Wolfsmenschen in der Kulturgeschichte und modernen Fantastik

Der in einen Wolf oder ein anderes Tier verwandelte Mensch gehört zu den zentralen Mythen der Kulturgeschichte und zu einer der beliebtesten Figuren im modernen Horrormovie. Die gängigen Merkmale eines Werwolfs sind durch den Horrorfilm geprägt. Der Werwolf in den Mythen der Menschheit unterschied sich aber massiv von der Bestie in Hollywood und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Die Einschränkung ist, dass Merkmale einer imaginierten Figur immer relativ sind: Auch die Vorstellungskraft der Menschen vergangener Kulturen war nahezu unbegrenzt; und wir werden unzählige Erzählvarianten finden, die vom gängigen Schema abweichen.

Halb Mensch, halb Tier

Das zentrale Element des Gestaltwandlers im Film und das Interesse der Maskenbildner ist der Prozess der Verwandlung in ein Tier, wobei der Werwolf oft eine Halbmenschform annimmt: Er geht aufrecht, behält händeartige Klauen, mit denen er Waffen bedienen kann, ihm wachsen Haare am Körper und Reißzähne, er ist körperlich ein Mischwesen aus Mensch und Wolf. Die Darstellung der Verwandlung selbst ist zwar ein Paradies für Bühnenbildner und Computeranimation, hat aber mit den vormodernen Glaubenswelten wenig zu tun. Der Werwolf in den Hexenprozessen der frühen Neuzeit, auch der Leopardenmensch afrikanischer Kulturen oder die Hexe, die sich in eine Hyäne verwandelt, erscheinen entweder als Mensch oder als Tier. Allerdings finden sich in der volkskundlichen Literatur vereinzelt Hinweise auf körperliche Merkmale in der Menschengestalt, zum Beispiel zusammengewachsene Augenbrauen, ein verlängertes Rückgrat oder Haarwirbel. Auch außergewöhnliche Verhaltensweisen galten in Kulturen, die an solche Wesen glaubten, in deren Menschengestalt als Kennzeichen, ein besonderer Geruch, besondere Blicke, etc.. Gelegentlich lassen sich “Wertiere” auch daran erkennen, dass sie Schmuckstücke wie Ohrringe oder Ketten in Tiergestalt behalten. Der Pakt mit dem Teufel, die magische Kraft des religiösen Rituals waren die Wege, zu diesem Wesen zu werden - ein Werwolf war ein übernatürliches Wesen, ein dämonisches oder ein göttliches Wesen, aber kein im Sinne der modernen Biologie vorgestelltes. Erst die Naturwissenschaft der Moderne stellte sich die Frage nach dem Wie einer solchen Verwandlung statt der Frage “Was will Gott uns damit sagen?” Und die Zoologie ist eine Wissenschaft des 19. Jahrhunderts.

In sogenannten animistischen Kulturen, die sich die Natur selbst als beseelt vorstellen, stellte und stellt sich die Frage ebenfalls nicht. In diesen Kulturen ist die Trennung zwischen materiell und geistig, Mensch und Tier, Fantasie und Wirklichkeit nicht absolut, sondern die sichtbare und die unsichtbare Welt sind gleich real. Zwar weiß ein Schamane im Gegenteil zu dem Schulethnologen, der ihn untersucht, ganz genau, ob er von einem Wolf aus Fleisch und Blut redet, den er jagt oder vom Geisttier Wolf. Ob jemandem, der in der unsichtbaren Welt, der zweiten Wirklichkeit, ein Wolf ist, Muskeln, Zähne und ein Fell wachsen, wäre einem Schamanen ein unverständlicher Gedanke. Ein Werwolf ist im schamanischen Denken eher jemand, der sich mit dem “Wolfsaspekt” seiner Persönlichkeit konfrontiert und diesen in sein Leben integriert.

Der Filmwerwolf, dem der Kiefer aus dem Mund bricht, dessen Hände sich zu Klauen verformen, der sich also biologisch verwandelt und als eine Art eigene Tiermenschspezies durch die Nacht läuft, ist letztendlich Charles Darwin und Lamarck zu verdanken, der Erkenntnis, dass Arten sich körperlich verändern können, bei Lamarck sogar die einzelnen Lebewesen. Dieses Denken spiegelte sich nicht nur im Kino, sondern auch in den Theorien über unentdeckte Lebewesen. Mythologische Tiermenschen des Himalayas, Russlands und Amerikas, der Bigfoot, Yeti, Sasquatsch oder Almas mutierten im 20. Jahrhundert zu überlebenden Populationen des Neanderthalers, der Tier- in diesem Fall Affenmensch entsprach dem damaligen Stand der Wissenschaft über die Entwicklung des Menschen.

Vollmond

Für den Vollmond gilt das gleiche wie für die Silberkugel. Der Mond und die Nacht als Zeit und Ort der Nachtgestalten, der Mondkinder, also unter anderem auch der Werwölfe, hatte im magischen Denken Europas eine wesentliche Bedeutung, und die einzelnen Mondphasen galten als kräftigend, schwächend oder gar notwendig zum Wirken von Zaubern, für die Fruchtbarkeit der Ernte und der Frauen sowie für diverse andere Erfolge oder Missgeschicke. Eine besondere Bedeutung für den Werwolf hatte der Mond in Gesellschaften, die an Werwölfe glaubten, für deren Verwandlung nicht. Prinzipiell waren es eher die Schwellenzeiten und Schwellenorte, die die Verwandlung begünstigten, und an denen wir heute noch Feste wie Weihnachten (Wintersonnenwende), Walpurgisnacht, Sommersonnenwende, Halloween (zwischen Sommer und Winter), Karneval (das Ende des Winters) feiern. Der Grund liegt darin, dass die Menschen glaubten, dass sich in den Wendezeiten die Tore zwischen den Toten und Lebenden öffnen: Deshalb verkleiden sich amerikanische Kinder, Teenager, und auch Erwachsene am 31. Oktober, dem keltischen Samhain, in Werwölfe, Hexen, Vampire und andere Wesen der Nacht. Schwellenorte waren zum Beispiel Kreuzwege, Friedhöfe, insbesondere der Galgenberg. Die Zeiten, in denen Werwölfe sich in das Tier verwandelten, sind in den Mythen Europas allerdings unterschiedlich. Mal war es der Namenstag des Betroffenen, mal der Johannistag, mal die Zeit der Aussaat, in der livländische Bauern meinten, sich in Werwölfe zu verwandeln, um mit den Geistern der Toten um die Fruchtbarkeit der Felder zu kämpfen. Der Vollmond wurde erst durch die moderne Literatur und den Film zu einem Kernelement des Werwolfmythos.

Der Werwolf als Psychopath

Ein sehr beliebtes heutiges Motiv ist die Verbindung zwischen dem Werwolf und dem pathologischen Killer, dem Serienmörder. Den Werwolf überkommt sein Drang, zu morden wie den Serienkiller auch. Schon Theodor Lessing bezeichnete in den 1920er Jahren den Hannoveraner Jungenschlächter Fritz Haarmann als Werwolf von Hannover. Hier spielt die Vorstellung eine Rolle, dass die durch Zivilisation gebändigten Tierinstinkte des Menschen unter bestimmten Bedingungen außer Kontrolle geraten und die Verwandlung in ein Tier einhergeht mit einer Art pathologischem Rauschzustand.

“The Howling 1″ von 1981 behandelt das Thema mit schwarzem Humor: Eine Journalistin ist einem Serienmörder auf der Spur und findet sich in einem Experiment wieder, in dem ein Psychiater versucht, Werwölfe zu therapieren. Auch manche Historiker halten juristisch verhandelte “Werwölfe” wie Peter Stübbe 1589 für mögliche Serienmörder. Dafür gibt es aber keine Indizien. Jedoch gab es Mordserien, in denen die Täter glaubten, sich in Tiere zu verwandeln, so die Sekte der Löwenmenschen in Singida, Tansania, in den 1930er Jahren. Und es gibt tatsächlich sehr wenige Fälle von “pathologischer Lykanthropie”. Unter diesen sehr wenigen Menschen, die glauben, ein Wolf zu sein, sind wiederum sehr wenige, die in diesem Glauben Menschen ermordeten: “Romasanta - im Schatten des Werwolfs” von 2004 zeigt das Porträt eines solchen psychisch kranken Mörders und bezieht sich auf einen Prozess, der im 19. Jahrhundert in Spanien tatsächlich stattfand; der Film ist eher eine Dokumentation als ein Movie. Bei diesem Täter handelte es sich jedoch um einen modernen Menschen und nicht um ein Opfer der Hexenprozesse der frühen Neuzeit.

Werwölfe und Vampire

Mit dem Bewusstsein, dass die Tiere uns ähneln, aber doch anders sind als wir, kommt die Vorstellung der Tierverwandlung. Das Drama der menschlichen Sterblichkeit und unserer Tierhaftigkeit wird Menschen begleiten, solange es sie gibt. Ob im Glauben, in der Literatur oder im Horrorfilm: Der Werwolf bleibt uns erhalten - weil wir Menschen sind.

Krieg um die Unabhängigkeit Schottlands

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Geburt einer Nation aus der Gewalt

Schottland im Mittelalter war bequem wie ein Bett aus Disteln. Kriege mit England überdachten Kämpfe des einheimischen Adels. Die Schlacht bei Stirling Bridge markierte 1297 den Weg in die nationale Unabhängigkeit: Die Schotten unter William Wallace (gest. 1305) und Andrew von Moray (1265-1297) schlugen die Engländer. Ein Jahr später trugen die Engländer jedoch bei Falkirk den Sieg davon. Die Hinrichtung des Aufstandsführers Wallace 1305 demonstrierte, was die englische Krone von der schottischen Unabhängigkeit hielt. Der Adlige Robert the Bruce (1274-1329) ließ sich zum König der Schotten krönen. Sein Heer bezwang 1314 die ‚Sassunach’ bei Bannockburn. Aus Chaos und Kriegen formte Schottland sich zur Gestalt eines eigenständigen Königreichs.

Chaos um die Thronfolge

Der schottische König Alexander II. (1198-1286) starb bei einem Unfall. Die Thronwächter wollten Margaret (1283-1290), der ‚Maid of Norway’, die Krone aufsetzen, im damaligen Europa ein ungewöhnliches Unterfangen, denn sie war ein Kind. Auch Königinnen kannte die Zeit nicht. Die Guardians trafen ihre Entscheidung mit Kalkül: Edward von Caernarforn, Prince of Wales und Sohn des englischen Königs Edward I. (1272-1307), war zum Bräutigam auserkoren. Die Bindung zu England blieb; das Mädchen stand unter Kontrolle. Der frühe Tod Margarets zog den Guardians einen Strich durch die Rechnung; das Chaos war perfekt.

Schottische Adlige und Herrscher im Ausland gierten, das Zepter an sich zu reißen; die Magnaten versuchten, Schottland unter sich aufzuteilen. König Edward I. sollte schlichten, eine Zwickmühle: Jeder Anwärter auf die Krone wäre an England gebunden und hätte zugleich die Rückendeckung durch die englische Monarchie. Die Gefahr durch einzelne Magnaten schien ebenso gezähmt wie Kriege der Clanchefs.

Der Haken lag in der Frage Doppelmonarchie in England und Schottland oder ein Schottland unter englischer Herrschaft? England und Schottland waren seit 1237 getrennt. Ein englischer König als neutraler Vermittler bedeutete nicht notwendig englische Oberherrschaft. Die Bewerber mussten sich jedoch Edward I. als Herrscher unterwerfen. Die Parlamentarier in Schottland reagierten empört; die Kronenanwärter akzeptieren seine Spitzenfunktion. Nationalbewusstsein gehörte nicht zum Selbstverständnis der Adligen: Sie besaßen Ländereien in England und verpflichteten sich ihrem Lehnsherrn; der konnte der englische wie der schottische König sein.

In die engere Auswahl fielen Robert the Bruce der Ältere und John Balliol (1249-1315). Die Intimfeinde kamen aus Galloway. Edward I. ernannte 1292 Balliol zum König. Das schottische Parlament akzeptierte; eine stabile Einigung des Landes schien in Aussicht.

Der schottische Widerstand

Die Zeit schrie nach einem Widerstandsführer, der quer zur etablierten Adelshierarchie stand: William Wallace. Dieser Ritter hatte Edward I. keinen Treueid geleistet und sammelte Freischärler um sich, seine Männer verbanden sich mit denen des Earl of Moray. Die Engländer befanden sich im Dilemma einer Besatzungsmacht. Das englische Militär kontrollierte zwar die Schlüsselstellen, die Städte und Festungen, hatte aber keinen Rückhalt auf dem flachen Land, Adel und Intellektuelle waren an London gebunden, nicht die Bauern. Ihre Loyalität galt den traditionellen Führern; Kollaborateure galten als Verräter. Der abwartende Hochadel büßte Vertrauen ein. Steuerlasten wurden unerträglich, schürten die Rebellion, Wallace führte Guerillakrieg, überfiel englische Posten da, wo sie schwach waren, griff englische Truppen an, wenn sie über Land zogen.

Bannockburn

Robert the Bruce, Enkel des Mitbewerbers von John Balliol um die Krone war Edward I. zu Treue verpflichtet; in Dunbar hatte er für die Engländer gekämpft. Erst nach dem Tod seines Vaters führte er den Widerstand der Schotten.

Die Niederlage von Wallace bei Falkirk mag den Ausschlag gegeben haben, das Vakuum als Führer des Widerstandes zu füllen. Bruce erstach seinen Rivalen um die schottische Krone, John Comyn in einer Kirche in Dumfries. Er musste handeln oder untergehen, besetzte Dumfries mit seinen Soldaten und krönte sich in Scone, ohne den Stein. Der selbst ernannte König der Schotten überfiel 1306 die Festung Perth, verlor die Schlacht, floh und führte einen Guerillakrieg wie Wallace zuvor.

Edward I. starb 1307. Er ließ sich in einem Sarg aus Blei beerdigen. Sein Leichnam sollte in einen Goldsarg gebettet werden, wenn Schottland Teil seines Königreichs geworden war. Dieser Wunsch erfüllte sich nicht – bis heute.

Robert the Bruce nutzte die Schwäche Englands und überzog den Nordosten Schottlands mit Krieg, nahm eine Festung nach der anderen ein. Stirling, ein strategisch wichtiger Posten, blieb in englischer Hand. Bruce forderte den neuen englischen König Edward II. heraus und stellte ihm ein Ultimatum, Stirling zu übergeben. Der machte dem Namen seines Vaters alle Ehre und schwang den Hammer: 15000 Infanteristen und 2000 Reiter fielen in Schottland ein. Die Schotten hatten ein Viertel der Reiter und die Hälfte der Fußsoldaten aufzubieten. Sie waren keine blau bemalten Zottelbärte wie in Mel Gibsons Braveheart, aber von der Ausbildung und Bewaffnung den Engländern nicht gewachsen.

Der größte Sieg der Schotten verlief nach der List, die Arminius den Sieg über die Legionen von Kaiser Augustus bescherte: Locke den Feind in dir vertrautes Gebiet. Die Schotten stellten die Engländer 1314 zwischen den Flüssen von Bannockburn, südlich von Stirling Castle.

Die Fehden ruhten. Die MacDonalds, mit Bruce verfeindet, kämpften gegen die Engländer mit ihm. Die Flüsse Bannock und Pelstream zwängten die englischen Soldaten ein. Ihre Überzahl erwies sich als Nachteil; es gelang nicht, die von Schotten attackierten Massen zu sammeln. Der Schilltron hielt. Schottische Reiter zersprengten die Langbogenschützen, der Pfeilhagel gegen die Mauer aus Spießen und Schilden blieb aus. Tausende von Engländern fanden den Tod.

Das Manifest von Arbroath

Die Schotten befanden sich in einem Dilemma; ohne Anerkennung brachten ihnen ihre Siege nichts. Sie wendeten sich folgerichtig an die Kontinentalmächte statt an den englischen König. Die an den Papst geschriebene Erklärung von Arbroath von 1320 gilt als Manifest der schottischen Nation, das in Latein verfasste Dokument nimmt Rechtsstaatlichkeit vorweg – die Trennung von König und Nation: „Wenn (…) der Fürst (…) zustimmen sollte, dass wir oder unser Königreich dem König oder Volk von England unterworfen würden, werden wir ihn sofort als unseren Feind ausstoßen, als Umstürzer seiner und unserer Rechte, und wir werden einen anderen zum König machen, der unsere Freiheiten verteidigt. (…) Denn wir kämpfen nicht für Ruhm oder Reichtum noch Ehre, sondern für die Freiheit allein, welche kein tapferer Mann aufgibt, es sei denn mit seinem Leben.“

Der Vampir in uns – Vom Monster zum Popstar

„Der Vampir nimmt uns, was er nicht hat, und bestraft uns für das, was wir tun – und für unsere Menschlichkeit. Aber wir wiederum verlangen nach dem, was der Vampir besitzt – Unsterblichkeit, Vorsehung, Macht, also weihen wir unsere Seele der Qual – der Hoffnung.“ Katherine Ramsland

Vampire sind allgegenwärtig. Brad Pitt als sensibler Louis und Tom Cruise als egomanischer Lestat in „Interview mit einem Vampir“ ließen in den 1998 die Herzen dahin schmelzen. Doch die heutige Popularität der Twillight-Reihe von Stephenie Meyer, die Romanze zwischen dem Mädchen Isabella Swan und dem Vampir Edward Cullen stellt Anne Rice Vampirchroniken in den Schatten. Woran liegt diese Faszination? Am Vampir der Volkskultur kann es nicht liegen, das war ein lebendiger Leichnam, so erotisch wie ein verfaulender Kadaver. Norbert Bormann, der in „Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit“ den Mythos untersuchte, weist darauf hin, dass der Vampir unseren Egoismus spiegelt, unsere Maßlosigkeit, unser Leben auf Kosten anderer, ist er doch „das Geschöpf, das (…) rücksichtslos alles in sich einsaugt“. Der Vampir saugt Blut, um zu leben und bringt den Tod. Das „Gute“ am Vampir liege in seiner Wahrhaftigkeit. Wir würden den Vampir zwar abstoßend finden, aber auch anziehend, da er unsere verborgenen Wünsche repräsentiert. Denn der Vampir würde immer gegen den herrschenden Konsens verstoßen, egal, wie dieser aussieht: „Als Rebell verkörpert er eine Mischung aus Verbrecher und Freiheitshelden und schafft ein Ventil gegen gesellschaftliche Zwänge.“ Für die Faszination am Vampir in Literatur und Film ist aber die Bedeutung als Sexsymbol entscheidend. So erörtert Bormann: „Seine (…) Zähne, die er (…) exhibitionistisch aufblitzen lässt, sind unschwer als Phallussymbol zu erkennen, während seine üppigen (…) roten Lippen an das verschlingende weibliche Genital denken lassen. Das Blut des Opfers (…) ist (…) mit Deflorationsblut zu assoziieren.“

Vampire bei Freud und Jung

Die Väter der heutigen Psychologie, C.G. Jung und Siegmund Freud setzten sich mit dem Vampir als Ausdruck der Psyche auseinander. Freud erkannte in der Vampirfigur eine Faszination am morbiden, ausgelöst durch unterdrückte Sexualität. Vampire stehen für das nicht ausgelebte ödipale Verlangen; die entfesselte Wildheit des lebenden Toten zeigt die Wahrnehmung der sexuellen Elternbeziehung durch das Kind. Jung erkannte im Vampir eine Urfigur des Schattens. Das Unbewusste war für ihn nicht allein individuell, sondern eine kollektive Struktur, die sich im Traum zeigt und in Religion und Ritual ausdrückt. Dieser Schatten ist für Jung dann „böse“, wenn er unerforscht bleibt. Das Aufsuchen dieser inneren Hölle hielt er therapeutisch für notwendig. Dem bewussten Ego wären diese seelischen Abgründe peinlich. Das Positive am Vampir war für ihn, dass er Menschen mit dem Schatten konfrontiert: Machtgier, Drang, andere zu zerstören, unterdrückte Triebe, Aggressivität.

Lebende Vampire

Eine moderne Interpretation vermutet Serienmörder als Ursache des Vampirmythos. Der „Vampir von Düsseldorf“, Peter Kürten, trank ebenso das Blut seiner Opfer wie der „Dracula von Kalifornien“, Richard Chase und der „Vampir von London“, John George Haigh. Und der Journalist Theodor Lessing konnte die Gräueltaten des Jungenmörders Fritz Haarmann nur noch in Begriffen wie Werwolf und Vampir fassen. Damit drückte er aus, dass bei Haarmann die Grundtriebe Fortpflanzung und Ernährung, Leben geben und töten, um sich zu ernähren, untrennbar verschmolzen waren. James Riva ermordete in Massachusetts 1980 seine Großmutter, um dadurch ewiges Leben zu erlangen. Die Verbindung von „Blut saufenden“ Herrschern wie Vlad Dracula oder Elizabeth Bathory mit den lebenden Toten schafft erst die moderne Literatur.

