen „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“ 2010 vom „Döner-Killer“: „Am Dönerstand herrschen Angst und Schrecken / Kommt er vorbei, müssen sie verrecken.“

Ungewöhnlich für Serienmörder ist die Integration von Böhmhardt und Mundlos in die offene Gewalt des rechten Milieus. Beide jagten mit anderen Neonazis Andersdenkende, bevor sie in den Untergrund gingen. Vielleicht lenkte gerade diese Gangkriminalität den Verdacht nicht auf sie, weil sie nicht wie typische Serienkiller als Einzelgänger am Rande lebten oder ein Doppelleben führten. Vielleicht führte gerade die Verbindung von V-Leuten zur typischen Kriminalität der Szene dazu, dass die untypische Tötungsreihe aus dem Blickfeld verschwand. Die Mordserie folgte auf das Abtauchen, nachdem die Polizei gegen Böhmhardt und Mundlos ermittelte. War Isolation von der Gruppenkriminalität der Funke zum Serienmord?

Was die Zwickauer Killer von klassischen Serienmördern unterscheidet, ist die rechtsextreme Infrastruktur. Im Unterschied zu den meisten Serienmördern hatten sie Tathelfer, eine Organisation und in die Verbrechen Involvierte. Welche Verbindung bestand zum braunen Netz? Neonazis mit ähnlichem Täterprofil gibt es zuhauf. Hätte die Entwicklung von Straßenschlägern zu Serienmördern gestoppt werden können?

Für die meisten Kriminellen ist Verschwiegenheit Gebot. Dagegen brüsten sich Rechtsextreme mit ihren Taten; die gemeinsame Gewalt kittet ihren Zusammenhalt. Die von Edgar Allan Poe in „Der verwendete Brief“ gedachte Logik ist möglich. Die Polizei durchsucht in der Geschichte das Haus eines Verdächtigen, um einen Brief zu finden, sucht aber nicht zwischen den Briefen. Das Offensichtliche entgeht der Wahrnehmung: Die plakativ und kollektiv ausgeübte Gewalt des Milieus wäre ein Schutz für die anders geartete Gewalt der Mordserie gewesen.

Ein Ausdruck der Verhältnisse

Fritz Haarmann ermordete in den 1920er Jahren mindestens 24 junge Männer. Theodor Lessing, der den Fall dokumentierte, erkannte den Mörder als Ausdruck der verrohten Gesellschaft und sah in ihm den Vorboten von Schlimmerem. Als der Mord 1933 Politik wurde, erfüllte sich die Vorahnung. Plakative Forderungen versprechen heute falsche Sicherheit: Die politischen Mittel des Rechtsstaates und der Zivilgesellschaft können Neonazis behindern. Ein NPD-Verbot erschwert Parteiarbeit; Demonstrationen gegen Nazis stören ihre Aufmärsche; kritische Artikel entlarven rechtsradikale Mythen. Serienmörder hindern solche Antinazi-Aktionen aber ebenso wenig wie ein Messerverbot Jack the Ripper gestoppt hätte. Täter, die sowohl organisierte Rechtsextreme als auch Serienmörder sind, stellen das Profiling vor neue Aufgaben. Am entscheidenden Punkt stehen auch die fähigsten Kriminalisten vor einem Rätsel, denn niemand kann in die Seele eines Serienmörders blicken außer einem Serienmörder und selbst der kennt selten seine Beweggründe. Am Ende der Analyse steht der Blick in die Hölle des Unbewussten von Monstern, die Menschen sind.

Der Jemen geht in die Hölle

Keine Zukunft für den Jemen?

Interview mit Riad Al Qadi

von Utz Anhalt (sopos)

Utz Anhalt: In Sanaa Stadt liefern sich die Kämpfer des Al Ahmar Clans Gefechte mit der Nationalgarde des Präsidenten Saleh. Was sind das für Fraktionen? Was wollen sie?

Riad Al Qadi: Al Ahmar ist der ehemalige Parlamentschef. Derzeit läuft so eine Art Blutrache zwischen der Familie Saleh und der Familie Al Ahmar. Das saudische Königshaus lässt ihre Marionette Saleh gerade fallen. Beide, die Familie Al Ahmar und die Familie Saleh werden seit fünfzig Jahren von Saudi-Arabien finanziert. Beide Familien kommen vom Haschit-Stamm, dessen Männer als Söldner für die Saudis arbeiten. Salehs Vertraute bezeichnen Al Ahmars Männer als “trouble-maker”. Al Ahmar rechtfertigt seinen Putschversuch damit, dass Saleh ein Mörder sei. Beide haben Recht. Al Ahmar hat allerdings mit diesem Mörder dreißig Jahre zusammen gearbeitet, und die Morde mit begangen.

Utz Anhalt: Ali Abdullah Saleh wurde bei einem Anschlag auf seine Residenz in Sanaa schwer getroffen. Was ist da genau passiert?

Riad Al Qadi: Es gibt zu dem Anschlag bis jetzt keine Erklärung der Regierung. Gerüchte kursieren, dass Saleh den Anschlag selbst organisiert hat und danach verwundet wurde. Saleh behauptet, zwei Raketen hätten sein Anwesen von außen getroffen. Bilder zeigen, dass Fenster von innen zerbarsten. Es kann Al Ahmar gewesen sein, aber auch jemand anders. Salehs Pressesprecher sagt, die US-Regierung hätte das Attentat verübt. In jedem Fall versucht Saleh, die Wahrheit zu vertuschen und hat einen Konflikt mit seinen amerikanischen Freunden.

Utz Anhalt: Warum finanziert Saudi-Arabien Saleh und Al Ahmar?

Riad Al Qadi: Die Saudis finanzieren Al Ahmar und Saleh seit den 1950er Jahren, um die demokratischen und linken Organisationen im Jemen zu zerschlagen. Saleh bekam jetzt ein Ultimatum von den Saudis und dem Golf-Kooperationsrat, auf sein Amt zu verzichten. Er hat sich geweigert. Jetzt liegt er nach dem Anschlag auf den Präsidentenpalast in einem Krankenhaus in Riad, Saudi-Arabien, schwer verletzt. De facto steht er unter militärischem Arrest der Saudis.

Utz Anhalt: Warum das? Er hat doch Politik für die Saudis gemacht.

Riad Al Qadi: Das hat er, aber Saleh ist untragbar. Die Saudis haben Angst vor einem demokratischen Aufbruch im Jemen wie in Ãgypten und sehen, dass der Despot nicht mehr zu halten ist. Jetzt geben sie ihm die Möglichkeit auf ein Luxusasyl. Er darf seine Milliarden behalten und wird nicht vor Gericht gestellt, bekommt Amnestie, muss aber darauf verzichten, regieren zu wollen. Die saudischen Herrscher erpressen jetzt die Menschen im Jemen: Entweder sie lassen Al Ahmar an die Macht, oder die Saudis geben Saleh frei, und er kommt wieder zurück.

Utz Anhalt: Wer regiert denn derzeit den Jemen?

Riad Al Qadi: Abdurabo Mansur ist Vizepräsident, ein alter Krimineller der südjemenitischen Regierung, verantwortlich für Massenmorde an Sozialisten im Süden 1986. Aber die wirkliche Macht liegt bei Salehs Sohn und Salehs Cousins. In den siebzehn Jahren, die Mansur Vizepräsident ist, war er immer nur ein Vorzeigeschild.

Utz Anhalt: Was will denn Al Ahmar? Was hat er mit der demokratischen Bewegung zu tun, die auf dem Campus der Universität von Sanaa, dem Tahrirplatz des Jemens, demonstriert?

Riad Al Qadi: Er ist der Feind dieser Demokratiebewegung, ebenso wie Saleh, die Konterrevolution. Die Saudis versuchen jetzt, ihn an die Macht zu putschen, damit das alte System bleibt und die Demokraten sich nicht durchsetzen. Und Al Ahmars Kämpfer übernehmen die Drecksarbeit gerne. Immerhin hat Al Ahmar Al Qaida im Jemen mit aufgebaut. Sie liefern sich ihre Feuergefechte mit der Nationalgarde, prügeln aber auch auf die demonstrierenden Demokraten ein, plündern Wohnungen, herrschen mit Waffengewalt über die Straße, erschießen Kritiker. Al Ahmars Kämpfer sind ungebildete Männer aus den Bergen. Die sehen das moderne Stadtleben, für sie ein ungekannter Luxus, und Al Ahmar lässt sie rauben. Für das saudische Herrschaftshaus geht es vor allem um die eigenen Leute. Sie müssen die demokratische Bewegung im Jemen zerstören, um den Menschen in Saudi-Arabien zu zeigen: “Versucht es gar nicht erst.” Da gärt es nämlich auch. In Saudi-Arabien trauen sich die Frauen auf die Straße und demonstrieren dafür, Auto zu fahren.

Utz Anhalt: Wie stehen die Chancen für die demokratische Bewegung auf dem Campus von Sanaa? Gibt es im Jemen noch die Möglichkeit eines friedlichen Umbruchs wie auf dem Tahrir-Platz in Ägypten?

Riad Al Qadi: Für die freiheitliche Bewegung sieht es derzeit düster aus. Im Tahrir-Platz hat sich der Umbruch entschieden, als das Militär sich auf Seite der Demonstranten stellte. Das wird im Jemen nicht passieren. Die Nationalgarde steht auf der Seite Salehs, die Söldner aus den Bergen hinter Al Ahmar, beide sind in Sanaa, um den demokratischen Aufbruch zu zerschlagen. Trotzdem feiern die Studenten auf dem Campus, dass Saleh weg ist. Das Volk will keinen Bürgerkrieg, sondern einen Zivilstaat. Die Forderungen nach Demokratie und Rechtsstaat sind die gleichen wie in Ãgypten. Aber Ãgypten ist im Kern heute eine moderne Gesellschaft. Im Jemen gibt es diese Bewegung von gebildeten jungen Menschen in den großen Städten. Aber von denen, die im Nordjemen die Waffen besitzen, hat keiner etwas mit Demokratie im Sinn.

Utz Anhalt: Salehs Truppen und Al Ahmars Kämpfer kommen beide vom gleichen Stamm im Nordjemen. Was wollen die Menschen in Aden, im Südjemen. Das Land war ja lange Zeit geteilt, und heute werden die Separatisten stärker. Steht eine neue Teilung bevor?

Riad Al Qadi: Immer mehr im Süden wollen eine neue Teilung. Die Bewegung in Aden, der Hauptstadt des Südens, ist demokratisch geprägt. Mit Saleh und Al Ahmar ist kein moderner Zivilstaat möglich. In der Teilung sehen viele eine große Chance, besser eine Teilung und ein Rechtsstaat zumindest im Südjemen oder ein geeinter Jemen mit Diktatur und Krieg.

Utz Anhalt: Welche Rolle spielen die Amerikaner? Immerhin haben amerikanische Piloten vorletztes Jahr noch für das saudische Herrschaftshaus die schiitischen Huthi-Rebellen im Nordjemen bombardiert? Stützen sie die demokratische Bewegung? Oder verhindern sie diese?

Riad Al Qadi: Die Amerikaner spielen fast die gleiche Rolle wie die Saudis. Sie lassen Saleh ebenfalls fallen mit Vollgarantie für Luxusleben und Straffreiheit und unterstützen Al Ahmar. Immerhin hat der Jahrzehnte für sie gearbeitet. Das “Organizing Commitee popular Youth Revolution” vom Campus in Sanaa, also das Sprachrohr der demokratischen Studenten fordert die US-Regierung auf, sofort diese Politik zu ändern und sich auf die Seite der Demokratie zu stellen. Sie sagen deutlich, dass sie ein komplett anderes System wollen, nämlich einen Rechtsstaat, und dass sie eine neue Diktatur, dieses Mal von Al Ahmar, nicht mitmachen werden.

Utz Anhalt: In Tunesien und Ägypten stürzte eine demokratische Bewegung die Tyrannen, in Libyen entbrannte ein Bürgerkrieg, in den die Nato einseitig eingreift, und indem die Gegner Gaddafis mitnichten alle Menschenrechtler sind, sondern auch ehemalige Folterknechte des Diktators. Im Jemen ist der Tyrann aus dem Land geflohen, und aus Sanaa sehen wir Bilder wie aus dem Krieg. In welche Richtung geht der Jemen, in Richtung Ãgypten oder Libyen?

Riad Al Qadi: Leider sieht es mehr nach Libyen aus. Vieles hängt an der Politik der Amerikaner. Wenn die US-Regierung und der Golfkooperationsrat versuchen, Al Ahmar durchzusetzen, dann kommt der Bürgerkrieg. Und zwar egal, ob er siegt oder nicht. Denn die demokratische Volksbewegung kann einen Krieg nicht gewinnen. Die ungebildeten Männer aus den Bergen, die für Al Ahmar kämpfen, sind bewaffnet, die Demonstranten in Sanaa nicht, und sie wollen es auch nicht. Sie demonstrieren friedlich und in Massen, aber ohne Gewalt: Wenn die Amerikaner ihre Politik nicht ändern, und wenn sie Al Ahmar an die Macht bringen, gehen im Jemen die Lichter aus. Dann gibt es keine Zukunft für unser Land.

Freiheitskampf im Jemen

Der Freiheitskampf im Jemen und das Schweigen des Westens

von Utz Anhalt (sopos)

In Ägypten trennten sich die Regierungen des Westens zaghaft von ihrem Freund, dem Diktator Mubarak, nachdem Millionen Demonstranten seinen Thron kippten. Nach Jahrzehnten Willkürherrschaft forderten seine westlichen Freunde ihn auf, keine Gewalt gegen Demonstranten einzusetzen. Wohlwollend ließe sich interpretieren, dass Angela Merkel, Guido Westerwelle und co von der Revolution in Ägypten überrollt wurden, sich jetzt aber ehrlich hinter die Demokraten auf dem Tahrirplatz stellten. Es sieht aber so aus, als ob sie lediglich auf einen Zug aufsprangen, der nicht mehr aufzuhalten war. Die Regierungen der EU und der USA überschlagen sich geradezu mit Sympathiekundgebungen für den Umbruch in Ägypten. Wenn sie diese Unterstützung der Demokraten in Arabien ernst nehmen würden, dann würden sie jetzt auf die Situation im Jemen reagieren. Ihre Partner Ben Ali und Mubarak ließen sie fallen, als klar war, dass das Volk siegt. Kein Wort jedoch gegen ihren alten Freund, den Terrorherrscher Saleh, dem Angela Merkel vor nicht allzu langer Zeit die Hände schüttelte. Dabei ist der Tahrirplatz des Jemens derzeit die Universität in Sanaa-Stadt.

In Sanaa, der Metropole im Norden des Jemens umstellen derzeit Panzerwagen des Diktators Saleh zehntausende von Demonstranten, die dort seit Wochen den Rücktritt des Tyrannen fordern. Die Oppositionellen klagen elementare Grund- und Freiheitsrechte ein. Noch sind sie dabei friedlich, zumindest in Sanaa. Offensichtlich bereitet sich das Regime darauf vor, die Demokratiebewegung mit Gewalt zu zerschlagen. Mehrere Journalisten aus den USA und England, die kritisch berichteten, ließ Saleh abschieben. Für Reporter ist es derzeit fast unmöglich, ein Visum zu bekommen. Salehs Regime ist dem von Mubarak und Ben Ali ähnlich, eine Diktatur mit Pseudoparlament und Pseudoparteien. In Mubaraks und Ben Alis Sturz hatte der Tyrann Saleh sein eigenes Schicksal vor Augen und versprach dem Parlament mehr Freiheiten. Auch Mubarak postulierte einen solchen demokratischen Anstrich seiner Despotie, um der Freiheitsbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Wie auf dem Tahrirplatz lassen sich die Demokraten in Sanaa und Aden jedoch nicht beirren. Sie kennen ihren Unterdrücker seit langem. Sie wissen, wie er Wahlen manipuliert, Oppositionelle in den Folterkellern verschwinden lässt, wie er, vom Geld des Westens finanziert, mit den Al Qaida Terroristen zusammen arbeitet. Sie kennen ihn nur zu gut, um sich über den Tisch ziehen zu lassen. Wie die Mutigen auf dem Tahrirplatz ausharrten, bis Mubarak die Bühne verließ, so wollen auch die Demokraten im Jemen bleiben, bis Saleh stürzt.