Ein Urmuster der zerstörten Seele

Vampirvorstellungen lassen sich auch psychisch interpretieren: Vampire sind symbolisch betrachtet keine Toten, die die Lebenden heimsuchen. Denn sie leben zwar nicht, aber sie sind auch nicht gestorben. Borderline-Persönlichkeiten, die auf der „Grenzlinie“ leben, sind psychisch instabile Menschen. Sie leiden, laut Adolph Stern, unter „psychischen Blutungen“. Sie fühlen sich innerlich wie tot. Selbstverletzungen und Drogenmissbrauch oder auch sadomasochistische Sexualität dienen dazu, aus dem Gefühl der Leblosigkeit auszubrechen. Selbstmord erscheint als Erlösung aus dem unlebbaren Leben. Und das fehlende Spiegelbild trifft ihre Not genau: Eine Borderlinerin sagte: „Ich werfe keinen Schatten, ich bin ein Schatten.“

Zwar kann das Selbst nicht tot sein, dann wären Menschen körperlich tot, aber Borderliner fühlen sich, als wäre es abgestorben. In dem Erleben der Welt scheinen sie von Zwangszuständen überwältigt zu sein. Die Welt, in der sie sich bewegen, ist eine der Urmuster von Leben und Tod, Verschmelzung und Trennung, die sie ohne die soziale Anpassung erleiden. So genannten „normalen“ Menschen erscheinen Borderliner tatsächlich wie Wesen aus einer anderen Welt. Sie befinden sich in einem Schwellenzustand, in einen Zustand, der normalerweise verdrängt wird und dem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich ist. Es handelt sich um den Erfahrungsraum, der im Schamanismus als unsichtbare Welt bezeichnet wird. Während aber ein Schamane diesen Raum rituell aufsucht, um in die Alltagsrealität zurückzukehren, lebt der Borderliner in dieser Zwischenwelt. Er kann, wie der Vampir, nicht leben und nicht sterben.

Der Psychologe Nathan Schwartz-Salant überträgt Mythologien auf das Borderline-Syndrom:

Das Sinnbildhafte im Borderline-Verhalten erschließt einen Zugang zum Vampir. Denn viele Kulturen stellen die bekannte Welt als ein ruhiges Gebiet dar, das von Chaos umgeben ist: In Mythen spiegelt sich nicht zuerst die äußere Umwelt, sondern die seelische Welt. Das Dämonische an der seelischen Grenze ist eine Bedrohung, Horror, Tod. Seelisch zeigen diese Bilder das Zwischenreich, in dem der Borderliner lebt. Und Vampire sind eben die, die in einem Zwischenreich zuhause sind. So schreibt Schwartz-Salant: „Das primäre „innere“ Objekt eines Borderline-Patienten im Zustand der Verzweiflung ist ein vampirähnliches Energiefeld. (…) Das Bild des Vampirs, der von den Sonnenstrahlen, das heißt, vom Bewusstsein getötet wird, ist ein treffendes Bild dafür, wie destruktiv das Bewusstsein für einen Patienten sein kann, der mit dieser dunklen Kraft verschmolzen ist.“

Schwartz-Salant schreibt über eine Borderline-Patientin: „Es ist das Gefühl, als hätte man einen Traum mit einer archaischen Figur, die in einer geschraubten Sprache aus einem vergangenen Jahrhundert spricht und doch starke Affekte vermittelt. Sie (…) leidet und wirkt trotzdem irgendwie unmenschlich, als gehöre sie einer anderen Spezies an. (…) Jeder Moment ist belastet, zu gefüllt und gleichzeitig zu leer. Sie wirkt wie ein Außenseiter, der am Rande der Welt lebt, in einen dunklen Schatten unmenschlicher, archetypischer Prozesse geschleudert wurde und durch diese spricht (…). Wir sind in einer Märchenwelt abstrakter Charaktere, die schnell wieder zu Fleisch und Blut werden.“ Wüssten wir nicht, dass ein Psychologe etwas über eine Patientin mitteilt, würden wir vermuten, dass es sich um einen Vampirroman handelt.

Vampirsubkulturen

Das Borderline-Syndrom ist eine Auffälligkeit unserer Zeit. Im Spätkapitalismus erfordert der Leistungsdruck die Anpassung an permanent wechselnde Rollenmuster. Eine Zersplitterung der Persönlichkeit und das Gefühl, außerhalb realer Beziehungen in innerer Leere zu stehen, sind die Folge. Das „Anderssein“ eines Vampirs, das „nicht leben und nicht sterben“ können, nirgendwo zu Hause sein, die Gesellschaft von außen zu betrachten, ist eine Erfahrung in den Anforderungen moderner Arbeitsprozesse.

Der Filmwissenschaftler Markus Stigleggler erörtert, dass in der Postmoderne, der Auflösung der objektiven Wahrheit Mythen stark in das eigene Leben integriert würden. Auch deshalb geht es heute weniger um den Kampf gegen den Vampir wie in den klassischen Geschichten, sondern darum: „Wie vampirisiere ich mein Leben auf eine erotische Art?“ Die heutige Zeit bedeutet den Zusammenbruch von Ideologien und religiösen Wahrheiten und führt dazu, dass sich junge Menschen ihre Spiritualität selbst basteln. Der Vampir als Antiheld wird so das Idol der Einsamen und Verlassenen: Der heutige Vampir steht nicht mehr für Tod und Verwesung, sondern für ein „außerhalb des Normalen“ zu stehen, für Erneuerung und Ruhm, ein düsterer Ruhm wie ihn der Rockstar Marilyn Manson verkörpert.

Die Grenzen zwischen Vampirrollenspielern, Liebhabern düsterer Musik und sexueller Randerfahrungen zu Borderline-Patienten sind fließend. Viele therapierte Borderliner bewegen sich in der Vampirsubkultur, allerdings sind die düsteren Gefühle für sie kein Spiel. Die Motive, sich Vampirsubkulturen anzuschließen, reichen vom Interesse an Anne Rice oder Twillight über Nahtoderlebnisse bis zum Glauben, wirklich einer Rasse von Untoten anzugehören. Gefärbte Kontaktlinsen, historische Kostüme und Fangzähne, die Haut aufritzen und Blut zu trinken, sind verbreitet, als Gemeinschaftsritual oder zur sexuellen Erregung. Der Kriminalbiologe Mark Bennecke sieht darin vor allem ästhetischen Fetischismus. Potenzielle Mörder und andere pathologische Formen sind absolute Ausnahmen.

Die Psychologin Katherine Ramsland fasst die Vampirfigur so zusammen: „Das Monster gehört mir!“ Wir würden der Absicht des Vampirs, uns zu zerstören, ein erotisches Wesen verleihen, wir liebten das Wesen, das uns ausbeutet. Und während wir alles täten, um ihn zurückzuhalten, wollten wir gleichzeitig, dass ein anderer Vampir seinen Platz einnimmt. Als Grenzerfahrung sei der Vampir eine Möglichkeit, die gesellschaftlichen Grenzen zu überwinden, die das Leben ersticken. Wir behaupten zwar, Ausbeutung abzulehnen, räumten ihr aber im geheimen einen Platz ein. Für junge Menschen, die sich machtlos fühlten und keine Chance sähen, ihr Leben planvoll zu gestalten, stünde der Vampir für die Macht über die Verhältnisse und die Körperlichkeit, die diese Menschen nicht empfänden. So spielt in heutigen Vampirszenen der Energievampirismus eine entscheidende Rolle. Manche wollen lernen, zu manipulieren und damit die psychische Energie anderer zu nehmen, andere vom Vampirismus Angezogene fühlen sich als Opfer dieses Energiesaugens – Opfertäter und Täteropfer. Sie alle erleben, wie ihnen auf dem Arbeitsmarkt die Lebenskraft entzogen wird, ohne dass sie einen Zugriff auf das Produkt ihrer Arbeit haben, „saugen“ aber zugleich die Lebenskraft anderer: Die Vampirszene ist eine Mittelschichtskultur, deren junge Generation den Abgrund hinter den bürgerlichen Werten, die Ausgrenzung der sozialen Underdogs verstanden hat, sich aber nicht als Revolutionäre versteht, um diese Verhältnisse zu ändern. Auf ihrer Suche nach Wahrheit stellen sie sich im Sinne C.G. Jungs dem Teufel und beziehen ihn mit ein, blicken, frei nach Nietzsche, in den Abgrund, der gleichzeitig in sie hineinblickt. Der gefallene Engel, der Vampir, wird zur Transformation des Schattens in die körperliche Welt, und damit zu einer Form der Erkenntnis.

Hinzu kommt eine Sehnsucht nach Geborgenheit, die Jugendliche in der Alltagswelt und in zerrissenen Familien nicht finden: Denn einer der Aspekte der Vampirkultur sei, laut Ramsland, der, dass der Meister seinen Untergebenen völlig aufnähme. Lust an der Unterwerfung ginge einher mit dem Bedürfnis nach Behütung. Dabei bietet der Vampir einen Rahmen, um einen Blick in den Abgrund zu werfen und Ängste ebenso wie die Wünsche auszuleben. Der Vampir steht für ungezähmte Gefühle in einer Gesellschaft, in der „Leben“ bedeutet, in das Einkaufszentrum zu gehen und Fernsehen zu gucken. Dafür steht auch das Blut trinken des Vampirs, sich selbst zu verletzen, im Wortsinn zu öffnen, das Risiko der Emotionen einzugehen gegen die Langeweile der Verhältnisse.

Die Psychologin Barbara Kirwin sieht die Vampirsubkultur westlicher Jugendlicher als Abgrenzung zu den Eltern. Heutige Erwachsene versuchen demnach, für immer jung zu bleiben, die Musik, die sie hören, ist ähnlich wie die der Teenager. Damit saugen sie die Jugend ihrer Kinder. Ein Selbstausdruck als Vampire wäre eine Reaktion darauf: als kranke Kinder der Verhältnisse. Die jugendlichen „Vampire“ erleben sich als Außenseiter. Sie trauen der Politik und der Gesellschaft nicht. Der Anne Rice Vampir Louis mit seiner Melancholie und sein Schöpfer, der egomanische Lestat, bieten Identifikationsmuster an. Lestat ist ein Rockstar, eine Gottheit in einer Zeit, in der es keine Götter gibt. Zudem gibt die Subkultur einen Rahmen für sexuelle Initiation: Blutfetischismus, S/M Szene und Vampire überschneiden sich. Virtueller Sex ist heute zwar allgegenwärtig, es fehlen aber Initiationen für den Eintritt in die Sexualität: Die bietet die Vampirszene mit Kleidungscodes, einer eigenen Sprache und ritualisierten Rollenspielen und außerdem eine Gemeinschaft, in der Grenzen ausprobiert werden. Die Subkultur wird Familienersatz: Es ist kein Zufall, dass sich Vampirrollenspieler in „Clans“ organisieren. Der Vampir ist ein Grenzgänger, auch bisexuelle Erfahrungen, Androgynität, das Spiel mit Geschlechterrollen, lassen sich in ihm ausdrücken. Eine unsterbliche Figur wie der Vampir suggeriert die Ausdehnung von Wünschen bis in die Unendlichkeit in einer Gesellschaft, in der alles immer schneller geht.

Twillight – Die Bis(s)- Romane

Das „Dazwischen Stehen“, in einem Zwielicht, einem Twillight zu leben, ist eine Erfahrung, die jeder Jugendliche macht: Wie der Vampir steht er zwischen Leben und Tod, der vergangenen Kindheit und dem zukünftigen Erwachsenendasein. Das erklärt, warum junge Mädchen verrückt sind nach „Twillight“ –Vampiren wie Edward in Stephenie Meyers Bis(s) Romanen, sie sehnen sich nach unsterblichen Lovern, die übermenschliche Kräfte und Charisma aufweisen. Und Edward ist ein ewiger Jugendlicher, ein unsterblicher 17jähriger.

Menschen suchen Projektionsflächen da, wo reale Sicherheiten fehlen. Gerade bei Twillight wird sogar eine puritanische Moral deutlich. Edward ist anders als die anderen Jungen, die das Mädchen Bella bisher kennen lernte, schön und geheimnisvoll. Doch dieses Raubtier bezähmt gegenüber Bella nicht nur seine Sexualität, sondern auch seinen Blutdurst. Und, wenn er das schafft, so die Botschaft, kannst du es zumindest schaffen, bis „zum Richtigen“ keusch zu bleiben. Edward betont, dass er aus einer Zeit kommt, in der sich ein Junge bei den Eltern seiner Angebeteten vorstellen musste: Erst im vierten Band bringt Bela ein Halbvampirkind von ihm zur Welt. Stephenie Meyers Erfolg liegt im Zusammenspiel von gegensätzlichen Welten: Eine prüde Geschichte um die reine Liebe spielt in der Welt der Vampire und Werwölfe, im Reich des Todes, des Blutes und den Abgründen der Lust. Das Wesen dieses Abgrunds entpuppt sich als Gentleman, der seine Angehimmelte vor seinen vampirischen Sexualtrieben, seiner Blutgier schützt: Der Vampir als Minnesänger vor seinem Burgfräulein, nur, dass er, und nicht sie sich verweigert. Stephenie Meyer fasst es so zusammen: „ (Vampire) sind die Popstars im Gruselkabinett: attraktiv, klug, cool und wohlhabend. Aber sie wollen dich töten. Und wir wollen sein wie sie, doch was sie wollen, fürchten wir.“
Es könnte sich bei dem Megahype um „Bis(s)“ um eine Gegenbewegung zur so genannten Generation Porno handeln. Virtueller Sex ist per Mausklick erreichbar, in allen Variationen. Tätowierungen sind Mainstream, ebenso S/M-Parties. Keinen Sex zu haben oder bis zum „Richtigen“ zu warten, wäre das Besondere für Jugendliche, für die Sex Konsum und Alltag ist. Tatsächlich nimmt in den USA die Zahl der Keuschheitsgelübde zu. Und auch in Deutschland scheint es eine Tendenz zu einem Neo-Biedermeier zu geben. Die Suche nach dem „starken Mann“, der seine Geliebte auf Händen trägt, ohne sie anzurühren, wirkt interessant, wenn Sexualbeziehungen unübersichtlich werden. Bei Twillight kasteit sich Edward, um Bella vor seiner Vampirsexualität zu schützen. Denn, so der Kernsatz: „Der Löwe verliebte sich in das Lamm.“ Da der Vampir Bella liebt, ist sie kein Opferlamm, sondern das Raubtier wird Beschützer: Erst nach der Hochzeit will Edward Bella in einen Vampir verwandeln. Nur, wer ewig lebt, kann ewig lieben. Der Kunstgriff bei Twillight besteht darin, aus der subversiven Vampirfigur, seit dem 18. Jahrhundert eine Chiffre für psychische und sexuelle Tabus, ein christlich-konservatives Erziehungsstück zu formen, gegen das die Oswald Kolle Filme Hardcore-Pornographie sind. Dabei ist Edward nicht nur sexuell ein „guter“ Vampir: Er muss Blut trinken, trinkt aber nur Tierblut. Twillight bietet hier eine moralische Identifikationsfigur an: Töten und Blut, das heißt, Energie saugen, aber nur so viel wie nötig. Ihm stehen die „bösen“ Vampire gegenüber, gegen die Edward kämpft. Das einfache Strickmuster scheint ein verbreitetes Bedürfnis nach konservativen Werten, dem „richtigen“ Mann zu berühren: 40 Millionen Leser weltweit sprechen für sich.

Die Faszination des ewigen Vorspiels verweist darauf, dass der Vampir in seiner nicht entschärften Form für Sex steht: Bereits in der Serie True Blood, die auf RTL II läuft, geht es, was Sex & Crime angeht, härter zur Sache. Der Biss des Vampirs, der Blutdurst, lassen sich als verschlingende Sexualität deuten. Während die Gothic Novel den Akt nur andeutete, gehört heute, außer bei Twillight, heftiger Sex zum Genre. Bereits die Opfer des Grafen Dracula geben sich hin, um mit dem „Kuss des Todes“ belohnt zu werden – die viktorianische Leserschaft wusste, was gemeint war. Der Filmwissenschaftler Roy Frumges kommentiert die heutige Welle trocken: „Der Werwolf ist der Manisch-Depressive, der Vampir der Sexsüchtige. Beides sind Grundmotive der heutigen Zeit.“ Die Leserinnen der Vampirstories sind denn auch weniger bei Horrorfreaks zu finden, sondern bei „normalen“ Frauen zwischen 15 und 30.

Die Faszination, die die dunkle Seite ausübt, lässt sich über den Vampir befriedigen. Dabei hat sich die Figur verändert: Die literarischen Vampire im Gefolge Draculas waren Feinde alles Menschlichen, Wesen des Teufels, der populäre Vampir der Postmoderne ist ein Gentleman, ein tragischer Außenseiter, ein Individuum in einer Zeit, in der die Individualität verschwindet. Im Turbokapitalismus, dem die verbindenden Rituale und Sicherheiten fehlen, bekommt der Vampir eine neue Rolle: Er wird ein Symbol für zeitlose Beständigkeit. Denn der Vampir ist zwar vom Blutdurst getrieben, bleibt aber in seiner Unsterblichkeit immer gleich. Fantastische Figuren sind Sinnbilder für die Bedürfnisse und Ängste von Menschen. Zum Problem wird es, wenn Menschen Symbol und Wirklichkeit nicht mehr voneinander trennen können – und in manchen „Vampirzirkeln“ besteht diese Gefahr.

David Wellington zeigt den Gegenpol zu „Twillight“: Seine Vampire sind mordende Bestien, denen jede Romantik fehlt. Wer sich die zum Vorbild nimmt, hat ein psychisches Problem. Menschen werden aber auch in Zukunft über den Tod nachdenken und sich nach dem ewigen Leben sehnen. Der Vampir, der Tote, der in die Welt der Lebenden eintritt, wird uns deshalb erhalten bleiben.

Literatur:

Utz Anhalt: Der Werwolf. Ausgewählte Aspekte einer Figur der Mythengeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Tollwut. E-Text im historicum net unter hexenforschung.

Norbert Borrmann: Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Kreuzlingen / München 1998

Nathan Schwartz-Salant: Die Borderline Persönlichkeit. Vom Leben im Zwischenreich. Düsseldorf und Zürich 1992.

Claude Lecouteux: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. Düsseldorf 2001

Christa A. Tuczay: Die Herzesser. Wien 2007.

Dieter Sturm; Klaus Völker (Hg.): Von denen Vampiren. München 1994.

Katherine Ramsland. Vampire unter uns. Köln 1999.

Richard Noll: Vampires, Werewolves and Demons. Twentieth-Century Reports in the Psychiatric Literature. New York 1992.

Hans Meurer: Der dunkle Mythos. Blut, Sex und Tod. Die Faszination des Volksglaubens an Vampyre. 1996.

Menschen und andere Tiere

Rezension Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.)

Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen

Krähen stellen Werkzeuge her, um Maden zu angeln, Schimpansen erkennen sich im Spiegel, Elefanten trauern um ihre Toten, Gorillas entwickeln Traditionen. Die, laut Noam Chomsky, angeborene menschliche Grammatik erscheint als letzte Bastion der menschlichen Einzigartigkeit. Vom planvollen Handeln über den Werkzeuggebrauch, vom Bewusstsein, ein Selbst zu haben, von Hineinversetzen in einen Anderen bis zur sinnvollen Anwendung von Symbolen verwischt die Grenze zwischen Mensch und Tier. Darwin löste einen Aufschrei aus, als er erkannte, dass Menschen aus Tieren entstanden und Arten veränderbar sind. Im Darwin-Jahr 2009 rückte die Bedeutung der Evolution für das Bild vom Menschen und das Mensch-Tier-Verhältnis in die Öffentlichkeit. Der Philosoph Peter Singer stieß 1975 mit „Animal Liberation“ und der Forderung nach Menschenrechten für die großen Menschenaffen die Debatte um Rechte für Tiere an.

Über die Kritik am Mensch-Tier-Verhältnis herrscht in der Öffentlichkeit meist Unklarheit. Mit „Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen“ ist beim transcript Verlag Bielefeld ein Sammelband zu dieser Debatte erschienen, der bewusst Partei ergreift. Der Ausgangspunkt ist, dass Probleme erst durch das Beziehen eines Standpunktes in den Fokus rücken; die Kritik an der Menschenzentriertheit, dem Anthropozentrismus vergleicht der Arbeitskreis insofern mit dem Klassenkampf bei Marx und der feministischen Debatte. Speziesismus als Konstruktion der Ungleichheit zwischen „menschlichen und nichtmenschlichen Tieren“ wird als Herrschaftskonstrukt wie Rassismus und Sexismus erörtert. Dabei führt die Einleitung in die Philosophiegeschichte des Mensch-Tier-Verhältnisses ein.

Die Beiträge stehen der Tierbefreiung nahe, sind aber interdisziplinär. Der Soziologe Sven Wirth fragt, ob die Machtkonzepte von Foucault auf das Mensch-Tier-Verhältnis anwendbar sind. Der Ethnologe Markus Kurth setzt sich mit Artikulationen der Tiere auseinander. Die Historikerin Mieke Roscher zeigt die Möglichkeiten einer Geschichtsschreibung der Tiere und untersucht die bildliche Selbstdarstellung der Tierrechtsbewegung. Der Sozialwissenschaftler Andre Gamerschlag plädiert dafür, den Ansatz der Tripple Oppression, also der Verbindung zwischen Klassenwiderspruch, Sexismus und Rassismus auf eine Unity of Oppression auszudehnen, die das Mensch-Tier-Verhältnis erfasst. Er bezieht sich dabei auf Intersektionalität, die Verwobenheit von Ungleichheits- und Machtbeziehungen. Dazu zählt er nicht nur die Tötung und Ausbeutung von Tieren, sondern auch die Abwertung von Menschengruppen über das Konstrukt Tier. Die Politologin Sabine Hastedt skizziert die Gemeinsamkeit zwischen der Konstruktion der Geschlechter-Bipolarität und der entworfenen Andersartigkeit von Mensch und Tier. Die Politikstudentin Swetlana Hildebrandt ergänzt diesen Ansatz durch eine Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnisses aus Queer Perspektive. Die Politologin Andrea Heubach verbindet Tierrecht und Sexismuskritik und kritisiert sexualisierende Muster innerhalb der Tierrechtsbewegung. Die Philosophin Aiyana Rosen widmet sich der Zeitgeschichte der Tierbefreiung vom Protest von 1980-1995. Mehrere AutorInnen schließen die Anthologie mit einem Beitrag über die Verbindung zwischen Hardcore-Musikszene und Veganismus. Der Schwerpunkt liegt auf Geisteswissenschaft.

Die Klärung des Standpunktes in der Einleitung ist wissenschaftlich redlich: Der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner wies darauf hin, dass das Verschleiern der eigenen Parteilichkeit hinter angeblicher Objektivität eine Mogelpackung ist, nicht aber ein offen gelegter Ansatz. Wichtig ist die Kritik am Dualismus, der, in der Tradition von Aristoteles, Tiere und Menschengruppen als voneinander getrennt konstruiert und sie auf- und abwertet. Dabei zeigen die AutorInnen im Detail auf, wie sich die Konstruktion und Abwertung des Tieres als das „Andere“, das „Unvernünftige“, das „nur Fühlende“ als roter Faden durch die abendländische Definition des Menschen zieht. Von Aristoteles bis zu Hobbes und von Descartes bis zu Kant und Heidegger ist die prinzipielle Grenze zwischen Mensch und Tier Grundlage von Theorien. Die AutorInnen schließen sogar, dass die konstruierte Zweiteilung zwischen Mensch und Tier das zentrale Element des abendländischen Dogmas darstellt. Und dieses Dogma stellen sie radikal, von der Wurzel her, in Frage. Der Fokus auf das Mensch-Tier-Verhältnis aus dem Blickwinkel der Tierbefreiung ist als geisteswissenschaftlicher Diskurs bis auf Ausnahmen wie das von Susann Witt-Stahl herausgegebene „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen“ eine Pionierleistung. Die AutorInnen schaffen damit den Schritt in die wissenschaftliche Debatte statt „aus der Szene, für die Szene“ zu schreiben.

Eine Kritik am abendländischen Tierkonstrukt ist ein mutiges Unterfangen. An Säulenheiligen wie Aristoteles zu kratzen, dürfte massive Gegenwehr hervorrufen. Die Kritik ist wichtig, richtig und notwendig: Eine Legitimation für Völkermord und Kolonialismus, vom Christentum über die Versklavung Afrikas bis hin zum Nationalsozialismus war die Kennzeichnung der „Anderen“ als Heiden, Barbaren und Wilde, also als tierhafte Menschen. Die Kritik am Tierkonstrukt ermöglicht nicht nur, grausames Vorgehen gegen Tiere zu kritisieren, sondern Faschismus- und Rassismuskritik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Rassismuskritik erkannte die Unterscheidung zwischen höher- und minderwertigen „Menschenrassen“ als Motor, den verächtlich Gemachten das Menschenrecht abzuerkennen. In der Aufarbeitung des Nationalsozialismus kritisierte die Linke die Gleichsetzung von Menschen mit Tieren, so von Juden und Ratten. Die Trennung von Zivilisierten und Wilden ist Grundlage des Rassismus. Die AutorInnen erkennen als Fundament dieser Abwertung die Abwertung der nichtmenschlichen Tiere und stellen die entworfene Mauer zwischen Menschen und Tieren als Ideologie in Frage. Darin, diese Frage aufgeworfen zu haben, liegt die Stärke des Buchs.

Die Schwäche besteht darin, in der Kritik am abendländischen Tierkonstrukt andere Weltvorstellungen kaum zu untersuchen. Interkulturelle Philosophie wie von Franz Martin Wimmer ist wie die Kritik am Mensch-Tier-Verhältnis eine Pionierwissenschaft. Der „Mythos vom Zivilisationsprozess“ Hans Peter Duerrs wäre ebenso zu berücksichtigen wie das philosophische Konzept von „Mutter Erde“ amerikanischer Kulturen, das dem Dualismus diametral gegenübersteht. Aristoteles Mauer zwischen Mensch und Tier richtete sich explizit gegen Kulturen, die sich nichtmenschlichen Tieren verbunden fühlten und versuchten, diese Verbindung durch Rituale herzustellen. Heide, Barbar, Savage, Wilder bezeichnete die, die Tiergeister verehrten; bei Jägern und Sammlern bedeutet, zum Leopard oder Wolf zu werden, nicht weniger, sondern mehr als ein Mensch zu sein. Die Auseinandersetzung mit Kulturen, die Tiere als Partner, Freunde und sogar Lehrer betrachteten, gehört zum Mensch-Tier-Verhältnis dazu. Andre Gamerschlag setzt sich zum Beispiel mit diskriminierenden Vertierungen wie „Freiwild“ auseinander, erörtert ehrende Tierbegriffe für Menschen wie „schlauer Fuchs“, „gemütlicher Bär“ oder „schlanke Gazelle“ aber nicht. Dabei verweist der sprachliche und bildliche Bezug auf Tiere gerade in der Allgegenwart seiner Facetten auf die Unmöglichkeit, Menschen und Tiere getrennt zu denken. Denn das Denken mit Tieren, das Lernen von Tieren ist ein Fundament der Kultur. Die Entwicklung des Tieres vom Gott zum Ding ist eine zentrale Frage der historischen Anthropologie. Der Titel des Buchs selbst verweist darauf, dass auch im Abendland das Verhältnis zum „Tier“ nicht nur abwertend ist. Das lateinisch-englische Animal leitet sich ab von Seele, Bewusstsein, Leben und belegt auch im Abendland die Wahrnehmung des Tieres als beseeltes Lebewesen mit Bewusstsein. Eine Trennschärfe zwischen negativen Begriffen vom Tier wie der Bestie und positiven wie Animal wäre wünschenswert gewesen.

Zu einer Kritik am Dualismus, der Mensch und Tier trennt, gehört eine Untersuchung des Monismus, der Tiere und Menschen als Einheit betrachtet im frühen Judentum, bei Jägern und Sammlern, den Jainiten Indiens und im heutigen evolutionären Humanismus. Zum Beispiel kannten amerikanische Kulturen, von den Inkas bis zu Indigenen Alaskas, keine undurchlässige Grenze zwischen Mensch und Tier. Im Gegenteil glaubten amerikanische Ureinwohner, dass Tiere ihre Verwandten sind. In diesem Punkt standen die zu „Wilden“ Entwürdigten den Tatsachen der Evolutionsgeschichte viel näher als das abendländische Herrschaftskonstrukt.

Darin liegt die zweite Lücke des Sammelbandes: Nichtmenschliche Tiere gehören nicht nur zur Kulturgeschichte des Menschen untrennbar dazu. Auch das Tier mit dem aufrechten Gang und dem großen Gehirn ist ein Produkt der eben nicht gesellschaftlichen, sondern biologischen Geschichte der Evolution des Lebens. Menschliche Kultur und biologische Evolution stehen im Wechselspiel. Zum Darwinjahr erschien eine Vielzahl von Veröffentlichungen über die Konsequenzen der Evolutionsbiologie für das Bild und den Begriff vom Tier. Ein Bezug auf diese Kontroverse, zumindest auf die Kritik am christlichen Dualismus von Richard Dawkins und die ethischen Konsequenzen, die Michael Schmidt-Salomon zieht, hätte die Anthologie ergänzt. Das Fehlen der Diskussion verweist darauf, dass die Kommunikation zwischen kritischer Geisteswissenschaft und Evolutionsbiologie mit Scheuklappen besetzt ist.

Allein, diese Lücken nach der Lektüre zu erkennen, verweist auf die Qualität der Beiträge. Eine Auseinandersetzung mit dem Tierkonstrukt im Abendland allein würde etliche Forscherleben füllen. Wer wissenschaftlich in kaltes Wasser springt und schwimmen lernt, hat es nicht verdient, Ohrfeigen zu bekommen, weil er sich nass gemacht hat. Als Einstieg in die kritische Auseinandersetzung mit dem Mensch-Tier-Verhältnis ist die Anthologie gut geeignet.

Der ungebrochene Vertrag – Die deutsch-indianische Freundschaft / with translation

Hernando Cortez eroberte 1519 mit einer Handvoll Spaniern, Feuerwaffen, Eisenrüstungen und Pferden das Reich der Azteken. So die koloniale Geschichtsschreibung, die der Historiker Eduardo Galeano beschreibt als „Helden in Karnevalskostümen, die auf Schlachtfeldern sterben.“ Wie Napoleon, bei dem Brecht fragte, ob er nicht einmal einen Koch dabei hatte, bezwang der Raubritter Mexiko nicht allein, sondern mit 80 000 indianischen Soldaten. Noch weniger heldenhaft für die katholischen Herrenmenschen sind indigene Freischärler, die im 18. Jahrhundert die Ausdehnung des Weltreichs verhinderten und sich vom Plündern der neuspanischen Bauern ernährten – mit der Einwohnerzahl einer Kleinstadt.

Das Pferd hatte die Eroberung Mexikos ermöglicht. Mit dem Pferd brachten die Conquistadoren aber ihre Nemesis nach Texas. 1620 revoltierten die Pueblos Arizonas gegen ihre spanischen Ausbeuter. Die Pferde kamen frei und vermehrten sich auf hundert Tausende. Das Pferd revolutionierte die Kulturen der Great Plains. Die Entfernungen schmolzen zusammen; Pferde trugen größere Lasten als Hunde. Die Comantschen waren die Underdogs unter den Indigenen gewesen, „gruben Wurzeln in den Bergen“, wie einer von ihnen es nannte. Sie hatten nichts zu verlieren, aber die Prärien zu gewinnen und nutzten das Pferd total. Für Reiterjäger war Texas, die Serengeti Amerikas ein Paradies; Bisonherden und Gabelböcke bedeckten die Erde. Augenzeugen erkannten die, neben den Mongolen, besten Reiter der Welt. Um 1750 kontrollierten die Bisonjäger ein Territorium von der Größe Deutschlands. Ihre Gruppen umfassten insgesamt nie mehr als 20 000 Menschen. Nordttexas heißt auf alten spanischen Landkarten Comancheria – No Go Area.

Die Chinesen errichten ihre Mauer, um sich vor den Mongolen zu schützen. In Nordmexiko gab es keine Mauer; die Gehöfte waren den Comantschen Selbstbedienungsläden. Nach Freibeutermanier zogen sie die Grenze zwischen Handel und Raub je nach Stärke oder Schwäche des Gegenübers. Ein Comantsche spottete, sie rotteten die Spanier nicht aus, damit die für sie Pferde züchteten.

Die spanische Armee mit Eisen und Musketen erschien im ritualisierten Krieg der Azteken mit ihren Obsidianwaffen unschlagbar; gegenüber den Comantschen war sie ein Bär, der einen Wespenschwarm jagt. In der Zeit, in der ein Schütze seine Muskete lud, schoss ein Comanche zehn Pfeile ab und verschwand. Verrostete Rüstungen zeugten von den Strafexpeditionen; die „Hell´s Angels der Plains“ zogen sich zurück; ihre Verfolger verdursteten.

Texas und die Comantschen

Ihren Meister fanden die Herren der Plains in den Texanern. Die hatten 1836 ihre Unabhängigkeit von Mexiko erkämpft. Die Unterschiede zwischen Bisonjägern und christlichen Siedlern waren gewaltig; fatal waren ihre Gemeinsamkeiten. Sie hätten Verbündete sein können: Die fruchtbaren Böden brauchten die Comantschen nicht; das Bisonland schien für Landwirtschaft ungeeignet. Mexiko war gemeinsamer Feind. Sie waren aber beide Pioniere, aus dem Nichts aufgestiegen; beide arrogant, beide gewalttätig. Kompromisse waren ihnen fremd. Die Texas Rangers warfen die Säbel weg und führten Samuel Colts Revolver ein; damit waren sie den Comantschen überlegen. Sie führten vierzig Jahre Krieg, bei denen sich Comantschen und Texaner an Grausamkeit in nichts nachstanden.

Der letzte Comantschen-Führer im Widerstand war ein Halbblut, Quanah Parker. 1874 hatten sich seine Kwahadis in den Liano Estacado zurückgezogen und kämpften an allen Fronten, gegen die US-Army, gegen die weißen Bisonjäger die mit Sharp-Rifles die Wildrinder ausrotteten, gegen die Lynchtrupps der weißen Siedler. Colonel Ronald Mackenzie vernichtete ihre Wintervorräte im Palo Duro Canyon und 1875 ergab sich Quanah. Er bewies sich als Rinderzüchter und Politiker und starb als reichster Indianer Amerikas.

Der Friedensvertrag

Otfried Hans Freiherr von Meusebach zog mit deutschen Einwanderern des Mainzer Adelsvereins 1845 nach Texas und gründete Neu-Braunfels und Friedrichsburg, Fredericksburg – nach Friedrich, Prinz von Preußen. Ursprünglich wollte der Verein ein Neu-Deutschland gründen; das scheiterte am Beitritt von Texas zu den USA 29.12.1845. Die Bauern verhungerten fast. Sie suchten Boden, der ihrer Heimat ähnelte und fanden ihn in der Nähe von New Braunfels. Das Land lag auf Comantschengebiet. Meusebach wollte den Indianern weder mit Feuer und Schwert das Evangelium predigen noch Land rauben, sondern in Frieden Ackerbau betreiben. Die Indianerpolitik William Penns beeinflusste ihn. Der setzte, wie Thomas Jefferson, auf friedliches Zusammenleben und lehnte Eroberung ab.

Meusebach kündigte an, mit dem Comantschen Santa Ana einen Friedensvertrag schließen zu wollen. Die Texaner verlachten ihn: „Das Einzige, was Sie finden, ist ihr Grab.“ Wer das Schwert nimmt! Niemand war auf die Idee gekommen, mit den Comanchen zu reden. Das Unmögliche wurde real: Die Einwanderer verpflichteten sich, Feldfrüchte gegen Wildfleisch zu tauschen und sich gegen Überfälle Dritter zu helfen. Am 7. Mai 1847 schlossen Meusebach und zwanzig Comantschenführer einen Friedensvertrag. Der Freiherr sagte: „Wenn (…) wir uns (…) kennen lernen, dann mag es vorkommen, dass einige heiraten (…). Ich schätze meine roten Brüder nicht geringer, weil ihre Haut dunkler ist (…).“

Waren die Comantschen „wild“, weil die Texaner die Gleichheit des rauchenden Colts durchsetzten und die Antwort bekamen? Mitten in den Gemetzeln blieb das Vertragsgebiet eine Oase des Friedens. Im Bürgerkrieg landeten Meusebachs Anhänger im Gefängnis: Die Gegner der Sklaverei weigerten sich, für die Südstaaten zu kämpfen.

Als einziger Vertrag mit Indianern in der Geschichte der USA wurde der Friedensvertrag von den Europäern nie gebrochen. Jedes Jahr feiern die Comantschen und die Nachfahren der Einwanderer am zweiten Maiwochenende ihre Freundschaft.

Hermann, der Indianer

Das Leben an der Grenze gebar Grenzgänger. Der schillerndste Sohn der deutschen Einwanderer war Hermann Moctechema Lehmann. Apatschen entführten ihn und seinen Bruder Willie. Willie konnte fliehen, der Apatsche Carnoviste adoptierte Hermann und nannte ihn En-Dah, weißer Junge. Er wurde Apatsche. Abenteuer prägten sein Kriegerleben, bis ein verfeindeter Medizinmann Carnoviste tötete. Hermann erschlug den Mörder und versteckte sich in einem Canyon, bis er die Einsamkeit nicht mehr aushielt.

Er sprach einen Comantschentrupp an. Hätten sie ihn als Apatschen betrachtet, wäre das sein Ende gewesen; Comanschen und Apachen waren Todfeinde. Der weiße Apatsche Hermann wurde der Comantsche Moctechema und stieg zum Kriegshäuptling der Kwahadi auf. Die leisteten bis zuletzt Widerstand gegen die USA. Die weißen Bisonjäger rotteten die Bisons aus; die Comantschen hatten keine Lebensgrundlage. Moctechema ergab sich mit der letzten freien Gruppe 1875. Der Indianerschlächter Mackenzie sah das blonde Haar unter der Bisonkappe und „befreite“ Hermann. Der hatte keine Lust, zu seiner texasdeutschen Familie zurückzukehren. In Friedrichsburg machte Willie seinen Bruder mit dem Weg des weißen Mannes vertraut. Das freie Leben hatte ihn geprägt; nach Alkoholexzessen und Schlägereien warf die christliche Gemeinschaft den jungen Wilden hinaus. Hermann wurde Fuhrunternehmer, dann Saloonbesitzer. Erst 1890, als er seine zweite Frau kennen lernte, nahm er das Los eines Ackerbauern auf sich. Er starb 1932, im Alter von 72 Jahren.

Krieg oder Frieden?

Meusebachs Beispiel setzte sich nicht durch. Die Indigenen von Texas wurden in das Indianerterritorium, Oklahoma gesperrt oder ausgerottet. Die Comantschen waren um 1900 in erbärmlichen Reservaten dem Hungertod nah. Heute leben sie um Lawton, Oklahoma. Ihre Kriegervergangenheit halten viele durch Dienst in der US-Army lebendig. Aktivisten des American Indian Movement kritisieren, dass diese „Krieger“ für die imperialistischen Kriege des Staates kämpfen, der ihnen ihr Land stahl und ihre Kultur zerstörte.

George W. Bush kommt aus der Tradition der Texas Rangers „nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer“. Er griff beim Überfall auf Afghanistan auf die Sprache der Comantschenkriege zurück. Hätten sich Meusebachs, Jeffersons und Penns Vorstellungen durchgesetzt, wären die USA heute ein anderes Land, demokratischer, weniger rassistisch, weniger aggressiv. Stattdessen pferchte die US-Army Indianer in Reservate und besetzte die Erdölquellen. Ein fairer Umgang mit dem Anderen statt Indianerskalps zu sammeln und Napalmbomben zu werfen? Mit den Menschen im Irak verhandeln, statt Söldner durch Bagdad marodieren zu lassen? Die Welt wäre eine andere. Der Leitspruch des Staates Texas ist Freundschaft: An diese Tradition des demokratischen Gemeinwesens statt Weltherrschaft gilt es, anzuknüpfen. Auch die Gemeinde, die sich friedlich mit dem Nachbarn austauscht, gehört zur Geschichte der USA.

Deutsche und Comanschen heute

De Comantschen besinnen sich heute auf ihre Geschichte und gründeten ein Stammesmuseum. Deutsche genießen bei Comantschen einen guten Ruf. Der Comantschin Martina Minthorn fällt auf, dass deutsche Besucher ein tieferes Interesse an indianischer Kultur zeigen als US-Amerikaner. Nirgendwo außerhalb Amerikas gibt es mehr „Wochenendindianer“ als hier. Der Apatsche Geronimo musste für das Pseudonym eines Autonomen herhalten und die Mescaleros für den Buback-Nachruf, die Nazis halluzinierten im Widerstand der Indianer „Blut und Boden“, die SED-Oberen imaginierten die Speerspitze gegen den US-Imperialismus. „Dusty“, der in Erfurt ein „Indian Camp“ leitet, sagt über den Ursprung seines Interesses nicht: „gegen den Imperialismus kämpfen“, sondern: „Durch Karl May wie alle Deutschen“. In Frederiksburg und New Braunfels, dem „german belt“ sprechen die Einheimischen Texasdeutsch. Comantschen feiern in New Braunfels mit „friendly texans dressed in lederhosen and dirndles“ „the wurstfest“, „fun, fellowship and german gemuetlichkeit“, so ein Werbeflyer. Die in Deutschland gebliebenen Verwandten der Einwanderer hängen sich Traumfänger in das Auto und fahren zu den Karl May Festspielen.

The Unbroken Treaty – The German-Indian Friendship

Hernando Cortez conquered the kingdom of the Aztecs in 1519 with a handful of Spaniards, firearms, iron armor and horses. Or so it is presented in the historical annals that historian Eduardo Galeano describes as “heros in carnival costumes who die on the battlefield.” Like Napoleon, concerning whom Brecht asked did he not even have a cook with him, the robber barons defeated Mexico not alone but with 80,000 Indian soldiers. Even less heroic for the Catholic aristocrats were indigenous volunteers who in the 18th Century, prevented the expansion of the empire and fed themselves from looting the New Spain farmers – with the population the size of a small town.

The horse had made possible the conquest of Mexico. With the horse the conquistadors however brought their own nemesis to Texas. In 1620, the Pueblos of Arizona revolted against their Spanish exploiters. The horses were released and multiplied a hundred thousand. The horse revolutionized the culture of the Great Plains. The distances melded together; horses bore heavier loads than dogs. The Comanches were the underdogs among the indigenous people who “dug roots in the mountains,” as one of them described it. They had nothing to lose but to win the prairies and fully use the horse. For equestrian hunters, Texas, America’s Serengeti, was a paradise; herds of bison and pronghorn covered the earth. Eyewitnesses observed those who were, next to the Mongols, the world’s best riders. By 1750, the buffalo hunters controlled a territory the size of Germany. Their group included a total of no more than 20,000 people. North Texas was called Comancheria on old Spanish maps – “no go area”.