Wo liegt der Unterschied zu Ägypten? Ägypten ist im Westen sehr bekannt, zum einen, weil unzählige Touristen aus Europa die Pyramiden und das rote Meer besuchen, zum anderen, weil Mubarak der engste arabische Partner in der Politik mit Israel war. Was in Ägypten passierte, erfuhr die Welt. Der Jemen aber ist ein Land, das die Welt vergessen hat. Militärs und Geheimdienste aus den USA und Europa rüsteten das Regime mit allem aus, was eine Diktatur zum Leben braucht, von Überwachungskameras bis zu Panzern. Der Öffentlichkeit in Europa ist kaum ein Vorwurf zu machen, denn der normale Zeitungsleser weiß nichts vom Jemen, Touristen kommen kaum in das von der Militärdiktatur verwüstete Land. Die politisch Verantwortlichen wissen aber, dass Saleh die Demokraten ermorden lässt, dass er mit den Dschihadisten zusammen arbeitet, dass die Korruption den Jemeniten das Mark aus den Knochen saugt. Sie wissen es, denn seit Jahren klärt die Opposition des Jemens im europäischen Exil die Regierungen Europas über die Menschenrechtsverletzungen im Jemen auf. Die Regierungen Europas und der USA haben Saleh seit 32 Jahren an der Macht gehalten. Sie sehen ihn und nicht etwa die demokratische Opposition als Garanten für die Stabilität des Landes. Wie in Ägypten unter Mubarak nahmen und nehmen sie dafür schwerste Menschenrechtsverletzungen in Kauf: Folter und Massenmord.

In Schweigen lässt sich viel hinein interpretieren. Vorsicht ist geboten, aus dem Schweigen des Westens vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Doch die westlichen Regierungen schweigen nicht nur zur Gewalt Salehs gegen Oppositionelle. Sie schweigen darüber, dass die reaktionären Öldynastien am Golf tausende von Soldaten nach Bahrain geschickt haben, um mit der dortigen Monarchie die demokratische Bewegung zu zerstören. So viel Schweigen ist verräterisch.

Dabei wären klare Worte der westlichen Regierungen gegen das fundamentalistische Regime in Saudi-Arabien und gegen Saleh eine wichtige Hilfe für die um ihre Freiheit kämpfenden Menschen im Jemen. Denn der Militärdiktator ist eine Marionette Saudi-Arabiens und des Westens, sein Regime auf die Unterstützung des Westens existenziell angewiesen. Niemand wird erwarten, dass Angela Merkel oder Obama Barack zum Sturz ihres Freundes Saleh aufrufen. Im Gegensatz zu Gaddhafi hat der jemenitische Diktator immer in ihrem Sinne funktioniert.

Es wäre aber bereits eine Lebensversicherung für die Freiheitsbewegung im Jemen, wenn seine Freunde in den westlichen Regierungen Saleh auffordern würden, keine Gewalt gegen Demonstranten einzusetzen und westliche Journalisten ihre Arbeit tun zu lassen. Der Despot ist nämlich vom Westen in viel höherem Ausmaß abhängig als Mubarak oder Ben Ali. Und er würde voraussichtlich keinen Krieg bis zum letzten Blutstropfen starten wie Gaddhafi. Dazu ist Saleh zu berechnend, dafür ist er zu opportunistisch. Er hat eigentlich keine Ideologie außer seiner persönlichen Bereicherung. Der Diktator wird wohl alles versuchen, um seinen Kopf zu retten, sich damit zufrieden geben, wenn ihm Saudi-Arabien oder die USA ein Luxusasyl in ihrem Land versichern.

Solidarität mit dem Jemen bedeutet in Europa, das Schweigen der Regierungen des Westens gegenüber seiner Gewaltherrschaft scharf zu kritisieren, öffentlich zu machen und Druck auszuüben auf Salehs Verbündete in Brüssel. In Europa und den USA leben viele Demokraten aus dem Jemen, die über die Situation im Land aufklären können und dies seit Jahren tun. Menschenrechtler und Demokraten sollten eine Lehre aus der Revolution in Ägypten ziehen: Die Lehre, den Freiheitskampf der Araber ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören. Die Menschen in Sanaa, die unter Lebensgefahr das Ende von Salehs Militärdiktatur fordern, brauchen keinen Unterricht in “demokratischen Werten”. Sie brauchen heute das, was sie in den Jahrzehnten von Salehs Terror immer brauchten: Freunde im Westen, die hier Druck auf Salehs Freunde in den Regierungen des Westens ausüben, Menschenrechtler, die in Deutschland und den USA vor der Botschaft des Jemens demonstrieren und Saleh zeigen, dass seine Verbrechen bekannt sind. Das Fehlen dieser Öffentlichkeit war 32 Jahre lang der Schlüssel zur Macht des Präsidenten, die Aufklärung über seine Verbrechen und tausende von Menschen, die im Westen gegen sein Regime demonstrieren und Salehs Unterstützer in Zugzwang bringen, sind der Nagel auf seinem Sarg. Und diese Solidarität ist für Menschenrechtler geradezu eine Pflicht. Die westlichen Regierungen schweigen, die Freunde der arabischen Freiheitsbewegung dürfen es nicht tun. Die Demokraten im Jemen haben die Freiheit so verdient.

Ein Kreuzritter gegen den Dschihad

Ein Kreuzritter gegen den Dschihad

Anders Breivig und der Terrorismus der christlichen Gotteskrieger

von Utz Anhalt (sopos)

79 Menschen fielen in Norwegen einem Massenmörder zum Opfer. Der erste Verdacht fiel auf islamistische Terroristen. Dann stellte sich heraus, dass Anders Breivig kein “Islam-Terrorist”, sondern ein Muslime hassender Mörder ist. Sein Weltbild legte er auf 1500 Seiten dar. Dieses Manifest wird in den Massenmedien mit dem Begriff “wirr” versehen. Bei Linken gilt der Killer als Neonazi. “Wirr” erscheint die Vernichtungsideologie von Breivik aber nur für den, der die Gefahr durch die neue Rechte in Europa und den USA nicht erkannt hat und nicht erkennen wollte. Ein Nazi im klassischen Sinne ist der selbst ernannte Kreuzritter nämlich nicht: Damir Fras schrieb in der BZ: “Der Massenmörder Anders Behring Breivik versteht sich als Begründer eines neuen Ordens der Tempelritter. Sein Ziel: Europa bis zum Ende dieses Jahrhunderts vom “Multikulturalismus”, den er auch als politischen und kulturellen Marxismus definiert, und vom Einfluss des Islam zu befreien.” Darin liegt tatsächlich die Quintessenz seines Weltbildes. Und dieses Weltbild hat er mit der Neuen Rechten in Europa ebenso gemein, wie mit katholischen Konservativen. Wie die amerikanischen Neokonservativen, wie Thilo Sarrazin, wie Henryk Broder und die Hetzplattform “Politically Incorrect” und die so genannten “Antideutschen” versteht sich Breivik als proisraelisch und proamerikanisch. Seine Feinde sind “der Islam” und die “multikulturelle Gesellschaft”. Er definiert sich als Tempelritter, als Kreuzritter, als Krieger des christlichen Abendlandes gegen die “Invasion des Islam”. Al Qaida kämpft im eigenen Selbstverständnis gegen die “Kreuzritter”, die in die Länder der Muslime einfallen.

Wer Breivik als “irregeleiteten Einzeltäter” ansieht, vergisst, dass bis auf DIE LINKE von den Grünen bis zu den Christdemokraten alle Parteien im Bundestag einen Krieg führen, den ein christlicher Fundamentalist aus Texas, George W. Bush, als Kreuzzug ausrief. Das humanitäre Feigenblatt, das insbesondere die Grünen und mit ihnen die Kirchentagschristen dem Kreuzzug verpassten, ändert daran nichts. Wie bei jedem Selbstmordattentat, bei jedem Terroranschlag von Al Qaida Muslime auf der ganzen Welt sich sofort empören, dass, wer so etwas tut, kein Muslim sein kann, so sind es jetzt CDU-Politiker, Kirchentagschristen, katholische Konservative, Pfarrer, Pastorinnen, Christen jeglicher Couleur, die, wie aus der Pistole geschossen, Breivik das “Christ-Sein” absprechen.

Tempelritter und Ungläubige

Im “Wort zum Sonntag” rückt der “Fundamentalismus” an die Stelle der “Extremismus”-Konstruktion. “Fundamentalismus”, egal ob christlich oder muslimisch, links oder rechts, sei das Problem. Die meisten Christen wollen mit einem Breivik wohl wirklich nichts zu tun haben. Die Konstruktion, dass es sich um einen “wirren Einzeltäter” handelt, der das Christentum nicht verstanden hätte, erinnert an den “armen Sünder, der vom Weg Gottes abgekommen ist”.