The Chinese built their wall in order to protect themselves from the Mongols. In northern Mexico, there was no wall; the farms were the Comanches self-service stores. In buccaneer style, they drew the line between commerce and robbery according to the strength or weakness of the opponent. One Comanche mocked, they didn’t exterminate the Spaniards, in order for them to keep breeding horses.

The Spanish army with muskets and iron, who in ritualized warfare beat the Aztecs with their obsidian weapons, were to the Comanches a bear chasing a swarm of wasps. During the period in which a rifleman loaded his musket, a Comanche shot ten arrows and disappeared. Rusty armor testified to the punishing expeditions; the “Hell’s Angels of the Plains” withdrew; their pursuers died of thirst.

Texas and the Comanches

The Lords of the Plains found their masters in the Texans. They had won their independence from Mexico in 1836. The differences between bison hunters and Christian settlers were enormous; their similarities were fatal. They could be allies; the fertile land was not occupied by Comanches and the bison country seemed unsuitable for agriculture. Mexico was the common enemy. But they were both pioneers who climbed out of nowhere, both arrogant, both violent. Compromises were alien to them. The Texas Rangers threw away the sword, and adopted Samuel Colt’s revolver, so that they were superior to the Comanches. They carried on forty years of war, in which Texans and Comanches were no less in their cruelty.

The last Comanche leader in opposition was half blood, Quanah Parker. In 1874 he withdrew his Kwahadis into the Liano Estacado and fought on all fronts, against the U.S. Army, against the white bison hunters who exterminated wild cattle with Sharp rifles, and against Lynch’s troops of white settlers. Colonel Ronald Mackenzie destroyed their winter stores in the Palo Duro Canyon and in 1875 Quanah surrendered. He proved himself as a cattleman and politician, and died the richest Indian in America.

The Freedom Treaty

Otfried Hans Freiherr von Meusebach recruited German immigrants to Texas on behalf of the Mainz Society for the Protection of German Immigrants in Texas and in 1845 founded New Braunfels and Fredericksburg; Fredericksburg was named in honor of Frederick, Prince of Prussia. The Society had wanted to found a new Germany, but that was denied by the accession of Texas to the United States, on December 29, 1845. The peasants almost starved. They searched for land similar to their home and found it near New Braunfels. The country was in the Comanche-occupied area. Meusebach did not preach the gospel to the Indians with fire and sword nor rob their land, but operated in peaceful farming. He was influenced by the Indian policy of William Penn. It is based, like Thomas Jefferson, on living together in peace and rejecting conquest.

Meusebach announced he wanted to make a peace treaty with Comanche Santa Ana. The Texans laughed at him: “..The only thing you’ll find is your grave.” He who lives by the sword! No one had come up with the idea of talking with the Comanches. The impossible became reality; the immigrants pledged with the Comanches to swap crops for wild meat and to help each other against attacks. Completed on May 7, 1847 Meusebach and 20 Comanche leaders signed a peace treaty. The baron said: “If (…) we get to know (…), then it may happen that some marry (…). I value my red brothers no less, because their skin is darker (…). ”

Were Comanches “wild” because the Texans prevailed on the equality of the smoking Colts and got the answer? Amid the carnage the treaty area was an oasis of peace. During the Civil War, Meusebachs’ followers landed in prison; the abolitionists refused to fight for the South.

As a singular treaty with the Indians in U.S. history, the peace treaty was never broken by the Europeans. Every year, the Comanches and the descendants of immigrants celebrate their friendship on the second weekend of May.

Hermann, the Indian

Life on the frontier gave birth to boundary crossers. The flamboyant son of German immigrants, Herman Lehmann was Moctechema. Apaches abducted him and his brother Willie. Willie was able to flee; the Apache Carnoviste adopted Hermann and named him En-Dah, “white boy”. He was Apache. Adventures contributed to his war experience, until a rival medicine man killed Carnoviste. Hermann killed the murderer and hid in a canyon until he could longer could stand the loneliness.

He hailed a Comanche hunting party. Had they recognized him as Apache, it would have been his end, since Comanches and Apaches were mortal enemies. The white Apache Hermann became the Comanche Moctechema and rose to war chief of the Kwahadi, the band that was the last to present resistance against the U.S.. The white bison hunters exterminated the bison; the Comanche had no livelihood. Moctechema gave himself up with the last free group in 1875. The Indian butcher Mackenzie saw the blonde hair under the bison cap and “liberated” Herman. Hermann had no desire to return to his Texas German family. In Fredericksburg was his brother Willie with the white man’s ways. The free life had shaped him, and after binge-drinking and brawling, the Christian community threw the young gun out. Hermann became a wagon hauler, then saloon owner. It was not until 1890, when he met his second wife, he became a farmer. He died in 1932 at the age of 72.

Meusebachs’ example did not prevail. The Indians of Texas were locked in the Indian Territory, Oklahoma or wiped out. The Comanches by 1900 were close to starvation in pitiful reservations. Today they live in Lawton, Oklahoma. Their warriors in the past kept many alive by serving in the U.S. Army. American Indian Movement activists complain that these “warriors” fought for the imperialist wars of the United States, that destroyed their land and culture.

George W. Bush comes from the tradition of the Texas Rangers – “the only good Indian is a dead Indian. “ He utilized the language of the Comanche wars in his attack on Afghanistan. Had the ideas of Meusebachs, Jefferson and Penn been followed, the U.S. would have become a different country, more democratic, less racist, less aggressive. Instead the U.S. Army herded Indians into Reservations and occupied oil wells. A fair exchange to spray napalm instead of collecting Indian scalps? Negotiation with the people in Iraq, instead of letting mercenaries maraude through Baghdad? The world would be different. The motto of the State of Texas is friendship: this tradition of the democratic polity must be built on instead of world domination. This community, which interacted peacefully with its neighbors, belongs to the history of the United States.

Germans and Comanches Today

Comanches are reflecting these days on their history and have established a tribal museum. Germans have good standing with Comanches. Comanche Martina Minthorn is struck by the fact that German visitors show a deeper interest in Indian culture than Americans. Nowhere outside of America are there more “Weekend Indians” than here. The Apache Geronimo came to serve as the pseudonym for autonomy and the Mescaleros for the Buback Obituary, the Nazi hallucinations of Indian “blood and land”, and the SED leadership imaginary spearhead against U.S. imperialism. “Dusty”, who leads in Erfurt “Indian Camp”, says about the origins of his interest come not from “struggle against imperialism”, but “through Karl May as with all Germans.” In Fredericksburg and New Braunfels, the “German belt” speaks the native Texas German. Comanche celebration in New Braunfels with “friendly texans dressed in lederhosen and dirndles” “the wurstfest”, “fun, fellowship and German Gemütlichkeit,” says an advertising flyer. The relatives of these immigrants who remained in Germany hang dream catchers in their car and drive to the Karl May Festival.

The KING CREATOR Rastafari in Afrika zwischen Emanzipation und Schöpfungsmythos.

“You said you love Hitler. Do you know that Hitler hated black people and murdered the jews?” “My friend, we know that all. But he had to. He was king creator, the pharao.”

Dialog mit einem Rastafari in Nungwi Beach auf der Insel Sansibar

Die Wirklichkeitsbegriffe eines deutschen Geisteswissenschaftlers sind andere als die eines Rastamanns aus Sansibar, Tansania oder Uganda.

Die Rastafarireligion zeigt neben dem Kampf der entrechteten Schwarzen als emanzipatorisches Element auch deutlich autoritäre Züge. Diese Ambivalenz wird hier beschrieben. Zudem wurde in einigen Gesprächen in Ostafrika die individuelle Verschiedenheit von Rastafari-Mentalitäten deutlich. Diese als europäischer Reisender und Historiker zu kennzeichnen, ist schwierig, da die Wirklichkeitsbegriffe eines deutschen Geisteswissenschaftlers andere sind als die eines Rastamanns aus Sansibar, Tansania oder Uganda. So kann es hier nur um eine Annäherung gehen.

Zur Geschichte: In den 1840ern waren sogenannte Native Baptists in Jamaika zur eigenständigen Religionsgemeinschaft neben dem weißen Christentum geworden. Sie vermischten christliche Vorstellungen mit afrikanischer Spiritualität, indem sie etwa die Inspiration durch den Heiligen Geist (analog zur animistischen Geistesbesessenheit) zum Bestandteil ihrer Gottesdienste machten und Johannes den Täufer als den Meister des Rituals über Jesus stellten (nach afrikanischen Vorstellungen sind Flüsse Heim der Schutzgeister). Im jamaikanischen Sklavenaufstand von 1831/32 diente die Bibel als Beleg für die Unchristlichkeit der Sklaverei. Das synkretistische Element dieses schwarzen Baptismus zeigte sich in der afro-jamaikanischen Interpretation, daß Sünde kein Übergriff gegen Gott, sondern Schadenszauber von Menschen gegen menschliche Gesellschaft, somit der Kampf gegen die Sünde (Ausbeutung, Manipulation, Machtmißbrauch, Versklavung) weltlich und nicht überirdisch sei.

Macht und Schadenszauber

Die Vorstellung eines Schadenszaubersdurch Schwarzmagier, im Swahili mwombe genannt, findet sich in afrikanischen Kulturen bis heute. Im Unterschied zur kirchlich ideologisierten europäischen Hexenverfolgung der frühen Neuzeit bezieht sich diese Definition jedoch nicht primär auf Angehörige unterpriveligierter und marginalisierter Gruppen, sondern vor allem auf die Ausübung von Macht mittels Terror und Manipulation durch undurchschaubare herrschende Institutionen und Individuen. In Haiti wurden noch im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die tontons macoutes, die Angehörigen von Duvaliers Geheimpolizei als Schadenszauberer angesehen.

Die afrikanische Bibel

Die Interpretation der Bibel, welche in Jamaika das einzig verfügbare Buch im 19. Jahrhundert war, führte zur Durchbrechung des weißen Realitätsgefüges und ermöglichte eine Kennzeichnung der afrikanischen Ursprünge der entwurzelten Sklaven.[1] Da die europäischen Sklavenhalter die Legitimation ihrer Herrschaft wie auch die jahrhundertelangen Deportationen von Afrikanern, den Geno- und Ethnozid in Amerika und die Kolonialisierung und Entrechtung der nichteuropäischen Welt mit der Notwendigkeit zur Bekehrung der “Ungläubigen” zum Christentum legitimiert hatten, schuf die Eigendefinition der Entrechteten über die Bibel die Möglichkeit mittels des Instrumentariums der Ausbeuter die eigene Entwurzelung aufzubrechen und Gegenmacht zur “weißen” Geschichtsinterpretation aufzubauen. Dabei kann, abgesehen von einem strikt säkularisierten Teil der Rastafaribewegung, das spirituelle System der Rastafari, welches wie auch andere schwarze Glaubensrichtungen des 19. und 20. Jahrhunderts letztlich auf dem Befreiungssynkretismus der amerikanisch-karibischen Schwarzenbewegungen des 19. Jahrhunderts basierte, keinesfalls als instrumentell angesehen werden.

Eine selektive Übernahme christlicher Lehren verbunden mit eigenen Interessen nach Befreiung von rassistischer Herrschaft durch Afro-Jamaikaner bot den Vorzug der Zustimmung und Duldung durch die weißen Missionare. Dabei wurde jedoch das weiße Wirklichkeitsverständnis abgelehnt und durch den Äthiopianismus ersetzt, welcher wiederum biblisch begründet werden konnte. Kern des jamaikanischen Bibelverständnisses wurde der Psalm 68, 32: “(…) Äthiopien wird seine Hände zu Gott ausstrecken (…)”. Diese Zeile wurde in Abessinien bereits im 16. Jahrhundert als Hinweis darauf gesehen, daß die Urchristen aus Äthiopien kamen. Im Äthiopianismus des 19. Jahrhunderts veränderte sich der Gegenmythos zur “weißen” Schöpfungsgeschichte als “Black Messianism” zu einem Instrument schwarzen Widerstandes, der die Afrikaner, symbolisiert durch die Pharaonen Altägyptens, zu den Trägern von Kultur und Spiritualität in der Weltgeschichte erklärte. Dabei verband Edward W. Blyden (1822-1912) als einflußreicher schwarzer Theoretiker der Karibik jüdische Glaubens- und zionistische Elemente mit dem afrikanisierten Bezug auf die Bedeutung Äthiopiens im Alten Testament. Politische Bedeutung erhielt der Äthiopianismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Ereignisse in Afrika selbst. 1896 hatte der äthiopische Kaiser Menelik II. bei Adua die italienischen Truppen geschlagen. Äthiopien (Abessinien) blieb das einzige Land in Afrika, das nicht unter europäischer Kolonialherrschaft stand.

Fürsten der Welt

Der Begriff Rastafari leitet sich ab vom Fürsten (Ras) Tafari, der 1892 zum König (negus) von Äthiopien gekrönt wurde und 1930 im Rahmen der Kaiserkrönung den Namen Haile Selassie (Kraft der Dreifaltigkeit) annahm. 1941 gelang es diesem mit Unterstützung Englands, Äthiopien von den italienischen Okkupatoren zurückzuerobern. Dies machte ihn bei vielen Schwarzen in Afrika und in der schwarzen Diaspora[2] zum Messias. Für die Entwicklung der Rastafaribewegung ist entscheidend, daß er einen Gottescharakter im Diesseits bekam.[3] Auch wenn Haile Selassie in Äthiopien das orthodoxe Christentum förderte, wäre es verkürzt, die Rastafaribewegung als christliche Kirche oder Sekte anzusehen. Insbesondere in der Karibik, wo die Rastas ihren Ursprung haben, kommen diese zwar aus protestantischen und katholischen Glaubenszusammenhängen, betrachten sich selbst aber nicht (mehr) als Christen. Die Basis ihrer religiösen Definition ist vielmehr ein Synkretismus aus afrikanischer, jüdischer und christlicher Tradition. Dabei ist als christliches Element die Erlösungsvorstellung tragender Pfeiler der Weltanschauung. Im Unterschied zu den meisten “weißen” anglo-amerikanischen Bibelinterpretationen greift diese jedoch die Erfahrung von Unterdrückung und Widerstand der ehemaligen schwarzen Sklaven auf als Verheißung eines menschenwürdigen Lebens in dieser Welt, womit vor allem die Erlösung von Sklaverei und dem Leben in der Diaspora, verbunden mit deHerkunft, Mystifizierung und Spiritualisierung politischer Forderungen, Militarisierung, Ablehnung von “Rassenmischungen”), andererseits muß die Verwendung dieser Topoi auch in Zusammenhang mit der real erfahrenen Diskriminierung und den ideologischen Formationen von rassistischer Herrschaft des weißen Amerika gesehen werden.

Schwarzer Rassismus?

Dieser Aspekt ist besonders sensibel zu betrachten, da die jahrhundelange Hierarchisierung von Schwarzen untereinander in den USA und der Karibik gezielt über die Hautfarbe erfolgte und Farbige real im Durchschnitt über einen höheren sozialen Status verfügten als diejenigen mit tiefschwarzer Hautfarbe. Auch heute noch ist die Sozialstruktur in Jamaika pyramidal, mit einer winzigen weißen Oberschicht, einer farbigen Mittelschicht und einer schwarzen Unterschicht.[5] Selbstredend war dies keine Folge ihrer Charaktereigenschaften, sondern Effekt rassistischer Integration und Absonderung der Sklavenhalter. Diese Herrschaftsprinzipien bieten einen idealen Nährboden für einen mythischen umgekehrten Rassismus, welcher auch von den meisten Rastafari abgelehnt wird.

So nachvollziehbar das Bedürfnis Garveys und seiner Anhänger aus der urbanen schwarzen Unterschicht nach einer Umkehrung der auf “Negros” projizierten rassistischen Stereotypen ins Gegenteil im Sinne eines “schwarzen Rassenstolzes” auch ist und Befreiungsnationalismus unterdrückter Minderheiten nicht mit dem Nationalismus imperialistischer Herrschaftseliten gleichgesetzt werden kann, so darf die Radikalität von Garvey auch keinesfalls als linksgerichtet bewertet werden. Die soziale Revolution und die soziale Frage tauchen als solches bei ihm nicht auf. Staatliche Hierarchien werden nicht abgelehnt, sondern afrikanisiert. Ziel der Afrikaner soll die Rückkehr nach Afrika sein. Es ließe sich argumentieren, daß Garvey sich lediglich im Geiste seiner Zeit über gängige Begrifflichlichkeiten definierte. Das schließt allerdings die Berücksichtigung ein, daß die 20er Jahre die aufkeimende Epoche des Faschismus war und Mussolini oder Hitler ähnliche Argumentationsmuster wie Garvey verwandten. Analoge Glaubensbekenntnisse (Hitler als “Messias der arischen Rasse”) lassen sich auch in den europäischen völkisch-faschistischen und nationalsozialistischen Gesellschaftsentwürfen finden. Andererseits war Garvey schwarzer Jamaikaner und kein Europäer, was bei analogen Mustern und Begriffen nicht unbedingt auf eine Gleichartigkeit der Herrschaftsvorstellungen schließen lassen muß.

Haile Selassie - der Pharao von Äthiopien

Die Vorstellung des Gottkönigs Ras Tafari stammt nicht von Garvey, der am pragmatischen Ziel einer Rückkehr nach Afrika arbeitete. Nach der Königstitulatur Haile Selassies wurde diese Lehre von schwarzen Predigern (Garvey war vor allem politischer Aktivist) wie Howell, Hibbert und Dunkley vertreten, die den König Äthiopiens mit dem endzeitlichen Christus gleichsetzten. Von ihnen wurde die Weltregierung der Schwarzen verkündet, die Schwarzen galten als Reinkarnationen der alten Israeliten und sie würden sich an den Weißen rächen. Haile Selassie galt hier als materieller lebendiger Gott und Kaiser der Welt, wobei dieses Gottestum durchaus militärisch und kriegerisch bestimmt war. Die göttliche Gegenwart konnte jeder Mensch prinzipiell erreichen. Besagter Howell ist der eigentliche Gründungsvater der Rastafari. Seine Anhänger ließen sich die ersten Furchtlocken (Dreadlocks) wachsen, inspiriert von Lev 21,5, wonach Priester ihr Haar nicht schneiden sollen, möglicherweise auch von Bildern der Massai und Somali.

Howell verband außerdem die Rastafarikultur mit der aus den “Native Baptists” hervorgegangenen Black Power Bewegung. Hier mischten sich religiöser schwarzer Nationalismus und afro-jamaikanische Volksreligiösität mit dem Widerstand der landlosen schwarzen Bauern und Bäuerinnen gegen die Pflanzeroligarchie, wobei letzterer auf einen sozialrevolutionären Charakter hindeutet. Der italienische Angriff auf Äthiopien 1935 stärkte die junge Rastafaribewegung. L.F.C. Mantle von der “Ethiopian World Federation” stellte die Theorie auf, daß die Wissenschaften in Äthiopien entstanden seien. Von enormer Bedeutung für das Selbstverständnis der Rastafari ist seine These, daß die ursprünglichen (”echten” oder “wahren”) Juden in Äthiopien leben würden und schwarz wären, wobei die Anglo-Juden Resultat späterer Vermischung seien. Auch diese These bleibt im Aufbau eines National-(Afrika-)Mythos einer potentiell rassistischen Argumentation verhaftet. Haile Selassie fungierte als Symbol für einen kompromißlosen Krieg der “schwarzen Rasse” gegen Kolonialismus und Unterdrückung, der die gesamte bestehende Welt transformieren würde.

Dabei lag die Hoffnung dieses Kampfes eben nicht in einem Klassenkampf mit dem Ziel der Zerstörung von ausbeuterischen Herrschaftsstrukturen an sich, sondern in der Glorifizierung absoluter Herrschaft eines irdischen Gottes, wenn er denn nur der “eigenen Rasse” entsprang. Ziel ist, bei allen Teilen der Rastabewegung, keinesfalls die Aufhebung von Herrschaft, sondern die Rückkehr nach Afrika und das Leben unter afrikanischer Herrschaft. Einschränkend muß dazu gesagt werden, daß diese Vergöttlichung in der Rastafarikultur auch beinhaltete, der eigenen Existenz als Proletarier und ehemaliger Sklave zumindest mystisch in eine andere Seinsordnung entfliehen zu können.

Diese “Einheit mit Gott” kann somit auch dem Wissen um die Möglichkeit einer sozialen Veränderung dienen, bzw. dem Aufbau von konkreten Utopien, in denen Kolonialismus und Sklaverei nicht als Gottesgesetz dienen. Diese “feinstoffliche” Zusammengehörigkeit war gerade für die Schwarzen in der Sklaverei, die aus verschiedensten Ethnien stammten und unterschiedlichste Sprachen hatten, extrem wichtig. Das Bindeglied stellte die Religion her. In diesem Zusammenhang hat der Mythos der afrikanischen Schöpfung als Hoffnung der Entrechteten auf ein besseres Leben durchaus emanzipatorischen Charakter. Zudem beinhaltet die religiöse Identifikation die Möglichkeit der Identifikation untereinander, die Gemeinschaftlichkeit einer “schwarzen Familie”.