Verständlich, dass Christen, die karitativ tätig sind und die “christliche Nächstenliebe” vertreten, einen solchen “Fundamentalisten” als “Nicht-Christen” ansehen. Wer sich aber mit der Kriminalgeschichte des Christentums auch nur ein wenig auskennt, wundert sich überhaupt nicht, dass sich ein rechter Massenmörder als “Tempelritter” inszeniert. Die Fiktion eines “christlichen Abendlandes”, das vor der “Invasion des Islam” geschützt werden muss, hat sich nicht ein irrer Kopf ausgedacht, der als leibhaftiger Teufel in Norwegen Menschen umbringt. Die Kreuzritter waren eine historische Realität. Sie fielen im Mittelalter in regelmäßigen Abständen im heutigen Nahen Osten ein, wateten 1096 in Jerusalem im Blut, um das “heilige Land” von den “Ungläubigen” zu befreien. Dass auch diese Mordbrenner “keine Christen” waren, also die “allumfassende Liebe Gottes” nicht verstanden haben, mögen sich freundliche Gläubige zurechtlegen: Für die politische Analyse darf ein solcher Selbstschutz nicht gelten.

Zu Recht kritisiert der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten scharf die Aussage von Thomas Goppel (CSU), wonach es keine fundamentalistischen Christen geben könne: “Goppel zeichnet ein idealisiertes Bild des Christentums, das mit der globalen Realität wenig zu tun hat (…) Gewalt gegen Andersdenkende durchzieht einen Großteil der Geschichte des Christentums. (…) Und in der Tat: Dort, wo sich das Christentum überwiegend aufgeklärt und tolerant präsentiert, ist es im Niedergang begriffen. (…) Ob der Attentäter von Norwegen zu Recht als fundamentalistischer Christ bezeichnet werden kann oder nicht: Wie anderen Religionen wohnt auch dem Christentum ein Gewaltpotential inne, das nicht geleugnet oder verharmlost werden darf.”

Der Mörder steht nicht allein, sondern zeigt die Gefahr des Religionsterrorismus des “christlichen Abendlands” heute. Diese “neuen Kreuzritter” sehen die Konfrontation mit dem Islam als “Verteidigung Europas” und definieren sich über die katholischen Mordbrenner, die in der Reconquista die Spanier muslimischen Glaubens aus dem Land jagten bis hin zum Kampf gegen die Türken, die 1683 vor Wien standen. Eine Sympathie für den Staat Israel haben sie deswegen, weil Israel in ihren Augen das Erbe der Kreuzritter weiter trägt, nämlich ein Bollwerk gegen den Islam im “Heiligen Land” zu bieten. Das verträgt sich zwar nicht mit dem 2000 Jahre alten christlichen Judenhass, aber so wie die dschihadistischen Mörder gegen die Sowjetunion noch für die USA arbeiteten, ist den christlichen Terroristen eine Rechtsregierung in Israel vorerst noch ein Verbündeter. Mehr noch: Das Israel einer rassistischen und antiarabischen Regierung verkörpert für sie die wehrhafte Festung im Feindesland – so wie die Kreuzritterfestungen des Mittlelalters inmitten der muslimischen Reiche. “Israel” fungiert für die Terrorchristen als Gegenbild zum “multikulturell verweichlichten Europa”. Neu ist das nicht: Die Reconquista vernichtete die aufgeklärte Kultur in Cordoba, das Musterbeispiel einer multireligiösen und interkulturellen Blüte. Mit Feuer und Schwert setzten die katholischen Mordbrenner den katholischen Glauben als einzige Religion durch, schlachteten die jüdischen Intellektuellen und Ärzte, die muslimischen Ingenieure und Verwaltungskräfte ab.

Thorbjörn Jagland warnte in der Süddeutschen Zeitung davor, die Religion mit dem Terror gleichzusetzen: “Weder im Christentum noch im Islam gibt es irgendetwas, das Terrorismus rechtfertigt. Wenn Religionen trotzdem als potentiell terroristisch beschrieben werden, dann fördert das die Kreuzzugsmentalität. Wenn wir, allein durch den Wortgebrauch, den Islam mit Terrorismus verbinden, polarisieren wir die Debatte; die Angst vor Muslimen und vor der Islamisierung sind die Folge.” Jagland schreibt als Verfechter der freien und offenen Gesellschaft, wie sie in Norwegen Tradition hat, ein ehrenwertes Anliegen. Ebenso richtig ist es, vor einer Kreuzzugsmentalität zu warnen. Doch diese Kreuzzugsmentalität entspringt den Religionen, der Kreuzzug dem Christentum, der militärisch verstandene Dschihad dem Islam. Die Gefahr in diesem Kern beider Monotheismen liegt in ihrer Ähnlichkeit. Wie George W. Bush und Al Qaida spielen sich auch jetzt Anders Breivik und die Dschihadisten die Bälle zu. Es kann, da liegt Jagland richtig, nicht darum gehen, die Anhänger von Christentum und Islam zu dämonisieren. Selbstverständlich gibt es in allen monotheistischen Religionen menschenfreundliche Auslegungen. Selbstverständlich hat ein Dietrich Bonhöffer nichts mit den katholischen Priestern zu tun, die den Massenmord in Kroatien an Serben und Juden durchführten. Selbstverständlich haben die Opfer der Inquisition, die auf dem Scheiterhaufen brannten und sich selbst als Christen verstanden, nicht die Schuld ihrer Mörder. Selbstredend sind die Muslime, die Opfer des Terrors von Al Qaida werden, nicht die Täter. Leider gibt es aber Schulen und Regeln, die den Terror gegen “Ungläubige” legitimieren, fordern und seit Jahrhunderten praktizieren, im Christentum wie im Islam. Wer das leugnet oder verharmlost, gerät eben in die Falle, einen Breivik nicht erklären zu können. Waren die katholischen Völkermörder in Lateinamerika keine Christen, waren die Päpste, die die Kreuzzüge ausriefen, keine Christen? Waren die Inquisitoren, die die Ketzer auf die Scheiterhäufen warfen, keine Christen? Die Scheußlichkeit besteht auch darin, dass sich die Repräsentanten der Großkirchen gerne mit den Aufrechten schmücken, die als Christen Widerstand gegen das Dritte Reich leisteten oder Menschenrechte vertraten. Sie erwähnen dabei nicht, dass diese Vorbilder in aller Regel gegen die Kirche standen. Was sie auch nicht erwähnen, sind die Blutmeere, in denen ebendiese Kirchen wuchsen und gediehen.

Es geht nicht darum, Christen und Muslimen zuzustimmen, die, wie Michael Schmidt-Salomon sagte, von der Dompteurpeitsche der Aufklärung gezähmt sind, dass christliche Mörder keine Christen, islamistische Mörder keine Muslime seien. Die Basis des “multikulturellen Europas”, dass der Kreuzritter Breivik so innig hasst, ist die Rechtsstaatlichkeit. Diese verbindlichen Grund- und Menschenrechte erkämpfte die Aufklärung, erkämpfte der Humanismus unter schweren Opfern, aber letztendlich siegreich gegen die christlichen Kirchen. Die offene Gesellschaft, der säkulare Humanismus ist das Gegengift gegen den neuen und zugleich alten Religionsterrorismus und nicht “Christen, die für den Frieden beten” wie sie morgen die Waffen segnen.

Gott , Machiavelli und Breivik – Die rationale Irrationalität des christlichen Terrors

Der Kreuzzug war der katholischen Kirche das, was den Muslimen der Dschihad in der Bedeutung des Heiligen Kriegs ist. Selbstverständlich gibt es im Islam entgegengesetzte Interpretationen wie die der Sufis, die den Dschihad als Krieg gegen sich selbst führen, das heißt, die versuchen, durch Mystik und psychische Arbeit ein guter Mensch zu werden. Und auch im Christentum gab es Bettelmönche, Pazifisten und diejenigen, die die Nächstenliebe auf alle Menschen bezogen. Nur ändert dies nichts daran, dass die Politik der Kirchen eine andere war.

Die Vorkämpfer der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte liefen Gefahr, von der katholischen Inquisition auf den Scheiterhaufen geworfen zu werden: Heute kennen wir Ähnliches von den Mullahs im Iran und den Taliban in Afghanistan. Gläubige Christen erörtern, dass Breivik sich nicht als religiösen, sondern kulturellen Christen bezeichnet, also mit der christlichen Religion wenig zu tun hat. Das ist richtig, gerade darin liegt aber die historische Tradition der Gotteskrieger. Das Christentum der Kreuzzüger, des Völkermordes in Amerika und der Inquisition “glaubte” nämlich in einem nur mehr technischen Sinn. Ihr Gott war die Ideologie, die die Skrupel beseitigte. “Für Gott” war der Schlachtruf der spanischen Ritter, “in Gottes Namen” segneten die katholischen Priester die Waffen, den Indianern das Land zu stehlen, war “Gottes Auftrag” an die protestantischen Kolonisten Nordamerikas.

Anders Breivig steht in der zweitausendjährigen Kriminalgeschichte des Christentums mitnichten allein: Von Hernando Cortez, der in Mexiko die Ureinwohner niedermetzelte über die Terroristen der katholischen Reconquista, von den Kreuzrittern, die das “Morgenland” mit Blut und Tod überzogen bis zur gemeinsan mit der SS fröhlich Juden und orthodoxe Serben mordenden katholischen Ustascha: immer hatten diese Christen Gott auf ihrer Seite. Gerade die rationale Irrationalität zeichnete die christlichen Kreuzritter und ihre Nachfahren, die spanischen Konquistadoren aus. Sie hatten “Gott” in der Hintertasche, handelten aber vernichtend effizient. Sie glaubten nicht im Sinne der Mystiker, sondern ihre brutale Intelligenz lag gerade in der Verbindung zwischen Machiavellis Pragmatismus und der spirituellen Vitaminspritze, die ihnen die Päpste, die Priester gaben. Der Indianeraktivist Russell Means fasste den Raubmord an den amerikanischen Ureinwohnern zusammen: “Sie kommen immer zu dritt, der Priester, der Händler und der Soldat.” Die Freidenker des 19. Jahrhunderts sahen das ähnlich: “Kirche, Staat und Kapital, dreifaltig sind sie allemal.” Es ist ehrenwert, wenn sich humanistisch orientierte Christen vom Terror abgrenzen, wie auch menschenfreundliche Muslime dem dschihadistischen Terror eine klare Absage geben. Diese internen Konflikte sind aber nicht die Diskussionen, die die freie Gesellschaft führen muss. Für die freie Gesellschaft sind die Grundrechte der Menschen auf säkularer Begründung die Basis. Wer die beherzigt, kann glauben, was er will. Dem Übergriff der Religionen und des ihnen innewohnenden Gewaltpotenzials auf die offene Gesellschaft gilt es, die offene Gesellschaft entgegenzuhalten.

Der Vatikan und der Völkermord auf dem Balkan

Der Vatikan und der Völkermord auf dem Balkan

von Utz Anhalt (sopos)

Die Kritik an Ratzinger, Papst Benedikt, äußert sich vor seinem Deutschlandbesuch. Die Theologin Uta Ranke Heinemann verurteilt die Ächtung von Kondomen durch das Kirchenoberhaupt, die zum millionenfachen Tod von Kindern führe, die Hungers stürben. Die Frauenverachtung des Klerus und die gegen das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung gerichtete Homosexuellenfeindschaft des “heiligen Vaters” bringen die Betroffenen ebenfalls auf die Barrikaden. Berlins Bürgermeister Wowereit erörtert, dass das Oberhaupt einer Wahlmonarchie in einem demokratisch gewählten Parlament wie dem Bundestag nichts verloren hat. Diese Kritik ist wichtig, richtig und notwendig. Herr Ratzinger saß zuvor auf dem Stuhl des Großinquisitors, das heißt dort, wo Wissenschaftler, Aufklärer und Freidenker zum Tod verurteilt wurden. Der Papst hat sich von diesen Justizmorden nie distanziert.

Die heutige Kritik richtet sich gegen ein antidemokratisches Weltbild, das mit den allgemeinen Menschenrechten der Moderne nicht vereinbar ist. So richtig diese Kritik ist, verdeckt sie zugleich, dass, laut Karlheinz Deschner[1], die katholische Kirche ihre größten Verbrechen nicht in grauer Vorzeit, sondern im 20. Jahrhundert verübte. Eins der größten und zugleich am wenigsten bekannten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Weltgeschichte ist der Völkermord an den Serben im Kroatien des zweiten Weltkriegs. Gottfried Niemitz, der Herausgeber des Standardwerks “Jasenovac %ndash; Das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan” von Vladimir Dedijer[2] schrieb dazu: “Der Grund dafür, dass dieses jugoslawische KZ im Unterschied zu Auschwitz in keinem Schulgeschichtsbuch (…) Erwähnung findet, wird (…) klar, wenn man die Komplizen der Faschisten kennt. Was (…) verschwiegen werden soll, ist (…) die führende Rolle der katholischen Kirche (…) bei den Metzeleien, denen insgesamt über 800.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.” Waren Klerus und faschistische Herrschaft schon in Italien und Spanien eng verflochten, verbanden sich katholische Priesterschaft und Ausrottungsmethoden der Ustascha zu einer Praxis, die den Vernichtungslagern der Nazis in nichts nachstand. Im juristischen Sinne handelte es sich um Völkermord im engsten Sinne wie den der Nazis an den Juden, Roma und Sinti und der Türkei an den Armeniern: Es ging der katholisch-faschistischen Ustascha um die vollständige Vernichtung der Serben, ausschließlich nach dem Kriterium ihrer Volkszugehörigkeit. Mehrere hunderttausend orthodoxe Serben starben in der Regierungszeit von Ante Pavelic durch die Hände der Ustaschen und der katholischen Priester.

Die Ustascha und die katholische Kirche

Kirchenkenner wissen, dass Papst Pius XII. das Konkordat mit Hitler schloss. 1933 hatten führende Priester den Nationalsozialismus noch skeptisch gesehen, weil sie diese für Ungläubige hielten. Das lag am “Neuheidentum”, dem völkischen Okkultismus. Hitler versicherte aber, dass er die Kirchen unter besonderen Schutz des Staates stellen würde und trotz der Germanenmärchen waren die Gemeinsamkeiten größer als die Unterschiede, insbesondere die gemeinsamen Feinde: Die “bolschewistischen Untermenschen” waren für den Klerus “gottlose Kommunisten”, seine Judenfeindschaft zog Hitler neben rassistischen Ableitungen vor allem aus zwei Jahrtausenden christlicher Judenverfolgung; inspiriert hatten ihn die Hetzschriften antisemitischer Katholiken in Wien. Die Slawen sah der Vatikan nicht aus rassistischen Gründen als minderwertig an wie die Nazis, doch deckte sich in Jugoslawien und der Sowjetunion das Slawentum mit dem alten Rivalen, der orthodoxen Kirche. In Jugoslawien versprachen die modernen faschistischen Methoden, das alte Ziel der Päpste zu erreichen: Die Herrschaft der katholischen Kirche auf dem Balkan durch Zerschlagung der serbischen Orthodoxie.

1941 fiel die deutsche Armee in Jugoslawien ein. Hitler etablierte mit der katholisch-faschistischen Ustascha eine Marionettenregierung. Zu den Ustaschen gehörten von Anfang an eine große Anzahl katholischer Priester, als Parteifunktionäre, KZ-Führer und Staatsgauleiter. “Katholischer Radikalismus” und kroatischer Nationalismus war für Klerofaschisten wie die “Große Kreuzfahrerbrüderschaft” gleich bedeutend. Es handelte sich nicht um Splittergruppen. Zu den engsten Verbündeten des Ustascha-Führers Ante Pavelic gehörte der Zagreber Erzbischof Alojzije Stepinac; er wurde der Mittler zwischen Pavelic und dem Vatikan. Die faschistische Machtergreifung bezeichnete er als “Wirken der göttlichen Hand”.