Die Religion: Nur ein kleiner Teil der Rastafarikultur ist religiös, andere Gruppierungen erklären ihren Rastafarianismus aus der Geschichte der Sklaverei. Die Religion der Rasta-Brüder unterscheidet sich elementar vom europäischen Christentum. Zwar hatten auch die Rastas als Diener und Sklaven von Puritanern die Bibel als Basis ihres Glaubensbekenntnisses, doch wird diese als von den Sklavenhaltern manipuliert angesehen, weshalb nur bestimmte Teile, vor allem Moses und Jesaja, von ihnen akzeptiert werden. Gott ist in Haile Selassie Mensch geworden und lebt in dieser Welt und in diesem Leben, zu dem es keine Alternative gibt, da dies die beste aller Welten sei. So besteht Leben aus Reinkarnationen, was stark an die Ahnenkulte der Yoruba in Westafrika erinnert, die einen Großteil der Sklavenbevölkerung Jamaikas stellten. Zion sei gleichbedeutend mit Äthiopien und von Gott als auserwählt betrachtet worden, nachdem Israel Babylon verfiel.

Lions of Zion


Es ist unmöglich, die Geschichte der afrikanischen Deportation  von der biblischen Tradition der Rastafari zu trennen, da  Literatur, Geschichte und Religion verschmelzen.

Symbol der Rastafari ist der Löwe. Die Dreadlocks einiger von ihnen sollen an dessen Mähne erinnern, gleichzeitig symbolisiert er Afrika. Das Löwenemblem zeichnet das äthiopische Kaisertum aus. Zugleich ist das Lamm “Symbol des Königs der Könige”, das von den auserwählten Löwenmännern, den Rastafari geschützt wird. Durch die Selbstdefinition über die Bibel gelang es den Rastafari, sich aus der Fremddefinition als Sklaven zu befreien und ihr Leid in dieser Welt als Babylon, als Leben im Exil zu erklären. Dabei ist es unmöglich, die Geschichte der afrikanischen Deportation und die Kolonialherrschaft von der biblischen Tradition der Rastafari zu trennen, da in ihren eigenen Beschreibungen Literatur, Geschichte und Religion miteinander verschmelzen. Emanzipatorisch ist daran, daß der afrikanische Gott auf eine Veränderung der Verhältnisse in dieser Welt geradezu drängt. Der Papst ist für Rastafari der Teufel, wohingegen JAH (Gott) mit dem Kaiser von Äthiopien verschmilzt. Auch wenn die Rastafari mit den Juden den Bezug auf Zion, das Alte Testament und die Diaspora teilen, hat der mythische Bezug auf Äthiopien niemals zu einem konkreten Nationalismus geführt, nachdem Marcus Garvey mit seiner Rückbringung scheiterte. Heute wird als Heimat der Rastafari eher Jamaika als Afrika angesehen. Durch die Betonung einer individuellen Gotteserfahrung, eng verbunden mit Marihuanagenuß, bleibt der Rastafarianismus im Vergleich zum klassischen Christentum undogmatisch und entspricht eher afrikanischen Traditionen. Zudem fehlt den Rasta-Brüdern in ihrer auf das Diesseits ausgerichteten Religion die Transzendenz, weshalb sie sich selbst eher als Wissende denn als Gläubige betrachten. Als Bezugssystem ehemaliger Sklaven ist Rasta stark auf die Handhabung der (materiellen) Realität bezogen. Ras bedeutet Fürst. Da aber jeder Rastabruder vor seinen Namen das Prefix Ras stellt, ist auch jeder von ihnen ein Fürst in dieser Welt. Religiöse Rastafari betrachten sich, verbunden durch die göttliche Einheit, als eine große Familie: sie sollen sich untereinander helfen, gegenseitig unterstützen, ihre materiellen Güter miteinander teilen.

Moderne Rastafari

Die modernen Rastafari vertreten dabei nicht den Ausgrenzungsmechanismus von Marcus Garvey, sondern auch Weiße haben die Möglichkeit zur Erlösung, wenn sie Babylon abschwören. Sie sind tiefreligiös und viele verbringen den Großteil ihrer Zeit mit dem Bibelstudium. Abgesehen vom Kraut der Bibel, dem heiligen ganja (Marihuana), dürfen sie keine Drogen zu sich nehmen, insbesondere keinen Alkohol, kein Nikotin und kein ungesundes Essen, wozu auch Konservenbüchsen zählen. Rastafari dürfen nicht stehlen und kein Lebewesen ohne Grund töten.

Rastafari in Tansania und Uganda

Im folgenden Teil berichte ich von persönlichen Erfahrungen mit Rastafari in Ostafrika. Nicht mehr Afrika, wo sie selbst leben, erscheint in ihrer Vorstellung als “gelobtes Land” (auch wenn sie die Verehrung von Haile Selassie und Äthiopien durchaus teilen), sondern sie definieren sich über Jamaika. Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Ging es in der Entstehung des Rastafarikultes in Jamaika darum, die Rückkehr nach Afrika zu ermöglichen, erfolgt die Selbstverortung ostafrikanischer Rastafari über religiöse und kulturelle Inhalte, als deren Ursprung Jamaika erkannt wird. Sie definieren sich somit nicht mehr primär über den Ort Afrika, wo außer ihnen noch unterschiedlichste andere Glaubens- und Kulturgemeinschaften existieren, sondern über ihre Zugehörigkeit zur Rasta-family. Während die spirituelle Basis der Rastafaribewegung in Jamaika auf westafrikanischen Bezügen basiert, finden hier Synkretismen mit ostafrikanischem Glauben statt.

Zweierlei Äthiopien

Die Identifikation mit Äthiopien ist eine mythologische; das jetzige politische System in Äthiopien spielt bei den Rastafari, die ich kennenlernte, keine Rolle. Im Gegenteil zeigten einige sogar ausgeprägte Sympathie für den eritreischen Befreiungskampf und die Unabhängigkeit Eritreias. In der keineswegs homogenen jamaikanischen Rastafaribewegung stammen die Furchtlocken als äußerliches Element nicht aus West- sondern aus Ostafrika, was deren Popularität in Tansania und Uganda möglicherweise erklärt und sind Kennzeichen des radikalsten Teils der Rastakultur.

Während sich alle Rastas darüber einig sind, daß Schwarze als Folge der Sklaverei in der westlichen Welt entrechtet sind, was entweder säkulär-historisch oder religiös begründet wird, gehen die Lockenträger einen Schritt weiter und definieren sich über eigene mythologisierte “Kriegertugenden” historischer ostafrikanischer Völker. Letzteres wird vom Großteil der jamaikanischen Rastafari abgelehnt, könnte aber ein Hinweis auf die Verbreitung des Rastafarianismus in ostafrikanischen Gesellschaften sein. Die Dreadlocks können als Teil einer Gegenbewegung innerhalb der Rastafarikultur angesehen werden. Viele Rastafarianer tragen einen Kahlkopf und nur wenige äußere Attribute Afrikas, andere gemäßigte Rastafari tragen zwar einen Bart und langes Haar, achten aber darauf, dieses zu pflegen und unter einer Mütze zu tragen.

Eine andere Fraktion trägt die Dreadlocks ungezähmt als Zeichen ihres biblisch interpretierten Fluchs, als Auserwählte in der Diaspora leben und das Kreuz tragen zu müssen. Diese Lockenträger fühlen sich nicht den Normen der (schwarzen) jamaikanischen Gesellschaft verpflichtet, sondern haben ihre eigenen und werden deshalb von gemäßigteren Rastafari abgelehnt, da diese sie der Diskreditierung der Rastafarikultur durch (verbale) Gewalt, ungepflegtes Auftreten und Drogenkonsum bezichtigen. Es gibt hier durchaus Überschneidungen zwischen alttestamentarischer Orthodoxie und (sozial-) revoltierendem Verhalten jugendlicher Schwarzer.

In Tansania hat Rastafarianismus nicht den Charakter einer Kultur, sondern einer Subkultur. Rasta zu sein ist  eher als Selbstverortung außerhalb der herrschenden Kulturen zu begreifen, denn als gesamtgesellschaftliche Bewegung - im Gegensatz zu Jamaika, wo die Rastakultur die Lebensverhältnisse der jamaikanischen Gesellschaft widerspiegelt.

Ein Unterschied liegt in Tansania auch darin, daß die Definition über eine family, über die Rückkehr nach Äthiopien, als verbindendes Element der aus unterschiedlichsten afrikanischen ethnischen Zusammenhängen herausgerissenen Schwarzen in der Karibik notwendig war, während sie in Ostafrika nicht solch eine zentrale Bedeutung hat, da hier die kulturellen Strukturen vieler Ethnien sehr festgefügt sind. Rastafarianismus wird somit in Ostafrika nicht im Sinne einer nationalen Identitätsbildung in der Isolation begriffen, sondern als Bezugssystem außerhalb der bestehenden ethnischen Strukturen und sie ergänzend.

Vorherrschende Religionen wie der Islam in Sansibar oder die katholische Kirche in Nordtansania stehen den Rastafari eher ablehnend gegenüber, was für verschiedene Ethnien wie die Massai oder Sukuma ebenfalls gilt. Dies läßt sich allerdings nicht verallgemeinern. Rastafarianismus ist in Tansania und Uganda eine Außenseiterkultur.

Omir, ein RasMuslim: Die Lebensphilosophie Omirs ist ein hervorragendes Beispiel für die Religions- und Kulturmischungen in Stone Town auf der Insel Sansibar. Zur Zeit des sansibarischen Sultanats, das Drehpunkt des arabischen Sklavenhandels über Jahrhunderte und Basis der späteren europäischen Kolonisation Ostafrikas war, siedelten sich hier Perser, Inder, Araber, Engländer, Holländer und Deutsche als Herrschende und Geschäftsleute an. Der Großteil der Bevölkerung kommt ursprünglich aus Ostafrika. Dementsprechend vielfältig sind auch die Religionen und kulturellen Gemeinschaften in Stone Town. Neben dem islamischen Gros der Bevölkerung mit seinen Moscheen existieren Hindu-Tempel, katholische und protestantische Kirchen; außerdem leben hier buddhistische Gemeinschaften, Juden und Rastafari.

Omir sieht sich selbst nur halb als Rastafari an. Von seiner leiblichen Familie aus ist er sunnitischer Muslim. Wenn er sich als Muslim bezeichnet, dann bedeutet das für ihn heute Achtung seiner Kultur gegenüber, wohingegen Rastafarianismus seine Lebensphilosophie beinhaltet. Islam erscheint hier als Tradition, Rastafarianismus als Revolte gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, wobei seine Furchtlocken analog zum Irokesenschnitt der Punks zu werten sind. Omir wußte nichts von Marcus Garvey. Rasta zu sein bedeutet für ihn “Peace, Love and Harmony.” Dazu paßt nicht, daß er sich seinen Lebensunterhalt teilweise durch Überfälle sichert. Das Gebot, keinen Alkohol zu trinken, nimmt er weder als Rasta noch als Muslim ernst. Er trägt Dreadlocks und redet andere Rastafari mit “brother” an. Er betrachtet sich als Teil der Rastafarifamilie von Sansibar. Alle Rastafari auf Sansibar kennen sich, alle helfen sich. Das erzählte Omir zumindest.

Omir ist bitterarm und hat nichts außer einer Matraze in einem fensterlosen Haus in der Altstadt von Stone Town, wo er mit seinem Freund Fejsal lebt, der nicht zu den Rastabrüdern gehört. Omir raucht selbst viel ganja, tut dies jedoch nicht in ritualisierter Form. Er ist bei den islamischen Händlern und Barbesitzern, wie auch seine Nicht-Rasta Freunde, sehr verschrien. Sie warnen mich davor, daß er mich ausrauben könnte.

Dies geschieht allerdings nur indirekt, da Omir mich durchgehend anschnorrt. Darin ist er auch sehr geschickt. Am zweiten Abend wird Omir in eine Schlägerei verwickelt, als er einem Muslim die Mütze vom Kopf reißt, um sie mir zu schenken. Als Gefühl der Verbundenheit, da er meint, ich würde mich wie ein Araber verhalten. Er erläutert das alles nicht näher. Ich verbringe in Stone Town drei Tage mit Omir.

Omirs Weltbild ist eher ein “irgendwie freundlich sein” als eine tiefergehende Identifikation mit der Rastafarireligion. Er lehnt die allgegenwärtige Zuhälterei in Stone Town ab und findet, daß Männer und Frauen gleichberechtigt miteinander umgehen sollten. Alles in allem erinnert er mich, nicht objektiv, sondern assoziativ, eher an einen Punkrocker als an einen tiefreligiösen Rastafari. Er lebt in Stone Town in einer Außenseiter- und Underdogstellung. Omir läßt seinen Bart nicht wachsen.


Hier ruht in Gott der Unterleutnant z. See Max Schelle - 24 Jahre alt fiel er am 19. März 1889 beim Sturm auf die befestigte Stellung bei Bogamoijo. Allen voran, der erste im feindlichen Lager -

Kurz darauf teilt er mir mit, daß er die Deutschen bewundere, weil sie Hitler gehabt hätten.

Weltenschöpfer Hitler: Der zweite Rastafari, den ich kennenlerne, lebt in einer banda, einer Hütte, am Strand von Nungwi im Norden von Sansibar. Er ist ungefähr Mitte 20, sehr schlank, trägt einen Vollbart und Dreadlocks bis zum Rücken, ansonsten nur eine weiße Shorts und bemüht sich, sich sehr sportlich zu bewegen. Selbstverständlich weiß er von Omir, da sie den gleichen Vater, Haile Selassie, haben und der gleichen Familie angehören. Seiner Meinung nach bedeutet Rastabruder zu sein, mit nichts zu leben, als dem, was die Erde gibt; natürlich und angeblich hat er auch kein Eigentum. (Das kann nicht ganz stimmen, da er den Großteil des Nachmittags in einer sehr teuren Strandbar verbringt). Von ihm erfahre ich, daß auf der Insel Sansibar besonders viele Rastafari leben, da hier das Zentrum des Sklavenhandels war und das Bewußtsein über “freedom” groß wäre. I

ch erwidere, daß dies auch daran liegen könne, daß Sansibar sowieso einen sehr offenen Charakter habe, in dem sich verschiedenste Religionen nebeneinander entwickeln. Als er mitbekommt, daß ich Deutscher bin, versichert er mir, daß sie, die Deutschen, seine Freunde wären, aber daß er die Italiener haßt und auch die Engländer, wegen des Überfalls auf Äthiopien und der Sklaverei. Dann erklärt er, daß die Rastafari “brothers in spirit with the jewish people” wären, da sie beide in der Diaspora lebten. Als ich ihn frage, ob er an Gott glaubt, sagt er mir, daß sie nicht an Gott, sondern an Haile Selassie, den king creator glauben würden, den Weltenschöpfer.

Kurz darauf teilt er mir mit, daß er die Deutschen bewundere, weil sie Hitler gehabt hätten. Ich erzähle vom Holocaust und vom Rassismus Schwarzen gegenüber. Er erklärt, daß sie dies alles wüssten, aber Hitler wäre der king creator gewesen, der Pharao. Hitler mußte es tun, seiner Meinung nach.

Danach fährt er fort, daß er mit allen Lebewesen im Einklang lebte, mit den Delphinen, mit den Fischen, mit den Vögeln in der Luft. Auffällig ist, im positiven Sinne, daß er mit seinen Freunden, die keine Rastafari sind, alles gemeinsam macht, hilfsbereit ist, freundlich, aufgeschlossen und sich tatsächlich frei bewegt.

Sansibar ist das Zentrum des Rastafarianismus in Ostafrika. Dies läßt sich damit erklären, daß hier die Erinnerung an den Sklavenhandel lebendig ist und die sozialen Strukturen ethnisch hierarchisiert sind wie in Jamaika. Kapitaleigner, Geschäftsleute stellen hauptsächlich Inder und Araber, wobei sich aus letzteren die Oberschicht zusammensetzt. Die Afrikaner stellen die Unterschicht. Seit der tansanischen Unabhängigkeit vermischten sich die sozialen Hierarchien.


Eine Seitenstraße in Kampala, der Hauptstadt von Uganda und eine der geschäftigsten Städte Afrikas.

Jamaika-Corner: Eine Seitenstraße in Kampala, der Hauptstadt von Uganda und eine der geschäftigsten Städte Afrikas. An einer Ecke sprechen mich zwei junge Männer, beide ca. 22 Jahre alt, an und fragen, ob ich ganja kaufen wolle. Beide tragen Jeansjacken, den typischen Kampalakurzhaarschnitt und Sandalen aus Gummi. Ich sage nein, da ich sie nicht kenne und kein Interesse an Scherereien mit der schlecht bezahlten örtlichen Polizei habe. Dann sehe ich über einem Laden das Schild “Jamaika-Corner”. Ich frage sie, ob sie Rastafari sind, was sie bejahen. Sie würden überhaupt nicht so aussehen, erwähne ich. Sie wären Rastafari im Kopf, geben die beiden zurück. Es wäre in Kampala zu gefährlich, öffentlich als Rastafari herumzulaufen. Als ich frage warum das so wäre, antworten sie, es hieße, die Rastafari würden die Kultur zerstören und die jungen Leute mit Drogen vergiften. Außerdem würden ihnen Prostitution und Zuhälterei vorgeworfen. Ich frage sie, ob das stimmt, was sie vehement verneinen. Zuletzt erwähnen sie noch, daß häufig Touristen hierher kommen und ganja kaufen.

Jamaika-Corner erinnert eher an einen halblegalen Headshop als an einen Treffpunkt für Angehörige der Rastafarireligion. Außer Jamaika und Marihuanakonsum deutet nichts auf Rastafarikultur hin.


Auch in seiner Kunst hält er sich an die Makondekultur (Tierskulpturen, Geister) statt an Rastafarisymbolik wie Löwen oder Äthiopien. Kunst ist in Ostafrika nie reine Abbildung von dinglicher Wirklichkeit ist, sondern Modell spiritueller Welten.

RasMwiri: Meine letzte Begegnung mit einem Rastafari in Ostafrika findet in Bagamoyo, der alten Hauptstadt von Deutsch-Ostafrika (nach dem ersten Weltkrieg, britisches Protektorat) statt. In Richtung Strand liegt der deutsche Soldatenfriedhof, auf dem ich photografiere als aus einem überdachten langgezogenen Holzbau, dem college of arts, ein junger Mann mit einer großen Wollmütze auf dem Kopf herauskommt. Er meint, ich solle mir doch die Skulpturen anschauen. Das würde auch kein Geld kosten. Es stellt sich heraus, daß er assistent teacher auf der Schule ist. Er ist aus Nordmozambique geflohen und stammt aus der Ethnie der Makonde, die für ihre Holzschnitzereien in ganz Ostafrika berühmt sind. Im Unterschied zum Rasta von Nungwi glaubt Mwiri an Gott. Viele seiner Sätze enden mit den Worten: “So god will.”

In den nächsten Tagen sehe ich ihm bei seinen Schnitzereien zu, in denen er vor allem Tiergeistsymbole aus der spirituellen Welt der Makonde darstellt, aber auch Totenköpfe. Außerdem modelliert Mwiri ähnliche Figuren aus Ton. Eine Schnitzerei aus Kokosholz stellt einen Elefantengeist da, mit Doppelgesicht, einem Schlangenschwanz (die Schlange ist bei den Makonde das Symbol der Heilung) und dem geschwollenen Bauch einer schwangeren Frau (der starke Elefant ist gleichzeitig Geist der Fruchtbarkeit). Mwiri bezeichnet sich selbst als Christ: ein Rastafari, der gleichzeitig Christ ist und in der spirituellen Welt der Makonde lebt.[6] Er tritt für die absolute Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein. Der Umgang in der Kunstschule ist denn auch ziemlich egalitär ist. Mwiri hat einen sehr engen Kontakt zu seiner leiblichen Familie und bezeichnet mich als Bruder, das heißt, er nimmt mich von Anfang an in seine Rastafamilie auf. In seiner Kunst thematisiert er verschiedenste natürliche und gesellschaftliche Begebenheiten;bei Darstellungen von Menschen steht meistens das Ujamaakonzept[7] im Mittelpunkt.

Seine religiösen Vorstellungen leitet Mwiri vor allem aus der Makondetradtion in Nordmozambique ab, wobei Rastafari zu sein sich auf eine weltliche Verortung bezieht. Dies wird nicht allzu deutlich, da er über diese Zusammenhänge ungerne spricht. Viele seiner Vorstellungen wie etwa die Tierverwandlung der Leopardenzauberer sind in Tansania verbreitet und stammen nicht aus dem karibischen Raum, sondern aus magischen Traditionen Ostafrikas. Auch in seiner Kunst hält er sich eher an Traditionen aus Tansania und Mozambique, vor allem der Makondekultur (Tierskulpturen, Geister) denn an Rastafarisymbolik wie Löwen oder Äthiopien. Das ist von Bedeutung, da Kunst in Ostafrika niemals nur reine Abbildung von dinglicher Wirklichkeit ist, sondern Handhabbarmachung spiritueller Welten.

Hier definiert sich Mwiri eindeutig nicht über Rastafarianismus, sondern über die Kultur, aus der er kommt (Makonde).[8] Er ist als Rastabruder auch nicht dogmatisch, was sich schon darin zeigt, daß er mich in seine family einbezieht, als er eine geistige Verbundenheit zwischen uns zu erkennen glaubt. Mwiri weiß über Garvey, sieht diesen aber nicht positiv. In Bagamoyo leben auch noch andere Rastafari, die keine Lockenträger sind. Mwiri kennt diese, ist aber nicht mit ihnen befreundet. Rastafari sind wegen ihres Marihuanakonsums in Bagamoyo nicht gerne gesehen.