Papst Pius selbst wahrte geschickt formal die Neutralität, um zugleich den Ustascha-Staat zu unterstützen. Im Ustascha-Kroatien lebten 1941 5 Millionen katholische Kroaten, 1,9 Millionen orthodoxe Serben und 250.000 Muslime. Bereits im Juni 1941, als die Terrorherrschaft der Ustascha begann, begannen die Gewaltmaßnahmen gegen die Serben. Der Minister Budak verglich die Vernichtung der Serben mit den “Kreuzzügen der katholischen Kirche für die Befreiung des Grabes Christi.” Der Pfarrer von Ubdina rief dazu auf, mit “Gewehr und Revolver für den Glauben zu arbeiten.” In jeglicher Hinsicht förderte die katholische Kirche Kroatiens den von der Ustascha angekündigten Völkermord, bewaffnete die faschistischen Milizen, ermunterte sie zu ihren Morden. Sie betrieben nicht nur Propaganda, um Bauern in die Kampfeinheiten der Ustascha zu locken, sondern nahmen selbst an den Ausrottungsaktionen gegen Serben teil. Ivo Guberina, Priester in der Katholischen Aktion, bezeichnete die Vernichtung der Orthodoxen als “Entfernung des Giftes aus dem Organismus”. Die Unterstützung der Ustascha sei eine “religiöse Verpflichtung”. Minister Mile Budak, fanatischer Katholik, sagte im Juli 1941 klar, was die kroatische katholische Kirche und die Faschisten danach umsetzten: “Für Minderheiten wie Serben, Juden und Zigeuner haben wir drei Millionen Kugeln. Wir werden einen Teil der Serben umbringen. Den anderen werden wir abtransportieren und den Rest werden wir zwingen, die römisch-katholische Religion anzunehmen.”

Der römisch-katholische Priester Sarajevos, Brale Bozidar leitete die Ermordungen in Bosnien, sorgte dafür, dass Pavelic Waffen, Pässe und Fahrzeuge für die schwarze Legion bereitstellte. Deren Massaker bejubelte er mit religiöser Inbrunst. Der Priester Mate Mogus profilierte sich vor allem bei Zwangstaufen und versprach, das serbische Volk auszurotten. Sein Kollege Petar Sivjanovic organisierte die Transporte der Serben in die Konzentrationslager. Der Dekan von Stolac, Marko Zovko, verantwortete die Massenmorde im dortigen Bezirk. Don Ilija Tomas, der Pfarrer von Klepci, sammelte die Ustascha vor Ort und stellte Todeslisten von Serben zusammen. Trotz Zwangstaufen warfen die Faschisten die Serben der umliegenden Dörfer lebendig in die Schlucht von Surmanci. Später bereute er, dass sie nicht alle umgebracht hatten. Don Martin Gudelj ließ 450 Serben umbringen. Die Gemetzel der Franziskaner waren selbst italienischen Faschisten zuviel. Einer von ihnen, Conrado Soli, schrieb: “Sie schlachten, töten, begraben lebendige Menschen in Gräbern, stürzen Tote in Flüsse und Meere oder werfen sie in Schluchten. (…) Es gab Mörderbanden, die von katholischen Priestern (…) aufgehetzt wurden (…).” Der Franziskaner Srecko Peric sagte: “Kroatische Brüder, geht und schlachtet alle Serben ab. (…) Wenn ihr damit fertig seid, kommt zu mir in die Kirche, damit ich euch die Beichte abnehmen kann und eure Sünden vergeben werden.” Im Bezirk ermordeten die Ustaschen 5.600 Serben.

Laut Vladimir Dedijer stellten römisch-katholische Priester Söldnertruppen auf, die die jugoslawische Armee bekämpften und unterstützten damit die Soldaten der Nazis. In unzähligen Publikationen verteidigte die katholische Kirche den faschistischen Staat in Kroatien als Gottes Wille. Der Papst persönlich ernannte den obersten Militärvikar des Ustascha-Regimes, der in jeder Kampfeinheit der Faschisten einen Feldkaplan einsetzte. Diese Kaplane dienten der “Moral der Truppe”, feuerten die Mordbrenner bei ihren Gräueltaten an Kroaten, Juden, Roma und fortschrittlichen Kroaten an. Die Zwangstaufe von 240.000 orthodoxen Serben führten die katholische Kirche und der faschistische Staat gemeinsam durch. Das “Schleifen” von orthodoxen Kirchen gehörte neben dem Mord der orthodoxen Führer zu den Spezialitäten der Ustaschen unter Obhut des Klerus. Katholische Priester leiteten das Vernichtungslager in Jasenovac, leiteten das Abschlachten von hunderttausenden von Serben. Die Methoden dieses Völkermordes reichten vom Erstechen mit Messern, dem Erschlagen mit Beilen, Holzhämmern, Eisenhämmern, Eisenstangen und Hacken über Erschießen mit Revolvern, Karabinern und Maschinengewehren, vom lebendigen Verbrennen bis zum verhungern lassen, von erfrieren lassen bis zum zertreten und lebendig begraben. Unter den Ermordeten waren mehr als 7000 Kinder. Der Franziskaner Miroslav Filipovic leitete das Lager vier Monate und gab an, dass alle Juden und Roma, die in dieser Zeit dort gefangen waren, getötet wurden. Die Zahl der getöteten Serben schätzte er insgesamt auf eine halbe Million, die im Gefecht getöteten einbezogen. Die Vernichtung sämtlicher Serben in Kroatien sei Programm gewesen. Er hätte persönlich ungefähr hundert Häftlinge erschossen.

Dabei blieb, so Dedijer, Marcone, der Gesandte des Papstes, seit 1941 in Kroatien und wusste über die Einzelheiten des Völkermords Bescheid. Er demonstrierte offen sein Bündnis mit den Ustaschen, präsentierte sich zusammen mit Ante Pavelic. Pius begrüßte die katholische Diktatur und die Nazis: “Der Heilige Vater hegt eine besondere Zuneigung für das edle katholische Kroatien (…) und dies besonders in einer Zeit, in der die ganze Welt unter der Last der großen Not gebeugt zu sein scheint.” Der faschistische Dikator schickte Papst Pius XII. Glückwunschkarten, in denen er den “Heiligen Vater” bejubelte; der hatte ihm schon 1941 einen Rosenkranz geschenkt. Die Vernichtungsaktionen der Faschisten unterstützte der Papst: “Die heilige katholische Kirche verfolgt die Ereignisse mit großer (…) Liebe zu den Kriegern an der Front und den Gefallenen im Lande.” Nach dem Sieg der Partisanen über das Ustascha-Regime organisierte der Vatikan für Pavelic und zweihundert seiner Hauptverbrecher die Flucht nach Südamerika. Papst Johannes XXIII. erteilte dem Völkermörder 1959 auf dem Krankenbett seinen Segen.

Insbesondere bei den Zwangstaufen handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine direkte Anweisung des Vatikans, wie, laut Dedijer, aus einem Schreiben von Radoslav Glavas, dem Vorstand der Religionsabteilung der Ustascha, ersichtlich wird. Bei seinem Besuch in Rom im Mai 1942 bekräftigte der Papst gegenüber Erzbischof Stepinac den guten Eindruck, den er vom Ustascha-Regime hätte. Stepinac, der den Genozid an den Serben unter seiner Obhut hatte, wurde später mit dem Kardinalstitel belohnt. Er hatte dem Papst gegenüber das Ziel verdeutlicht, “die Wogen des orthodoxen Byzantinismus an dem kroatischen Bollwerk zu brechen.” Die Vernichtung der Serben fiel also direkt in die Geopolitik des Vatikans.

Im Unterschied zu den Verbrechen der katholischen Inquisition im Spanien des 15. Jahrhunderts, zu den Gräueltaten der Kreuzzüge oder der Hexenverfolgung, zum millionenfachen Tod der amerikanischen Indianer durch Mord, Hunger, Zwangsarbeit und Sklaverei der katholischen Herren, reicht die Frontlinie des Völkermordes an den orthodoxen Serben bis in die Geschichte der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre. Der Vatikan förderte die einseitige Unabhängigkeit Kroatiens mit Milliarden – eines Kroatiens unter einem Präsidenten Tudjman, der aus seiner Sympathie für die Ustascha nie einen Hehl machte. Und die Kriege in Jugoslawien begannen damit, dass Neo-Ustaschen die Serben aus der Krajina vertrieben. Der Vergleich der serbischen Truppen mit Auschwitz durch Joschka Fischer und mit der SS durch Scharping ließ tief blicken: Milosevic, der letzte Staatsführer Jugoslawiens, wurde zu Hitler, die Nachfahren der Opfer des verschwiegenen Völkermords wurden zu Tätern ernannt. Die Grenzziehung zwischen Kroatien und dem Serbien war die gleiche wie im zweiten Weltkrieg. Aus dem perversen Konstrukt des serbischen Auschwitz wird umgekehrt eine Wahrheit: Jasenovac war tatsächlich ein Teil des Komplexes Auschwitz, die katholische Variante der faschistischen Vernichtungslager – die Serben aber waren Opfer, ebenso wie 60.000 Juden und 20.000 Roma, die die Ustaschen vernichteten.

Die Serben in der Krajina der 1990er Jahre waren nicht von einem “extremen Nationalismus” getrieben, sondern fürchteten um ihr Leben. Man stelle sich vor: In Deutschland kommt fünfzig Jahre nach dem Fall Hitlers die NPD an die Macht, Soldaten in SS-Uniform zünden die Synagogen und die Häuser heute in Deutschland lebender Juden an, führen einen Blitzkrieg gegen diese; dann stimmt der Vergleich. Was bei Joschka Fischer eine pathologische Projektion seines Milieus darstellte, nämlich auf der Seite der Alliierten gegen das Nazi-Deutschland der Eltern zu marschieren, war für den Vatikan Kalkül. Das alte Ziel, die Grenzen der römisch-katholischen Kirche im Balkan zu verschieben, ist längst nicht aufgegeben. Eine Entschuldigung des Papstes für den Völkermord an den orthodoxen Serben steht selbstredend aus. Ein Parteikumpan des Kriegsgrünen Joschka Fischer, Winfried Kretschmann, ist erster grüner Ministerpräsident. In seiner Jugend war er Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschlands, der autoritärsten Sekte innerhalb der damaligen Westlinken. KBW-Funktionäre feierten Pol Pot auch dann noch, als die Killing Fields in Vietnam längst bekannt waren. Heute behauptet Kretschmann, diese Erfahrung hätte ihn vom Totalitarismus geheilt. Er bezeichnet sich als liberalen Katholiken. Auf ein kritisches Wort von ihm zum nicht eben liberalen Jasenovac dürfen die Serben wohl nicht hoffen. In der Verurteilung des “Serben-Hitlers Milosevic” war er sich mit seiner Kirche und seinem Parteifreund einig. Und der Vatikan wird wohl auch weiterhin seine Weltmission für den Frieden in der Welt predigen.

Literatur

[1] Karlheinz Deschner: Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Band II.

[2] Vladimir Dedijer: Jasenovac – das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan. Herausgegeben von Gottfried Niemietz. Ahriman-Verlag 1988.

Der wahre, einzige Weg Die Mär vom christlich-jüdischen Abendland – verzerrte westliche Projektionen

Von Utz Anhalt / Neues Deutschland

Der wahre, einzige Weg

Die Mär vom christlich-jüdischen Abendland – verzerrte westliche Projektionen

Spätestens seit Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen«, der Begleitmusik zu den Kriegen in Afghanistan und Irak, sind die Unterschiede zwischen »westlich-abendländischen Werten« und »dem Islam« Allgemeinplatz. Das Talkshow-Geschwurbsel vermischt Araber, Perser, Schiiten, Sunniten, alle, die irgendwo zwischen Marokko und China leben, zu einem Eintopf, dem die »westlichen Werte« des Abendlandes entgegenstehen. Westliche Werte und christliches Abendland benutzt der »Experte« des Feuilletons gern als Synonyme. Besonders beliebt ist inzwischen die »jüdisch-christliche Tradition«, gleichbedeutend mit der europäischen Aufklärung. »Die Muslime« denken eben anders, »sind noch nicht so weit«, dürfen sich aber als »europäischer Islam« zu diesen »christlich-abendländischen Werten« entwickeln.

Die Imagination einer Tradition

Der Mainstream von Tagespolitik und Massenmedien ist allgemein kein Vorbild für eine Auseinandersetzung mit Religions- und Kulturgeschichte. Die Diskussionen um das »Abendland« dienen dazu, in Zeiten des Turbokapitalismus eine fiktive Gemeinschaft zu konstruieren. Solche Konstrukte blenden immer einen Teil der historischen Wirklichkeit aus. Die Imagination einer »christlich-jüdischen Tradition im Abendland« und den daraus resultierenden »westlichen Werten« – Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat – wirft Opfer und Täter in einen Topf und schmückt die Kirchen mit den fremden Federn derer, die diese Kirchen in die Kerker oder auf die Scheiterhäufen warfen. Humanistische Werte und Grundrechte, wie sie in jedem Rechtsstaat Europas in der Verfassung stehen, erkämpfte die Aufklärung gegen die Kirchen, insbesondere gegen die katholische.

Die Opfer waren gewaltig, Vordenker der Religionsfreiheit starben auf den Scheiterhäufen der Inquisition, wissenschaftliche Schriften landeten auf dem Index. Am Ende aber gelang es der »Dompteurpeitsche der Aufklärung« (Michael Schmidt-Salomon), den Klerus zu zähmen oder zumindest in Schach zu halten. Das zentrale Element des Rechtsstaates, nämlich eine Trennung von Staat und Kirche, war ein Sieg über die Kirche und ihre Anmaßung, über die Gedanken der Menschen zu richten. Gerade »dem Islam« wird heute vorgeworfen, diese Trennung von Religion, Staat und Gesellschaft nicht zu kennen und damit der Demokratie nicht zugänglich zu sein. Dabei gibt es in den Schulen des Islam nur in der Schia eine den christlichen Kirchen vergleichbare Organisation. Nur dort, insbesondere bei den Mullahs im Iran und ihrem heutigen Herrschaftssystem, sind strukturelle Parallelen zur katholischen Inquisition erkennbar. Und die Schia hatte, wie die katholische Kirche, ihre Ketzer, zwang die Sufis, die islamischen Mystiker, die Dogmen der Mullahs nachzubeten und richtete sie ansonsten hin.

Das »Abendland« soll einerseits ein geografischer Raum sein, der West-, Nord- und Mitteleuropa umfasst, dort, wo die Sonne untergeht. Das »Morgenland« bezeichnet demzufolge den Orient, den Osten. Mit dem »christlichen Abendland« wird der Orient, das Morgenland, muslimisch, mit den dazugehörigen »Werten«. Auch hier handelt es sich um ein Konstrukt. Allgemein besteht jede Kultur immer aus Vermischung, und jedes Konstrukt einer homogenen Kultur verdrängt diese Entwicklung. Wer die Muslime im Morgenland verortet, kennt die Geschichte Europas entweder nicht, oder will sie nicht kennen. Muslime regierten über Jahrhunderte auf der iberischen Halbinsel. Die katholischen Mordbrenner der Reconquista vertrieben die Spanier islamischen Glaubens ebenso wie die spanischen Juden aus dem Land und damit die meisten Wissenschaftler, Intellektuellen und Ärzte. Die spanische Kultur hat christliche, islamische und jüdische Wurzeln. Handelt es sich also um ein christlich-islamisch-jüdisches Abendland?

Besonders pikant ist die Konstruktion einer »jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes«. Wie bei den »westlichen Werten« der Aufklärung vereinnahmen die Kirchen hier diejenigen, die von ihr selbst verfolgt wurden. Richtig ist, dass das Christentum aus dem Judentum entstand. Die Entstehung des Christentums aus dem Judentum war auch der Grund für die christliche Judenfeindschaft, den Anti-Judaismus. Der zentrale Punkt dieser Hassliebe, um die eigenen Wurzeln zu verleugnen, war das Märchen vom Gottesmord. Die Juden hätten den Sohn Gottes an das Kreuz schlagen lassen. Damit einher ging die Lüge vom jüdischen Ritualmord, in dem die Juden Kinder ihrem Gott opferten – obwohl die Juden diejenigen waren, die mit dem Opfer der antiken Kulturen gebrochen hatten.

Die Juden im »christlichen Abendland« waren eine ungeliebte Minderheit, in toleranteren Zeiten Menschen zweiter Klasse, die nur ehrlose Berufe ausüben durften und in speziellen Vierteln lebten. In weniger toleranten Zeiten verfolgte der christliche Mob sie in Pogromen. Mit dem »Judenhammer« erschien im Hochmittelalter ein Gesetzeswerk, das die Juden als mit dem Teufel verbunden stigmatisierte und konkrete Strafen für ihre »Religionsverbrechen« vorgab. Die Wellen der Verfolgung liefen in den einzelnen christlich geprägten Ländern unterschiedlich, unterschwellig lebten die Juden aber mit der ständigen Gefahr, für Missgeschicke jeglicher Couleur verantwortlich gemacht zu werden. Diese Judenfeindschaft war explizit abendländisch und explizit christlich. Die Protestanten knüpften dabei an den Anti-Judaismus der Katholiken an, für Luther gab es nach dem Teufel für die Christen keinen schlimmeren Feind als die Juden.