Nachrede: Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen konnte ich insofern feststellen, daß für einige Rastafarianismus eher einen Lebensstil darstellt, der sich durch Marihuanarauchen und “außerhalb der Gesellschaft leben” kennzeichnet, während andere (wie Mwiri) eine religiöse Verbindung und Verankerung in der Rastafamilie haben. Es ist bezeichnend, daß besonders viele Rastafari in den Stationen des historischen Sklavenhandels leben (Bagamoyo und Sansibar). Gerade Sansibar hat eine große, verbindliche Rastafamilie, die in ganz Tansania bekannt ist und auf der gesamten Insel Netzwerke bildet. Fraglich ist, ob die Basis dieser family Sansibars Stellung im Sklavenhandel war oder ob nicht auch die Weltoffenheit des Handelsstützpunkts die Verbreitung karibischer Ideen auf der Insel begünstigte. Im Hinterland Tansanias findet man kaum Rastafari, in Uganda noch weniger. Auch wirken die Rastafari an der tansanischen Küste und auf Sansibar wesentlich “authentischer” als im Inland von Tansania und in Kampala. Die kampalischen Rastas scheinen eher Rastamänner nachzuahmen, als selbst welche zu sein. Dies resultiert aus der Anglisierung Ugandas während des britischen Kolonialismus.

In Uganda ist die “innere Kolonisation” noch heute offensichtlich. Viele Menschen in Uganda versuchen, sich in Kleidung und Verhalten als “schwarze Briten” zu zeigen. Möglicherweise begünstigt auch die ethnische und kulturelle Vielfalt und Eigenständigkeit der tansanischen Küstengebiete und Sansibars eine selbstständige Rastakultur. Die Rastabrüder von der Küste und aus Sansibar sind sehr in der Rastafaritradition verankert. Ähnliches gilt auch für die ostafrikanischen Rastas in ihrer sehr individuellen Weltsicht.

Anmerkungen

[1] Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Sklave ist Heimatloser.

[2] Viele Rastafari sehen sich, ähnlich wie die Juden, als Volk Gottes in der Diaspora und beziehen sich dabei vor allem auf Moses, wie generell in der Religion das Alte Testament einen höheren Stellenwert als das Neue Testament hat.

[3] Dieser Punkt ist insofern erwähnenswert, als die Vorstellung eines Demiurgen, eines vergöttlichten Menschen, der die schlechte Welt befreit, nicht primär dem christlichen Erlösungsgedanken verwandt ist, sondern sich auch in den neuheidnischen Konstrukten antichristlicher Alt- und Neofaschisten findet, wobei der wichtigste Unterschied zu verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen die Leugnung der Gleichheit der Menschen vor Gott ist. Rein weltlich könnte der Demiurg auch als Weltverbesserer betrachtet, somit auch links interpretiert werden. Hier scheint die individuelle Vorstellung einzelner Rastafari von Bedeutung zu sein.

[4] Vgl. dazu: Maya Deren: Der Tanz des Himmels mit der Erde. Die Götter des haitianischen Vaudou. Wien 1992.

[5] Heinz-Jürgen Loth: Rastafari. Bibel und afrikanische Spiritualität. Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte. Bd. 20. Köln-Wien 1991. Ich beziehe mich im gesamten Artikel auf dieses Buch.

[6] Mwiri, ein höchstbegabter Künstler, möchte gerne eine Ausstellung in Europa organisieren. Da er aber weder die Mittel noch die Kontakte hat, würde ich mich freuen, wenn Leser und Leserinnen, die interkulturelle Ausstellungsprojekte planen oder Kontakte haben, sich mit mir in Verbindung setzen. Meine Adresse lautet: Utz Anhalt, Ungerstr. 18, 30451 Hannover, 0511-9215304, anhalt@sopos.org

[7] Ujamaa war das vom tansanischen Ministerpräsidenten Julius Nyere in den 1960er Jahren durchgesetzte sozialistische Konzept, in dem verschiedene Ethnien in der großfamilienähnlichen traditionellen ostafrikanischen Dorfstruktur zusammenleben mußten.

[8] Tansanias Kunst hat noch nicht den internationalen Stellenwert wie die zimbabwischen Steinarbeiten oder westafrikanische Kunst. Die Schnitzereien der Makonde sind in ganz Ostafrika populär und werden zunehmend auch für Touristen hergestellt. So finden sich neben spirituellen Motiven immer mehr Coca Cola Flaschen oder andere Motive, für die sich Reisende interessieren. Die Makonde leben in Mozambique und im südlichen Tansania, haben ihr künstlerisches Zentrum (Mwenge handcraft center) jedoch in Dar’Es Salaam. Einige von ihnen arbeiten in Bagamoyo, wobei die Studenten des college of arts nur zum kleinen Teil aus der Makondetradition kommen.

Zombies in der Kulturgeschichte und im Horrorfilm

Eine erweiterte wissenschaftliche Fassung habe ich exclusiv hier - über das Honorar lässt sich reden.

Zombies – Die wandelnden Toten in der Kulturgeschichte und im Horrorfilm

Zombies, die geistlosen Toten, sind seit „The Night of the Living Dead“, George Romeros Klassiker von 1964, ein fester Bestandteil des Horrorfilms. Die Toten erheben sich aus den Gräbern, von Hunger nach Menschenfleisch und Mordlust getrieben. Im Unterschied zu Vampiren verlieren die Zombies die Intelligenz, die sie als Menschen hatten.

Zombies, als europäischer Inbegriff des Voodoo, sind das Resultat einer physischen oder psychischen Methode der Persönlichkeitszerstörung. Der Begriff Zombie leitet sich, einer These zufolge, ab vom indianischen Wort Zemi, was in der indianischen Religion der Karibik sowohl den seelenlosen Lebenden und den Geist des Toten bezeichnete, als auch einen Talisman, der nötig war, um Zauber zu wirken. Eine andere Theorie führt den Ursprung auf den Begriff nzumbe zurück, der in der afrikanischen Sprache Kimbundu einen Untoten bezeichnet. Auch Laien setzen Zombies vage mit dem Voodoo der Karibik in Verbindung, wobei hier die Assoziation zum Schadenszauber mittels Nadelpuppen im Vordergrund steht. Die Verbindung zum Voodoo ist nicht falsch, nur das in Europa und den USA verbreitete Schreckensbild dieser Religionskultur entspricht nicht der Wirklichkeit. Der Voodoo in Haiti, aber auch im Südosten der USA oder an der Küste Venezuelas verschmilzt afrikanische Religionen, Katholizismus und indianische Glaubensvorstellungen.

Der Voodoo

Voodoo bedeutet Erkenntnis und Wissen, vau heißt übersetzt “Hineinsehen” und dou “In das Unbekannte”. Seinem Wesen nach ist er Offenbarung, die von den Eingeweihten in einer mystischen Stadt in der Nähe von Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti, erfahren werden kann. Orthodoxe Anhänger des Voodoo vermuten diese Stadt dagegen in Nigeria: Der Voodoo ist eine Sonnenreligion, seine Archetypen entstammen der Sonne.

Die haitianische Kultur des Voodoo wird in Europa und den USA noch heute verzerrt durch die Ideologie der ehemaligen Sklavenhalter wahrgenommen. Bis heute werden mit Haiti Diktatoren, materielles Elend, irrationale Ekstase und ständig wechselnde korrupte Regierungen assoziiert. Voodoo gilt dem “westlichen” Blickwinkel als Inbegriff von schwarzer Magie, Schadenszauber, Zombies und der Vernichtung von Menschen durch das Spicken von Puppen mit Nadeln. Ignoriert wird dabei, dass es kaum eine Bevölkerung auf der Welt gibt, die sich von ihren Diktaturen immer wieder so selbstbewusst und militant befreit hat wie die haitianische. Die dunkelmagischen Praktiken sind grausige Randphänomene des Voodoo und werden von der haitianischen Bevölkerung als Schaden bringend bekämpft. Die Kultur der haitianischen Bevölkerung wird in der euroamerikanischen Wahrnehmung mit den Handlungen der Feinde der haitianischen Unterschichten gleichgesetzt.

Diese Umkehrung der kulturellen Wirklichkeit ist erklärbar durch die reale Bedrohung, die im 18. Jahrhundert für die französisch-katholischen Sklavenhalter von der Befreiungskultur der schwarzen Sklaven ausging. Der Voodoo ermöglichte geschlossene Widerstandsstrukturen der Schwarzen in der Kolonie und somit eine eigene kollektive Identität, die der französischen Herrenklasse nicht zugänglich war. In den Riten des Voodoo manifestierte sich ein für die französischen Plantagenbesitzer nicht durchschaubares System, in dem sich die Sklaven eine eigene Organisation aufbauten, welche von den herrschenden Formen gesellschaftlicher Sicherheit abstrahiert war. Noch heute ist der Voodoo die Religion der haitianischen Unterschichten, während sich die (schwarzen und farbigen) Mittel- und Oberschichten fast ausschließlich zum römischen Katholizismus bekennen.

Zudem waren die indianischen und afrikanischen Religionen sich in ihren Grundaussagen sehr ähnlich. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur wurde bei beiden durch eine metaphysische Gestaltveränderung (Tiermenschen) ermöglicht, beide hatten Ahnenkulte und verehrten die Elemente. Bei beiden wurden die metaphysischen Kräfte äußerlich im Rahmen von Ritualen und nicht innerlich durch Meditation beschworen. Die westafrikanischen Religionen waren auf Stabilität und Kontinuität aufgebaut, auf Passivität, die von der Kriegergesellschaft der Azteken beeinflussten karibischen Indianerreligionen auf Lebendigkeit und Aggressivität, auf Krieg, auf Aktivität und Handlung. Letzteres entsprach den Bedürfnissen der schwarzen Sklaven auf Haiti. Indianer und Schwarze, deren Kulturen sich in den Bergen Haitis miteinander vermischten, waren sich einig in ihrem Hass auf die weißen Kolonialherren. Durch das magische Element des indianischen Schamanismus war die Möglichkeit zum Handeln in der materiellen Welt gegeben. Biblische und katholische Traditionen flossen in den haitianischen Voodoo ein, unter anderem die Bezeichnung von Geistwesen mit den Namen von christlichen Heiligen und Elemente der christlichen Messen. Die französischen Sklavenhalter konnten keine katholischen Gottesdienste verbieten.

Nadelpuppen und wandelnde Tote

Schwarze Magie, also zum Beispiel einen Menschen durch das Spicken einer Puppe mit Nadeln zu verletzen oder zu töten oder Zombies, wandelnde Tote zu schaffen, gehört im Voodoo zu den größten Verbrechen. Es ist keinesfalls eine gängige Praxis der Anhänger dieser Religion, sondern das, wovor die Voodooisten am meisten Angst haben. Das Prinzip des Voodoo bedeutet, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden und Ausbeutung zu verhindern. Die Bokors, die Schwarzmagier in Haiti waren nicht nur die weißen Sklavenhalter vor der Revolution, sondern auch die schwarzen Diktatoren und Massenmörder, deren Terrorherrschaft sich bis heute wie ein endloser Blutstrom durch die postkoloniale Geschichte Haitis reißt. Die Schlächter Duvalier, Papa und Baby Doc, stellten sich bewusst in die Tradition der Bokors und der dem Tode verbundenen Gottheiten des Voodoo. Die Schergen der Geheimpolizei der Duvaliers wurden in Haiti als tontons macoute, als “Onkel Menschenfresser” bezeichnet und als Schwarzmagier betrachtet. Der Antikommunist Francois Duvalier, der 1957 durch die USA in Haiti an die Macht gebracht wurde, orientierte sich an Hitler und identifizierte sich mit der Gottheit des “Baron Samedi”, dem Herren der Friedhöfe. Baby Doc ließ später das Mausoleum seines Vaters von einem der “Menschenfresser” rund um die Uhr bewachen.

Zombies

Dem Glauben nach kann ein Bokor Menschen mit einem Fluch belegen, worauf dieser in einen todesähnlichen Zustand verfällt. Wenn er aus diesem Zustand wieder erwacht, hat er seine menschliche Intelligenz verloren und ist zu einem willenlosen Werkzeug des Schwarzmagiers geworden. Dieser Zustand kann auch durch ein Zauberpulver ausgelöst werden, das der Zauberer seinem Opfer auf die Haut streicht.

Und hier vermischt sich der Zauberglaube mit einem rational denkbaren Hintergrund. Denn der Bokor verabreicht dem „Toten“, wenn er aufwacht, ein Mittel, das zum Beispiel Atropin enthält und dem Opfer das Bewusstsein zerstört. Auch körperliche Gewalt oder psychischer Druck, um den Erwachten gefügig zu machen, gehört zu den gängigen Methoden. Diese Zombies werden dafür geschaffen, Schwerstarbeiten auf den Plantagen zu verrichten. Die physische Methode besteht in der Verabreichung von Giften, durch die ein Mensch in einen katatonischen Zustand versetzt und, für die Allgemeinheit als tot geltend, begraben und heimlich aus dem Grab zurückgeholt wird. Da auch nach dem Erwachen aus der körperlichen Starre die geistigen Funktionen zerstört bleiben, dienen diese “seelenlosen Menschen” dem Giftmischer als körperlich aktive, aber willenlose Arbeitssklaven. Der als Bocor bezeichnete Schwarzmagier ist demnach ein Ausbeuter, ein Sklavenhalter. Der Zombie ist ein psychisch zerstörter Mensch. Diese Vorstellung von Zombies ist nicht unbedingt mystisch, sondern sehr rational und der Verfolgung eines Verbrechens geschuldet, das in der Leidenserfahrung einer Bevölkerung, die aus den Nachfahren von Sklaven besteht, tiefe Wurzeln hat. Da die haitianische Gesellschaftsstruktur nach wie vor feudal-cliquenkapitalistisch organisiert ist und sich die Abhängigkeitsverhältnisse von 90% der Bevölkerung von denen der Sklaven kaum unterscheiden, ist die Furcht der haitianischen Unterschichten vor den Erschaffern von Zombies sehr verständlich. Ebenso nachvollziehbar ist, dass die Militärs, Herrscher und Tyrannen der Oberschicht Mittel und Wege suchten, um Zombies zu erschaffen. Die historisch versierte Anne Rice siedelte in „Hexenstunde“ eine Hexendynastie als französische Sklavenhalter auf Haiti an – eine bemerkenswerte Abkehr von rassistischen Stereotypen, in denen die Gefahr im Voodoo von den Schwarzen ausgeht.

Ein wahrer Kern lässt sich unschwer erkennen. Jede Sklavenhaltergesellschaft, jedes Terrorsystem versucht, seine Sklaven mittels solcher Methoden von Gehirnwäsche und Gewalt zur Willenlosigkeit abzurichten. Aus der Stalin-Zeit ist bekannt, dass Andersdenkenden durch das Verabreichen von Giften Gehirnzentren zerstört wurden, und das Ruhigstellen von Patienten mittels Neuroleptika kennen wir aus jeder Psychiatrie. In Haiti gibt es belegte Fälle von Menschen, die viele Jahre nach ihrem Verschwinden in ihren Dörfern auftauchten – als psychisch Debile. Es stellte sich heraus, dass sie die Jahre auf Plantagen gearbeitet hatten und wohl noch irgendeinen Rest ihres Bewusstseins bewahrt hatten, der sie in ihr Zuhause zog. Zombies sollen sich in Haiti schleppend fortbewegen und statt artikulierter Sprache nur ein Krächzen von sich geben. Sie sollen nicht reagieren, wenn sie angesprochen werden. Ihre Augen sind seltsam starr. Das alles kennzeichnet auch Geisteskrankheiten. Schwere Alkoholiker können in den Zustand des nicht mehr umkehrbaren Delirium Tremens geraten, in dem sie zu komplexen Gedankenleistungen nicht mehr in der Lage sind. Und Menschen, die von Metaamphetaminen, dem so genannten Crystal Ice, abhängig sind, ähneln sehr den Zombies der Romero Filme – die Zähne und Haare fallen aus, sie sind zu logischen Gedankengängen nicht mehr fähig, biologisch lebendig, psychisch und intellektuell tot. Sie verfallen bei lebendigem Leib innerhalb weniger Jahre. Eine Theorie geht davon aus, dass die Methode, Zombies durch Gift zu erschaffen aus Westafrika in die Karibik kam. Ursprünglich soll es sich um Kriminelle gehandelt haben, die durch das Verabreichen von Giften bestraft wurden.

Nun ist der Voodoo aber keine durch und durch rationale Kultur, sondern eine Religion. Und der Voodoo kennt auch den Astralzombie. So lässt sich eine Seele vom Körper trennen und in einem Gefäß aufzubewahren. Der Zauberer erhält dadurch Macht über den Körper des Toten. Diese sind nur für den Bokor sichtbar. Und die Pulver sind nicht nur Gifte, die auf das Gehirn wirken könnten, sondern sollen auch aus Friedhofserde und zerstoßenen Totenknochen bestehen. Die Bokors sollen düstere Totenmagie betreiben. Der Bokor kann auch einer Leiche die Kleidung des Opfers seines Schadenszaubers anziehen, das dadurch verhext wird. Ein Glaube an solche Schadenszauber kann schlimmste psychische Folgen haben. Im Voodoo kann ein Mensch auch die Seelen von Verwandten an einen Bokor verkaufen. Er erhält vom Schwarzmagier dafür Vergünstigungen wie Reichtum oder Gesundheit. Die Seelen der Verwandten müssen dann dem Bokor als Zombies dienen. Der Bokor kann auch die Seele eines frisch Verstorbenen aufsaugen.

Die Methoden, sich vor solchen erschaffenen Zombies zu schützen, ähneln denen vor Untoten weltweit. Mal bewachen die Hinterbliebenen das Grab, mal drücken sie dem Leichnam ein Messer in die Hand, damit es den Bokor abwehren kann. Auch ein schwerer Grabstein kann den Schwarzmagier fernhalten. Salz essen kann einen Zombie von seinem Fluch befreien.

Wandelnde Tote

Auch bei den Zombies der Realgeschichte kann es sich also sowohl um einen auferstandenen Toten handeln wie auch um einen seelisch Toten, also um einen Menschen, der zwar biologisch am Leben ist, psychisch jedoch zerstört, um einen Menschen ohne Selbst, um einen Automaten für Andere. In jedem Fall fehlt diesen Zombies der freie Wille oder auch das individuelle Motiv des Vampirs. Das gilt auch für den Zombie des Films und der Literatur. Interessanterweise ähneln die Zombies der frühen Filme den Vorstellungen in Haiti am meisten. „White Zombie“ von 1932 mit Bela Lugosi zeigt die Zombies als unterwürfige Instrumente ihres Herrn. „I walked with a Zombie“ von 1942 bezieht sich ebenfalls direkt auf den Glauben der Haitianer. Hier ist der Zombie ein Opfer. Die Geschichte lebt nicht vom Splatter, sondern von der bedrückenden Stimmung und der Angst, selbst zu einem solchen Opfer gemacht werden zu können. Diese frühe Annäherung an die wirklichen Hintergründe der Zombiefigur liegt auch an der Besetzung Haitis durch die USA von 1915 bis 1934. Ähnlich wie der Vampirglaube zu Stokers Zeiten in Osteuropa lebendig war, glaubten die Haitianer an die wandelnden Toten und Filmemacher fanden ein Motiv, mit dem sie in „I walked with a Zombie“ außergewöhnlich respektvoll umgingen. Im Unterschied auch zu heutigen Klischees über den Voodoo fehlen die kulturellen und rassistischen Abwertungen. Die Zombies sind Opfer und der Voodoo selbst zeigt Möglichkeiten, sie zu heilen – wie in Wirklichkeit. Erst 1988 kehren diese an den karibischen Ursprüngen orientierten Zombies mit Wes Craven wieder auf die Leinwand zurück. „Die Schlange im Regenbogen“ spielt in Haiti, wo ein amerikanischer Anthropologe den Vaudou erforscht.

Der moderne Zombiefilm

Der moderne Zombiefilm orientierte sich aber nicht an Haiti und auch nicht an diesen frühen Glanzlichtern, sondern an George Romeros „Night of the Living Dead“ von 1964. Hier erst werden die lebenden Toten zu geistlosen Wesen, die von Mordlust und Hunger auf Menschenfleisch getrieben sind. Hier erst wird der Zombie zum Kannibalen. Die Vorstellung, dass die wandelnden Toten Menschenfleisch fressen hat ihre Wurzeln in den arabischen Erzählungen über Ghule, nicht im Voodoo. Romeros Tote wandeln durch die USA. Und der Film nimmt explizit die amerikanische Gesellschaft ins Visier. Der Lynchmob, der loszieht, um die Zombies zu vernichten, ist ebenso entsetzlich wie die Zombies selbst. Die rassistische Gesellschaft selbst zeigt sich als Monster. Die einzige positive Identifikationsfigur ist ein Schwarzer, der von diesem Lynchmob am Ende selbst erschossen wird. Es gibt keinen Schwarzmagier, der die Zombies zum Leben erweckt, sie stehen einfach aus ihren Gräbern auf. „Dawn of the Dead“ von 1978 von Romero schuf die Zombies, wie sie der Horrorfilm bis heute kennt. Die Infektion, bis heute der populärste Weg, ein Zombie zu werden, hat hier seinen Ursprung. Wer mit den Körpersekreten der Untoten in Berührung kommt, wird selbst zu einem Monster, das weder Intellekt noch Moral, sondern nur Hunger kennt.

Diese Romero-Zombies fanden in den 1980er Jahren etliche Nachfolger, denen aber meist die Tiefe und auch der subversive Ansatz Romeros fehlt. Denn Romero badet sich geradezu in den Abgründen der kaputten Gesellschaft der USA und zelebriert genüsslich deren Selbstzerstörung.

„Army of Darkness“ von 1992 bringt den Humor in das Zombiegenre ein. Ein Durchschnittsamerikaner liest das Necronomicon und reist dadurch in eine Art Mittelalter, springt in einen Brunnen und muss dort ganze Haufen von Untoten mit einer Kettensäge erlegen. Danach brachte erst das neue Jahrtausend und die gewachsenen Möglichkeiten der Computeranimation neue Zombies in das Kino. 2002 kam mit „28 Days Later“ eine neue Art von Zombies auf die Welt – eine Art Raubtierspezies. Sie torkeln nicht mehr umher und sind auch nicht völlig unintelligent, sondern schnelle und effiziente Killer. 2005 übertrumpfte Altmeister Romero mit „Land of the Dead“ diese Modernisierung des Zombiefilms. „Land of the dead“ glänzt vor allem durch apokalyptische Bilder der Zerstörung einer typischen amerikanischen Stadt, und auch hier sind die Untoten schnelle Bestien.

David Wellington

In der Literatur sticht insbesondere David Wellington im Zombie-Bereich hervor. Er wuchs in Pittsburgh auf, wo Romero seine Filme drehte und nahm sie mit der Muttermilch auf, geht in vielerlei Hinsicht über sie hinaus. Der neueste Teil seiner Untoten-Trilogie erschien auf Deutsch im August 2010 „Welt der Untoten“. Zombieartige Wesen und intelligente Leichenherren haben die Erde übernommen. Einige wenige Menschen kämpfen in den entlegenen Orten des Planeten um ihr blankes Überleben. Und auch sie verhalten sich wie Monster, entgegen aller Normen und entgegen jeder Ethik einer halbwegs zivilisierten Gesellschaft. Es ist die Welt nach ihrem Untergang, und Wellington stößt den Leser in einen Abgrund hinein, in eine Hölle auf Erden. So schlimm kann es in der Hölle nach dem Tod gar nicht sein. Folterszenen und Grausamkeiten sind nur allzu realistisch beschrieben, kurz, knapp und etwas klinischer als bei Romero. Wellington arbeitet als Archivar der Vereinten Nationen und der Blick in die Wirklichkeit von Kriegen und Krisengebieten bietet mehr Stoff als eine noch so blühende Fantasie.

Der Reiz der Zombies

Untote, die ein breites Publikum in den USA und Europa anziehen und unter „Zombies“ fallen, haben mit dem Glauben der Vaudou-Anhänger sehr wenig zu tun. Und die Filme, die sich an den Mythen Haitis orientieren, sind keine Massenware. Woran liegt also die Faszination? Da spielt zum einen die Angst mit, dass die Toten wiederkehren, eine Angst wohl so alt wie die Menschheit. Das scheint aber nur ein Nebenaspekt zu sein. Denn die Richtung der modernen Zombies geht eher in die Verwandlung von Menschen in Wesen, die von Tötungsdrang und der Gier nach Menschenfleisch gesteuert sind, eher eine eigene Spezies als Untote. Diese Monster waren aber einmal Menschen. Anders als beim modernen Vampir ist es das Moment der Bewusstseinslosigkeit in der postmodernen Gesellschaft, das die Zombies auszeichnet. Nicht von ungefähr spielen Zombiefilme in heutigen Großstädten, in Supermärkten, auf Tekknoparties. Und die Kontrolle über seinen Geist und Körper zu verlieren, unter die Kontrolle eines Anderen zu geraten, sei es ein Leichenherr oder ein Virus ist ein Abbild der postindustriellen Gesellschaft. Die Menschen schlagen sich in der Wirklichkeit dieser Gesellschaft als „Humankapital“ durch, müssen sich immer wieder neu verwerten und verwerten lassen, ohne einen Zugang dazu zu haben, warum und für wen sie arbeiten. Zunehmend lösen sich soziale Bindungen. Das menschliche Miteinander verschwindet und damit das Bewusstsein, in einer Gemeinschaft mit anderen zu leben. Und in diesem täglichen Kampf um die materielle Existenz ist die Angst, zu einem „Zombie“ zu werden, groß – zu etwas zu werden, das sich selbst nicht mehr spürt, nicht mehr weiß, was es ist, kein Gefühl für den eigenen Körper mehr hat. Dazu kommt die von Romero ausgedrückte Lust vieler, dass „das alles“ endlich vorbei ist, die Zerstörung der Fiktion der heilen Mittelschichtswelt, die in ihren Einfamilien-Siedlungen amerikanischer Städte das Elend der Ghettos draußen hält. Zu der Angst kommt auch die Lust an der Selbstzerstörung derjenigen, die in diesen kaputten Verhältnissen leben und selbst wissen, dass ihre heile Welt eine Wunschvorstellung darstellt. Es ist also die Lust an der Apokalypse, die den Zombiefilm auszeichnet und es sind nicht die Gesellschaften in Haiti oder Westafrika, die Vaudou-Traditionen anhängen.

Der Völkerzoo - Zum hundertsten Geburtstag von Hagenbecks Tierpark

von Utz Anhalt (sopos)

Hagenbecks Tierpark in Hamburg, der erste Zoo, den Landschaftspanoramen und Freigehege kennzeichneten, feiert dieses Jahr hundertsten Geburtstag. In der Präsentation der Tiere und in den Sichtweisen auf Tiere und Menschen in Zoos lassen sich die Geisteshaltungen der jeweiligen Gesellschaft erkennen: Carl Hagenbeck baute 1907 den Tierpark in der Phase des Kolonialismus unter Kaiser Wilhelm II. Die zeitliche Überschneidung ist kein Zufall, denn der Zoodirektor war im Imperialismus des 19. Jahrhunderts zum weltgrößten Tierhändler aufgestiegen und ein Spiegel seiner Zeit: Er stellte in seinem “Panorama der Welt” nicht nur Tiere, sondern in Völkerschauen auch Menschen aus - vor allem aus Ländern, die die europäischen Großmächte unterworfen hatten.

Zoos sind nicht nur eine Institution, in der Menschen gehaltene Tiere anschauen, sondern auch die historisch neue Form der Wildtierhaltung des Bürgertums, in der Bürgerliche sich gegenüber Monarchie und Proletariat positionierten: Der erste Zoologische Garten der Welt, eine öffentliche Anlage unter bürgerlicher Kontrolle in der Stadt mit großem Tierbestand, entstand im Paris der Französischen Revolution 1794. Diese Anlage im Jardin des Plantes, geleitet von Naturphilosophen der Aufklärung, war ein bewusster Umsturz der Wildtierhaltung des Absolutismus. Die Tierhaltung des Ancien Regime ging in einem politischen Akt in einer öffentlichen Einrichtung auf, verlagerte sich vom Hof zur Stadt, vom Adel zum Bürgertum. An die Stelle geometrischer Wegesysteme des Barock, die die Macht des Monarchen symbolisierten, traten spielerische Bachläufe und versteckte Aussichtspunkte, um das Bild einer in Freiheit entfalteten Natur für freie Menschen zu schaffen.

Die Zoogründungen in London 1828 und in Berlin 1844 stellten hingegen keinen revolutionären Bruch zwischen Bürgertum und Adel da wie in Frankreich, sondern erfolgten in beiderseitigem Einverständnis von bürgerlichen Zoogründern und Krone. Kritische Bürger, Lehrer und Wissenschaftler, die Zoos als Anstalten der Volksbildung befürworteten, gründeten nach der gescheiterten Revolution 1848 in Deutschland Zoos, aber auch reiche Kaufleute mit Übersee- Erfahrung, besonders in Handels- und Hafenstädten wie in Frankfurt am Main 1858 und in Hamburg 1863. Die Motive der Zoogründungen schwankten zwischen Forschung, Bildung, Unterhaltung, Lokalpatriotismus und Provinzlerstolz bis hin zu finanziellem Interesse. Zoos waren ein Treffpunkt der Bourgeoisie, da die Arbeiter sich den Eintritt zumeist nicht leisten konnten.

Der Tierhändler Carl Hagenbeck stammte im Unterschied zu anderen deutschen Zoogründern weder aus dem Bildungsbürgertum noch aus dem Großkapital, sondern hatte auf dem Hamburger Spielbudenplatz nahe der Reeperbahn das Schaustellergewerbe gelernt - zwischen Marktschreiern, die “menschenfresserische Wilde” ebenso als “Kuriositäten” anpriesen wie den “Rieseneisbär” und andere Sensationen, die Profit versprachen. 1874 gründete Carl Hagenbeck seinen ersten Tierpark, nicht in den Vierteln des reichen Bürgertums, sondern in einem Milieu von Proletariat und Kleinbürgertum. Dieser Tierpark machte dem etablierten Hamburger Zoo am Dammtor massiv Konkurrenz, insbesondere, da der Eintritt bei Hagenbeck viel günstiger war und sein erster Tierpark auch nicht inmitten der Viertel des Großbürgertums lag.

Hagenbeck wuchs in der Phase der Hochindustrialisierung des deutschen Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, die das Kleinbürgertum an den Rand drückte. Er schaffte es als einer der wenigen Kleinhändler, in die Großbourgeoisie aufzusteigen. Die internationalen Kontakte im Hamburger Hafen, der Ausbau der Schifffahrts- und Eisenbahnlinien, sowie das Eindringen der Kolonialmächte in die Herkunftsländer der begehrten Wildtiere in Übersee ermöglichten ihm, innerhalb weniger Jahre eine geschlossene Handelskette aus Tierfang, Transport, Zwischenlager, Tierdressur und Verkauf bis hin zur Öffnung von Zoos und Zirkussen aufzubauen. Zu dieser Handelskette zählten seit 1874 auch Völkerschauen, die Kritikern bis heute als Inbegriff rassistischer Präsentationen gelten, in denen Menschen mit Tieren gleichgesetzt worden wären.

1874 zeigte Hagenbeck Lappländer mit einer Rentierherde; 1877 vermarktete er eine Schau mit Nubiern aus dem Sudan; 1878 stellte er Inuit im Berliner Zoo aus. “Wildes Afrika” 1889 und “Menschenrassen des Nil” 1914 lauteten einige der Titel, mit denen Hagenbeck Werbung für seine Völkerschauen machte. Sein Assistent, der Zoologe Alexander Sokolowsky, behauptete, seinem Chef wäre es um Aufklärung und Verständnis für andere Völker gegangen, sagte aber zugleich deutlich, dass die Völkerschauen den kolonialen Gedanken in Deutschland fördern sollten.

Tatsächlich überschnitten sich die Präsentationen Hagenbecks mit dem Selbstverständnis der Kolonialherren Europas: Ein Schauspiel zeigte zum Beispiel arabische Sklavenhändler, die ein Dorf im Sudan überfallen, um Sklaven zu jagen; Hagenbecks Tierfänger verjagen die Araber und feiern mit den Schwarzafrikanern ein Freundschaftsfest. Das war klassische Kolonialideologie; denn die Imperialisten begründeten die “Schutzherrschaft” über Afrika unter anderem damit, dem Sklavenhandel der Araber Einhalt zu gebieten. Dass der Profit beim europäischen Händler und nicht bei den Afrikanern vor Ort blieb, erschien in dieser Propaganda als humanistischer Akt.

Hagenbecks Assistent, Alexander Sokolowsky, war Schüler des “deutschen Darwin”, Ernst Haeckel. Haeckel hatte einen biologistischen Rassismus konstruiert, nach dem die Unterschiede zwischen “Natur- und Kulturvölkern” so groß wären wie die zwischen verschiedenen Tierarten. Die “gebildeten Europäer”, die “Kulturmenschheit” hätten nach Sokolowsky das Recht, die “primitiven Völker” zu studieren. Anthropologen wie Rudolf Virchow besuchten die Völkerschauen und vermaßen die ausgestellten Menschen, Kaiser Wilhelm II. ließ sich Menschen aus Afrika im Tierpark vorführen.

Carl Hagenbeck allerdings als politischen Ideologen des Imperialismus zu sehen, ist dennoch nicht richtig: Der Unternehmer hatte zwar Kontakte sowohl zu fortschrittlichen als auch zu reaktionären Prominenten seiner Zeit, vom berühmten Naturkundler Alfred Edmund Brehm bis zum rassistischen Theoretiker Ernst Haeckel, von Bismarck bis zu Wilhelm II. - eine reflektierte Identifikation mit deren Weltanschauungen lässt sich daraus aber nicht ableiten. Die politischen Geschehnisse seiner Zeit, ob Bismarck, Kriege, koloniale Freiheitsbewegungen oder Klassenkämpfe in Hamburg, interessierten ihn nur, wenn sie sein Unternehmen beeinflussten: sei es, dass im Mahdi-Aufstand der Tierhandel in Nordostafrika zusammenbrach, sei es, dass Bismarck ein Urteil über einen Wildesel abgab.[1] Den Aufmarsch der Soldaten im Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 beschrieb der Tierhändler zum Beispiel wie ein Panorama, ohne sich über die politischen Hintergründe Gedanken zu machen. Eben dieser Panoramablick und die Aussicht auf ein gutes Geschäft kennzeichneten Hagenbecks Präsentationen: Er war ein cleverer Geschäftemacher, der Assoziationen, Zeitgeistströmungen und Erwartungen eines deutschen Massenpublikums als lebende Bilderwelten inszenierte. Wie wenig diese Erwartungen der Wirklichkeit der präsentierten Menschen entsprachen, wurde deutlich, als eine Gruppe Bella-Coola, Indigene von der amerikanischen Nordwestküste, 1889 auftrat. Diese Bella-Coola trugen ihre reale Kleidung - keine Bisonfelle, Kriegsbemalung oder Federschmuck. Besucher entrüsteten sich: “Das sind keine echten Indianer”. Werbeplakate reduzierten die dargestellten Menschen auf Stereotype wie eben “wildes Afrika”. Diese optisch inszenierten Klischees wurden so arrangiert und inszeniert, dass die schon vorhandenen Imaginationen des Publikums den Schein der Authentizität bekamen. Die Bilderwelten der Völkerschauen knüpften an verzerrte Vorstellungen an und entwarfen sie wiederum von neuem.

Carl Hagenbeck brachte sein Selbstverständnis auf den Punkt: “Wo seid ihr geblieben, ihr Söhne der Prärien, die ihr euch meiner Führung in das Land der Weißen anvertrautet, die euch anstaunten wie Wundertiere?” Er betrachtete sich als überlegenen -weißen- Führer, der die “Exoten” in sein Land brachte, wo das -weiße- Publikum sie wie Tiermenschen aus einer Fabelwelt betrachtete und die europäische Überlegenheit gewahrt blieb. Die Völkerschauen waren romantisierende Variationen des Kolonialrassismus, eben nicht in der vernichtenden Konsequenz, sondern als Paternalismus, als Darstellung tolerierender Arroganz, in der der “Wohltäter” Carl Hagenbeck seine hütende Hand über “Naturmenschen” und Wildtiere hielt und ihnen Schutz in seinem Reservat, seinem Park, gewährte. Die Menschen in den Völkerschauen waren Carl Hagenbeck keine “Barbaren”, die es auszurotten galt, oder “Heiden”, die er bekehren wollte, sondern Schausteller, Angestellte, mit denen er Profit machen konnte. Er zeigte das Gespür eines Geschäftsmannes aus St. Pauli, der das Anpreisen von Sensationen gelernt hatte - ein Gespür dafür, die exotistischen Fantasien des Publikums als greifbares Theater zu inszenieren. Hagenbeck erscheint als Prototyp eines Self-Made-Man, eines Unternehmers, der in den neu erschlossenen Profitmöglichkeiten des Kolonialimperialismus aufstieg. Mit dem preußischen Kadavergehorsam hatte der Aufsteiger aus dem weltoffenen Hamburg wenig zu tun, sein bisweilen rücksichtsloser Individualismus entsprach eher dem amerikanischen Pionierideal. Das Vorbild für seine Völkerschauen fand er dementsprechend auch nicht in den Pamphleten völkischer Denker, sondern bei den “Wild West Schauen” von Buffalo Bill Cody. Der hatte seine realen Erfahrungen im amerikanischen Westen bereits zu Lebzeiten als Mythos vermarktet und zog mit Cowboys, amerikanischen Ureinwohnern, Planwagen, Pferden und Bisons um die Welt und inszenierte Western-Mythen als Schauspiele. Diese Schauspiele mit relativ original nach gebauten Kulissen und ehemals real in die dargestellten Geschehnisse Involvierten gab es in Deutschland nicht und Hagenbeck setzte Ähnliches um wie Buffalo Bill: Er setzte Erfahrungen seiner eigenen Expeditionen in Szene, die Homraner, die für ihn wirklich Tiere gefangen hatten, zeigten ihre Fähigkeiten einem deutschen Massenpublikum; die Pfleger seiner Elefanten ließ er aus Indien anreisen.

Als Unternehmer hatte der Hamburger Tierhändler kein Interesse daran, Indigene in Ketten nach Europa zu bringen, sondern daran, sie als Lohnarbeiter anzustellen: Er bewegte sich, wie auch die Mittelsmänner und Zwischenschichten in den kolonisierten Ländern, an Schnittstellen, die ihm der Kolonialismus bot. Hagenbeck baute sein Unternehmen nicht auf, um ein politisches Programm umzusetzen; er nutzte die koloniale Expansion, um sein Unternehmen voranzutreiben, aber nicht sein Unternehmen, um die koloniale Expansion voranzutreiben. Reflektiert griff er rassistische Stereotypen auf, wenn und weil sie in das Konzept seiner Schauen passten, nicht aber indem er selbst rassistische Theorien entwarf. Die Völkerschauen stehen in einem Zusammenhang mit den Dinosaurierplastiken und den Tierpanoramen, wobei der Monismus und Rassismus Ernst Haeckels - vermittelt über Sokolowsky - einen indirekten Einfluss hatte, aber eben keinen direkten. Hagenbeck selbst äußerte sich zu seiner Weltanschauung: “Obgleich ich durchaus nicht gesonnen bin, mein Licht als Geschäftsmann unter den Scheffel zu stellen, so muss ich doch bekennen, dass ich in erster Linie Tierliebhaber bin.”

Hagenbeck: “In den afrikanischen Urwald, in die Dschungel Indiens, in die weiten Steppen Sibiriens und die Eiswüsten der Polargebiete müssen Kundschafter entsandt werden. Ihnen folgen die Weltreisenden und Jäger mit ihren eingeborenen Hilfskräften. Anders als der Jäger, den nur die Lust am Sport treibt, müssen wir zu Werke gehen …” Hagenbecks Rolle für das Kaiserreich ist vergleichbar mit der, die “West-Men” wie Kit Carson für die Siedlertrecks und für die US-Army bei der Zerschlagung der Indigenen spielten - Pionierkenntnisse in der Peripherie - es ist nicht die Rolle von Krupp und Thyssen in den Weltkriegen, die Hagenbeck, der 1913, ein Jahr vor der Explosion des bürgerlichen Zeitalters, starb, nicht mehr erlebte.

Die Völkerschauen waren nur indirekt Propaganda für das Prinzip, sich die Herkunftsländer der Ausgestellten aneignen zu dürfen. Der koloniale Bezug in Hagenbecks Tierpark war imaginativ und unreflektiert, keine gezielte politische Perspektive des Imperialismus, sondern das Anknüpfen an vorhandene Vorstellungen, um Publikum anzulocken. Der Kolonialismus bot ein Ventil für die Kleinbürger, sich in der Peripherie einen Status zu verschaffen, statt sich gegen die Verhältnisse in Deutschland zu richten: Carl Hagenbeck ging es indes weder darum, die kleinbürgerliche Jugend zu mobilisieren, in Afrika einzumarschieren noch die Verhältnisse in Frage zu stellen, sondern sie in seinem Tierpark zu unterhalten. Hagenbeck schrieb: “Von den Somalis bis zu den Hottentotten, von den Kalmücken bis zu den Australiern haben die Völkerschauen alles in sich aufgenommen, was sich nur aus ihren Stammessitzen herauslocken ließ.” Es ging ihm darum, die “Anderen” als Schau zu präsentieren. Sein Vorbild waren nicht die Schriften der Rassentheoretiker, sondern Wachsfigurenkabinette, die “dickste Frau der Welt” und aus Fisch- und Affenkörpern zusammengenähte “Meerjungfrauen” auf dem Spielbudenplatz. John Hagenbeck, sein Halbbruder, schrieb in seiner Biografie, dass er sich im Gegensatz zu seinen Mitschülern nie in die Lektüre von “Lederstrumpf” oder “Der letzte Mohikaner” hätte stürzen müssen, da ihm “exotische Romantik” im “Hause Hagenbeck erblüht sei”. Und für diesen Exotismus in Hagenbecks Panorama stand eher Karl May Pate als der Kolonialist Carl Peters. Wenn Russell Means vom American Indian Movement über den Landraub an den amerikanischen Indigenen schrieb: “Sie kommen immer zu dritt, der Händler, der Priester und der Soldat”, dann war Hagenbecks Rolle die des Händlers. Die Völkerschauen veranstaltete er, als und weil der Tierhandel zusammenbrach.