Die Muslime sahen Mohammed als den letzten und entscheidenden Propheten. Er steht für sie in einer Reihe mit den Propheten der abrahamitischen Religionen, dem Judentum und dem Christentum. Jesus Christus galt genauso als Prophet wie die Figuren des alten Testaments. Judentum und Christentum waren für den Islam Vorläufer auf dem Weg zur Lehre Mohammeds. Die monotheistischen Vorgänger hatten damit den Status von Ungläubigen erster Klasse. Wie die Juden im Christentum hatten Christen und Juden in den islamischen Reichen weniger Rechte als Muslime. Nur kannten die Muslime die christliche Judenfeindschaft nicht: Jesus ist in dieser Lesart nicht der Sohn Gottes und die Juden sind damit keine Gottesmörder, sondern Juden wie Christen befinden sich auf dem »wahren Weg«, sind diesen aber nicht zu Ende gegangen. Im Unterschied zum christlichen Europa waren Pogrome gegen Juden selten. Es gab keine »Zwangstaufen«, sondern Muslim zu werden, war ein Privileg, um sozial aufsteigen zu können. Deshalb fanden die spanischen Juden auf der Flucht vor den katholischen Mordbrennern Zuflucht in islamischen Reichen wie Marokko und der Türkei. Gerade in diesen Ländern ließe sich von einer islamisch-jüdischen Tradition sprechen. Für den AntiJudaimus, der in der Moderne mit dem rassistischen Antisemitismus verschmolz, für das Märchen vom jüdischen Ritualmord, sind die Muslime also nicht verantwortlich.

Rassistische Stereotype

Der Begriff Antisemitismus ist heute gleich bedeutend mit Feindschaft gegenüber Juden. Diskussionen entbrennen darüber, ob die Feindschaft gegenüber dem Zionismus, der Antizionismus, und die Ablehnung des Staates Israel gleich bedeutend sind mit diesem Antisemitismus. Dabei bedeutet Antisemitismus wörtlich nicht Feindschaft den Juden, sondern den Semiten gegenüber.

Im 19. Jahrhundert verschmolz der moderne Rassismus mit der tradierten Verfolgung der anderen Religion. In Fehlableitungen der Theorien von Charles Darwin galten die Juden jetzt als biologische Rasse, die sich in ihren Eigenschaften von anderen Rassen unterschied. Es gab zwar im Denken der Rassisten keine Rasse der Christen, wohl aber die so genannten Arier, die vor allem in Mitteleuropa lebten. Ein wesentlicher Punkt war hier die Verschmelzung vom Anti-Judaismus im Christentum, der die Juden aus religiösen Gründen ablehnte, mit dem rassistischen Antisemitismus, in dem die Juden zu einer anderen Rasse von Menschen gehörten. Nur war dieser biologistische Rassismus nicht ausschließlich auf religiöse Juden beschränkt, sondern im Wortsinne antisemitisch: Als Semiten galten nicht nur die Juden, sondern die Menschen des nahen und mittleren Ostens! »Blut und Boden« der Mitteleuropäer stand in diesem Wahn gegen die Wurzellosigkeit der »semitischen« Nomaden, die mit ihren Herden über das Land zogen und als unfähig galten, Kultur und Zivilisation aufzubauen. Semiten waren demnach Araber ebenso wie Juden, und die rassistischen Stereotype richteten sich auf beide.

Doch sickerte die moderne Form der Judenfeindschaft über die europäische Literatur wie »Die Protokolle der Weisen von Zion« in die arabischen Länder. Wesentlich für die Judenfeindschaft in Arabien war die Gründung des Staates Israel. Zum Konflikt um Palästina kam die narzisstische Kränkung, dass die Juden, die in den alten islamischen Reichen eine untergeordnete Stellung innehatten, jetzt in einem eigenen Staat lebten, und über Araber und Muslime herrschten. Die arabische Judenfeindschaft hat also andere Wurzeln als die christlich-rassistische.

Bollwerk des Westens?

Die verzerrten Bilder über den »Kampf der Kulturen« und die Gegenüberstellung zwischen der »islamischen Welt« und dem »christlich-jüdischen Abendland« transportieren Vorstellungen, dass die – wahlweise Araber oder Muslime – in Clanstrukturen denken würden und zur Demokratie und Zivilgesellschaft unfähig seien. Entweder würden sie sich autoritären Führern unterwerfen oder fanatisch dem religiösen Wahn verfallen. Der Staat Israel hingegen sei die einzige Demokratie im Nahen Osten, der Stützpunkt des Westens und seiner »jüdisch-christlich-abendländischen Werte«. Israel erscheint als Bollwerk des Westens, für dessen angebliche Werte Juden vereinnahmt werden, nachdem sie gerade im Abendland 2000 Jahre Verfolgung erlitten haben. Stereotype richten sich jetzt aber nur noch gegen »Semiten«, die keine Juden sind. Diejenigen, die in dieser rassistischen Lesart des Abendlandes den Stempel »semitische Völker« haben, werden in der neuen Lesart zu Trägern des Antisemitismus, der Judenhass meint. Es handelt sich wieder einmal um westliche, um europäische, um »abendländische« Projektionen.

Um Zerrbilder aufzubrechen, gibt es nur eine Möglichkeit: Die »Anderen«, »Semiten« mosaischen, mohammedanischen oder gar keines Glaubens kennen zu lernen, von ihnen zu lernen und zu erfahren, was in ihren Gesellschaften wirklich geschieht. Und sie alle als Menschen zu achten.

Der Historiker Utz Anhalt, Jg. 1971, lehrt an der Universität Hannover.


»Unsere Siedler kamen nicht hierher wie die Kolonisten aus dem Okzident, die ihre Arbeit von den Einheimischen tun lassen; sie haben sich selbst vor den Pflug gespannt und ihre Kraft und ihr Blut gegeben, um das Land fruchtbar zu machen. Doch diese Fruchtbarkeit soll nicht nur uns selbst zugute kommen. Die jüdischen Siedler haben angefangen, ihre Brüder, die arabischen Bauern, zu lehren, wie sie das Land intensiver bestellen können; und wir wollen sie weiterhin lehren: zusammen mit ihnen wollen wir das Land kultivieren – ihm ›dienen‹, wie es im Hebräischen heißt. Je fruchtbarer dieser Boden wird, desto mehr Raum wird es für uns und für sie geben. Wir wollen sie nicht enteignen: Wir wollen mit ihnen zusammenleben. Wir wollen sie nicht beherrschen, wir wollen mit ihnen zusammen dienen.«
Martin Buber in einem Brief an Mahatma Gandhi, 1939

Um Zerrbilder aufzubrechen, gibt es nur eine Möglichkeit: Die »Anderen«, Semiten mosaischen, mohammedanischen oder gar keines Glaubens kennen zu lernen, von ihnen zu lernen und zu erfahren, was in ihren Gesellschaften wirklich geschieht.

Tiger in Ranthanbore National Park / Rajasthan / India

Jaipur India / Monkey Temple

Vorträge: Stories of Scotland II / Lesung

  • Seeungeheuer und Schlossgespenster gehören zu Schottland wie Kilt und Whisky, Herbststürme, Nebel und grüne Hügel prägen die Erzählkunst ebenso wie die blutige Geschichte, das Heulen der Seehunde wie das Spiel der Fischotter. Aberglaube würzt die Wirklichkeit.

    Dies Mal erfahren Sie von William Wallace, Draculas Schloss in Edinburgh, den Romeos und Julias unter den Tierwandlern, den Ghulen von Galloway, Todesfeen, die frechen Schotten das Blut aus dem Rock saugen und schwulen Truckfahrern, die Nessie überfahren.

    Der piktische Cock of the North ist persönlich anwesend!

    Beginn 19 Uhr, um eine Kollekte für den Lesenden wird gebeten
    am
    01.07.2012

    im
    Ballsaal der Finsternis
    Schwarzer Bär 2
    30449 Hannover
    www.ballsaal-der-finsternis.de

Historiker, Dozent, Publizist