Hagenbeck schrieb über die Völkerschauen: “Was zuerst wie ein artiges Spiel und eine angenehme Abwechslung erschien, erwies sich als großes Glück. Der Tierhandel, weit davon entfernt, lukrativ zu sein, brachte in jenem Jahr große Verluste, und die Völkerschauen waren es nun, durch welche das Manko gedeckt wurde. (…) Aber schon im folgenden Jahr, das im Zeichen des Elefanten stand, wendete sich das Blatt.” Es ging ihm um das Geschäft.

Verkürzte Verurteilungen im Sinne einer stereotypen Täter-Opfer-Dichotomie erklären nicht das für Hagenbecks Unternehmenserfolg wichtige Geflecht von Widerstand und Kollaboration, persönlichem Vorteil und Ausbeutung. Das verdeutlichen zwei der Beziehungen, die Carl Hagenbeck pflegte: Sein Vorbild Buffalo Bill Cody war zwar ein Geschäftsmann, zugleich aber einer der ganz wenigen Weißen, den Sitting Bull, die bedeutendste Persönlichkeit des indigenen Widerstandes, als Freund ansah. Denn Buffalo Bill setzte sich für die Rechte der in erbärmliche Reservate eingepferchten Ureinwohner ein.

Der Somali-Scheich Hersy Egga war mit einer Gruppe auf einer Völkerschau bei Hagenbeck aufgetreten. 1906 suchte er 2000 Dromedare für die deutschen Truppen in Swakopmund aus, um den Herero-Aufstand niederzuschlagen und erhielt von Kaiser Wilhelm dafür eine Verdienstmedaille - Hagenbeck transportierte die Dromedare und ermöglichte Hersy Eggas Sohn den Schulbesuch in Hamburg. Hersy Egga war kein “Opfer rassistischer Völkerschauen”, sondern Geschäftspartner. Nicht das Engagement auf einer Völkerschau fordert in diesem Fall Kritik, sondern die gemeinsame Täterschaft als Kriegsgewinnler - Opfer waren letztlich Morengas Freiheitskämpfer. Kaiser Wilhelm interessierte hier Hagenbecks Verbindung zu den Kamele haltenden Somali und Hagenbeck machte das, was er am besten konnte - mit Tieren handeln. Für die tolerierende Arroganz, den Exotismus, gilt auch hier, dass sich Hagenbecks Sympathien und Antipathien auf den Nutzen oder Schaden für sein Geschäft bezogen.[2] Hagenbeck war der Einzige, der über die Kontakte und die Erfahrung verfügte, Dromedare in diesem Ausmaß zu importieren und war 1906 als weltgrößter Tierhändler Kaiser Wilhelm nicht gerade unbekannt, allzumal Hagenbeck Versuche gemacht hatte, fremde Wildtiere in Deutschland einzubürgern, was für Kaiser Wilhelm von großem ökonomischen Interesse war. Im Unterschied zu Sokolowsky, der sich damit auseinandersetzte und es begrüßte, welche militärische Bedeutung die Dromedare für “das Vaterland” hätten, erwähnte Hagenbeck nicht einmal, dass die Dromedare für die Niederschlagung des Hereroaufstandes gedacht waren - dafür aber die Eigenarten der Dromedare, die Probleme des Transportes, die klimatischen Umstände, die Kosten des Unternehmens. Diese Art der Schilderung durchzieht seine Autobiografie.[3] Tiere verkaufte er an Zirkusdirektor Barnum ebenso wie an den Sultan von Marokko, an Zoos wie an Zirkusse und Privatpersonen; stolz berichtet Hagenbeck von Kaiser Wilhelms Tierparkbesuch, ebenso stolz darüber, wie gut die “Kalmücken-Reiterschau” bei Kaiser Franz-Joseph in Wien ankam, ebenso stolz auch darüber, wie Zirkusdirektor Barnum ihm für 15.000 Dollar Tiere abkaufte. Das Geschäft kam vor dem “Patriotismus”.[4]

Im Unterschied zu Hersy Egga war die Erfahrung der Völkerschauen für andere Ausgestellte, unter anderem aus Feuerland und Grönland, eine Traumatisierung.

Ein Grund für den Erfolg von Hagenbecks Völkerschauen war ein in Deutschland seit der Romantik weit verbreitetes Klischee des von der Zivilisation unberührten “edlen Naturmenschen”, das schnell in seine Kehrseite, den “Menschen fressenden Kannibalen” kippte. Hinzu kam, dass nach 1848 Deutsche in Massen der Knute des Preußenstaates in die erhoffte Freiheit der USA entflohen waren - unter anderem in das heutige Texas. Deren Erzählungen fanden bei den Hinterbliebenen enorme Resonanz. Vor allem Karl Mays Fantasien über Indigene Nordamerikas, Helden des “Wilden Westens” und andere Naturburschen außerhalb der Industriekultur waren Bestseller an der Wende zum 20. Jahrhundert. Hagenbeck inszenierte literarische Fantasien wie die Karl Mays als Modell zum Anfassen mit realen Menschen und Ausrüstungen, die Echtheit vermittelten - mit Postkutschenraub oder Straußentreibjagden auf Rennkamelen. Es ist kein Zufall, dass Angestellte von Hagenbeck zu den ersten deutschen Dokumentarfilmern gehörten: die Inszenierungen nahmen spätere Filmplots vorweg.

Der Exotismus, die tolerierende Arroganz, der die Anderen ästhetisiert und zur Unterhaltung einsetzt, das Salz in der Suppe der eigenen Sehnsüchte nach Abenteuer und Entfaltung, kann durchaus Rassismus sein, auch wenn der Fremde vermeintlich positiv erscheint. Zu einer kritischen Auseinandersetzung zum Beispiel mit der Situation der indigenen Opfer des Völkermordes in Amerika waren die Völkerschauen nicht geeignet. Nordamerikanische Indigene mit dem Stereotyp der Bisons jagenden Präriekulturen waren zwar im deutschen Klischee - auch durch Karl May- positiver besetzt als in den USA, die Begeisterung für sie als Symbol für den “authentischen Freiheitskämpfer, der seine Scholle verteidigt” blieb aber Wunschvorstellungen verhaftet: Diese Wunschvorstellungen resultierten auch aus den Existenzängsten der Kleinbürger und ihrer unreflektierten Kritik an der Monopolisierung der Großindustrie.

Hagenbeck verbildlichte den Herrschaftsanspruch des weißen Mannes, in dessen Obhut exotische Tiere und als Exoten präsentierte Menschen gezähmt lebten. Und in dieser Tier- und Menschenschau lag Hagenbecks Fähigkeit darin, dass er die zur Schau gestellten Kulturen ebenso kannte wie die Fantasien des Publikums und so den Schein des Echten vermittelte. Er war eine Identifikationsfigur für viele, die unter der Enge im Wilhelminischen Staat und der Entfremdung ihrer Lebenswelt im Industriekapitalismus litten, denn er schien die aufgeführten Abenteuer selbst erlebt zu haben. Das Freiheitsversprechen seines Exotismus - Länder zu bereisen, die aufregender als die erlebte Wirklichkeit wären - wirkte in der Starre der deutschen Klassengesellschaft wie ein Magnet.

Carl Hagenbecks Landschaftspanoramen und auch seine Völkerschauen haben mit dem vernichtenden Rassismus, wie ihn die Nazis und ihre Vorläufer praktizierten, weit weniger zu tun als mit Bedürfnissen, wie sie heute Touristikunternehmen produzieren und befriedigen. Der Exotismus steht an der Schnittstelle zwischen Weltoffenheit und Paternalismus, Interesse an anderen Kulturen und deren Vereinnahmung. Kontinuitäten von Hagenbecks Völkerschauen sind nicht die Vernichtungslager für Juden, Roma und Sinti, sondern die “authentische Folkloregruppe” plus Animateur und Vollpension beim Urlaub in Antalya bei gleichzeitiger Ignoranz der Lebensbedingungen von Migranten hierzulande.

Ein “African Village” im Zoo Augsburg 2005 löste internationale Proteste aus: Schwarze Deutsche, Ethnologen und Menschenrechtler fühlten sich an eine “koloniale Völkerschau” erinnert. Auslöser des Protestes war die Direktorin Barbara Jantschke, die sinngemäß auf eine besorgte Nachfrage geantwortet hatte: “Zum Zoo gehört die Exotik”. Damit sagte Frau Jantschke, dass Menschen aus Afrika, sich als Exotik präsentieren lassen. Die Kritiker hatten recht: Das “African Village” war ganz eindeutig ein kommerzielles Projekt mit “Afrika” als Lockmittel, ohne einen reflektierten Zugang oder Pädagogik zur Realität und Geschichte afrikanischer Gesellschaften zuzulassen. Die Veranstaltung war nicht geeignet, Afrikaner als gleichwertig zu empfinden, indem zum Beispiel Professoren aus Tansania über dortigen Naturschutz referiert hätten. Schwarzafrikaner, die Zöpfe flochten oder “typisch afrikanische Musik” spielten, waren Teil einer Ausstellung mit Tieren und Pflanzen. Auf das sarkastische Angebot eines brasilianischen Bürgers, sie hätten auch einen Zoo, wo die Direktorin doch typisch bayrische Tätigkeiten wie Kühe melken vorführen könnte, reagierte Frau Jantschke allerdings nicht. Auch der Zoo Hannover vermittelt mit der Dschungelbuch-Ästhetik eines “Dschungelpalastes” und “Kaffeegenuss am Sambesi” die falsche Authentizität eines Erlebnisses in neokolonialer Tradition.

Es geht auch anders: Im Zoo Erfurt steht am neuen Bisongehege eine Rede des Sioux Lame Deer, die die gezielte Ausrottung des Bisons im 19. Jahrhundert mit dem Ziel, die indigenen Kulturen zu vernichten, benennt. Ein Mann namens “Dusty” bietet “Abenteuer und Romantik” im “Indian Camp” auf dem Zoogelände. Warum führte aber die Veranstaltung in Augsburg zu internationalem Protest, während ein Blackfeet-Älterer die Bisonanlage in Erfurt persönlich einweihte? Die Unterschiede sind deutlich: “Dusty” lebt in seinem Camp, es handelt sich nicht um eine kommerzielle Veranstaltung, auch wenn sich “Dusty” mit Erlebnispädagogik seinen Lebensunterhalt verdient. Er ist seit Jahren mit Blackfeet befreundet. Der Blackfoot, der die Anlage einweihte, war kein Ausgestellter, sondern verstand sich als “Botschafter seines Volkes” - ein Partner, kein unterhaltender Exot. “Dustys” Arbeit besteht in einer Reflexion der leidvollen Geschichte und Gegenwart amerikanischer Natives. Der Zoo Köln informiert über Regenwaldzerstörung durch internationale Konzerne und Alternativen im Sinne einer nachhaltigen Nutzung, leistet ebenfalls Aufklärungsarbeit und baut Nationalparks in Vietnam auf. Eine kritische Arbeit in Zoos ist also möglich - Veranstaltungen wie das “African Village” zeigen, dass sie notwendig ist.

Anmerkungen:

[1] Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen: “Unser Tierparadies im Sudan war fast fünfzehn Jahre verschlossen, und der Engel im flammenden Schwerte, der die paradiesische Pforte bewachte, war Abdullahi Kalifat el Mahdi, der Nachfolger des Propheten. (…) Längst sind unter ägyptisch-englischer Herrschaft geordnete Verhältnisse zurückgekehrt. In den Gebieten indes, die für uns in Betracht kommen, hat sich vieles in trauriger Weise verändert. Der reiche Wildbestand, den meine Reisenden vor dem Mahdistenaufstand dort antrafen, ist heute auf kaum ein Zehntel des einstigen Bestandes geschrumpft.”

[2] Hagenbeck: “Sehr geschickte Helfer waren uns auch die Fallensteller aus dem Stamm der Takruris (…). Im Zuge der Völkerschauen lernte ich eine Anzahl der tapfersten Jäger kennen, die in mir nach ihren Begriffen so eine Art Oberhäuptling der von mir ausgesandten “Krieger” sahen. (…) Besonders mit dem Somalihäuptling Hersy Egga, den der Leser schon bei den Völkerschauen kennenlernte und der mir später bei meinem größten Transport von 2000 Dromedaren sehr behilflich war, verband mich eine andauernde Freundschaft.” Seine Beschreibung dieses Tiertransports für die Kolonialtruppen unterscheidet sich kaum von einem früheren Dromedarimport zusammen mit Hersy Egga: “Tränen flossen (…) sichtbar über die braunen Wangen unseres alten Freundes Hersy Egga, den Lesern bereits seit der Londoner Afrikaschau ein wohlbekannter Somalihäuptling. Er und sein Stamm waren hocherfreut, meinen Sohn und meine Reisenden in ihrer heißen Heimat wiederzusehen (…) Aber mein guter Hersy Egga hatte auch lobenswert gearbeitet. Hundertachtzehn ausgesuchte Dromedare standen zur Übernahme bereit.” Wenn man es nicht wüsste, könnte man kaum ableiten, dass es sich bei dem einen Dromedarhandel um einen “normalen” Tierimport für Zoos und bei dem anderen um einen Auftrag für die Kolonialtruppen handelt. Die “Freundschaft” zu Hersy Egga findet ihren “tieferen Sinn” darin, dass er ein zuverlässiger Geschäftspartner ist.

[3] Hagenbeck: “Genau 192 Tage nach meiner ersten Unterredung in Berlin konnte mein Sohn Lorenz dem abnehmenden Offizier den letzten Transport der 2000 Dromedare übergeben. (…) Eine Anzahl echter reinblütiger Renndromedare war dabei, die unter Lebensgefahr meiner Leute behandelt wurden, denn die Araberstämme betrachteten ihre Zucht gewissermaßen als ihr Monopol. Die Ausführung eines derartigen Riesenauftrages brachte eine starke finanzielle Anspannung mit sich. (…) Ich bin der Überzeugung, dass die Einführung des Dromedars in Südwestafrika sich als eine kulturhistorische Tat erweisen wird.”

[4] Der Marxist Markov kommentierte die mir vorliegende Ausgabe “Von Tieren und Menschen” von 1957: “Über Bismarcks drei Kriege, über die Pariser Kommune, über das Sozialistengesetz, über die dem ersten Weltkrieg vorauseilenden und gerade in Hamburg diskutierten internationalen Krisen, über Klassenkämpfe und geistige Strömungen suchen wir vergebens nach einem zustimmenden oder verdammenden Wort. Fielen nicht hin und wieder Namen und Titel prominenter Besucher von Hagenbecks Tierpark, so möchte man glauben, dass die -sollen wir sagen: kommerzialisierte - Tierliebe, fern von allen gesellschaftlichen Pflichten, ein Dasein in den Wolken geträumt oder gar gelebt hätte. (…) Mitunter stehen sogar, wie bei der Einfuhr von Kamelen nach Südwestafrika, militärische Erwägungen dahinter. Damit verliert der Tierhandel den Charakter einer politisch vergleichsweise indifferenten Zirkusangelegenheit. (…)Hagenbecks Erinnerungen sind recht offenherzig. Sie verschweigen nicht, dass es ihm vorwiegend ums Geschäft zu tun war. Seinem Ideal des tüchtigen und in keinem Bedacht wählerischen Selfmade-man bleibt er zeitlebens treu. Koloniale Freiheitsbewegungen bedeuten ihm nicht mehr und nicht weniger als eine Störung seines Tierfangs, und er ist empört, wenn sich “Eingeborene” der ihnen bestenfalls zugedachten Rolle des Bakschisch-Empfängers widersetzen.”

Wolves

Vom Bettler zum Penner - Die sozialgeschichtliche Genese der Stigmatisierung von Armut

von Utz Anhalt

“Was aber heißt hier eigentlich Identität? Von der bloßen Lüge oder von plumpen betrügerischen Tricks waren ihre Selbststilisierungen weit entfernt. Hunderte von Malen wiederholt, wird der Topos selbst zu einer Art von Wahrheit, gewinnt er Objektivität auch denen gegenüber, die es eigentlich besser wissen müßten.”

Norbert Schindler

Der Vagabund

Die Ausgrenzung und Verfolgung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen: Obdachlosen, Bettlern und Armen, wie sie seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in der BRD wieder in zunehmendem Ausmaße betrieben wird, basiert auf einer historischen Tradition, die mit der Durchsetzung des Protestantismus als Ideologie des in der frühen Neuzeit erstarkenden Finanzbürgertums begann. Die Parallelen der österreichischen Bettlerverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert zu heutigen Vertreibungen von Armen aus den Innenstädten sind frappierend. Auch die Argumentation der Obrigkeit und das Verhalten vieler Bettler und Bettlerinnen weisen verblüffende Ähnlichkeiten zur Gegenwart auf. Die Etablierung einer terroristischen Politik gegen die Armen, in diesem Artikel am Beispiel Österreichs beschrieben, war nicht Kennzeichen des “finsteren” Mittelalters, sondern im Gegenteil notwendiger Bestandteil im Aufbau frühkapitalistischer Herrschaftsformen. Gerade die Entstehung des bürgerlichen Gewissens war keinesfalls dem Großmut der Besitzbürger zu verdanken, sondern stellte für die Armen einen Rückschritt dar, deren Recht auf Almosenversorgung nunmehr zu einer wilkürlichen Entscheidung der Gebenden wurde. Viele Strategien im Broterwerb der Salzburger Bettler, ihre erfundenen Geschichten, ihre Kreativität der Selbstdarstellung beim Bettel erinnert durchaus an das Schnorrverhalten von Punks in Fußgängerzonen. Verblüffend ist, wie wenig sich im Kern an der Vermittlung von Herrschaft geändert hat. In einer Zeit, in der bürgerliche Politiker die Streichung der Sozialhilfe nach zehn Jahren erwägen, der zweite Arbeitsmarkt zerstört wird, der Sozialstaat abgebaut und die Wiedereinführung privater Armenversorgung durch Projekte wie die “Tafeln” forciert wird, also eine Auflösung einklagbarer sozialer Rechte und deren Umwandlung in freiwillige Gutmenschentaten stattfindet, gilt es eine historische Tradition in Erinnerung zu rufen, die in der Ermordung der Armen kulminierte.

Zur Kultur und Lebensweise der Salzburger Bettler

Die Mehrzahl der österreichischen Hexenfälle im späten 16. und 17. Jahrhundert entsprach Racheritualen.

Indem die Bettler zu Hexen erklärt wurden, kündigte sich das Ende einer paternalistischen Armenpolitik an.

Der Eindruck willkürlicher Bezichtigungen, der in vielen Quellen zur Hexenverfolgung auftaucht, resultiert wohl nicht zuletzt daher, daß der Fragen- und Fangfragenkatalog des Hexenhammers, die Vorverurteilung und dämonologische sowie satanische Lehre der Hexenrichter den sozialen Kontext, das soziale Motiv des Verdachts überlagerten, welches durchaus real und konkret war. Die magische Überhöhung ganz realer aggressiver Erwerbspraktiken einer zunehmend marginalisierten Bettlerschicht war gleichsam nur die konsequente Verlängerung der erfahrenen Repressionen, die den Konsens der Gebenden und Nehmenden zu sprengen drohten. Der Hexenprozeß, gegen die Bettler gerichtet, ächtete diese gesellschaftlich. Eine zunehmende Verelendung der Bettelnden, die sich in Erpressung und direkten Taten gegen das Vieh äußerte, kam einer Kriegserklärung an die bäuerliche Gemeinschaft gleich. Indem die Bettler zu Hexen erklärt wurden, kündigte sich das Ende einer paternalistischen Armenpolitik an.

Am Ende der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt, bekamen die unterbäuerlichen Schichten die Auswirkungen der ökonomischen Krisen am deutlichsten zu spüren. Die Bettler waren vormals Tagelöhner, Bauernknechte, Mägde und Holzknechte gewesen: ein Heer von Arbeitern und Arbeiterinnen, das auf Abruf bereit zu stehen hatte. Der Fall durch das Netz der ländlichen Gemeinschaft verlief rapide. Die Auflösung des familiären Sozialverbandes, vor allem durch den frühzeitigen Tod der Eltern, war eine der entscheidenden Weichenstellungen, die den Weg nach unten bahnten. So gaben von den Jüngeren, die das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, nach ihrer Gefangennahme wegen Bettelei etwa 37% an, frühzeitig Vater, Mutter oder beide Elternteile verloren zu haben. Mehr als zwei Drittel der Bettler stammten vom Land, die anderen waren überwiegend im Tagwerker- und Gelegenheitsarbeitermillieu aufgewachsen, das sich um die kleinen Städte und Märkte herum angelagert hatte. Dabei wies das Salzburger Land, im 30jährigen Krieg neutral geblieben, im 17. Jahrhundert ein relativ kontinuierliches Bevölkerungswachstum auf. Um 1600 begann der Niedergang des alpinen Bergbaus, der im 16. Jahrhundert noch eine Haupterwerbsquelle des Erzstifts dargestellt hatte.

Nahezu jeder fünfte Bettler stammte aus Handwerkerfamilien. Auch hier überwog der Anteil des Landhandwerks. Diesen nicht zünftisch organisierten Landhandwerkern fehlten die sozialen Netze und die damit verbundenen Ehrvorstellungen, die ökonomische Notlagen zumindest für eine gewisse Zeit zu überbrücken halfen. Die Wandergesellen, deren nichtseßhafte Lebensweise dazu geschaffen schien, in die Bettlerszene abzugleiten, waren am wenigsten gefährdet, hielt diese doch das sehr hohe zünftische Ehrgefühl vom Betteln ab.

Ein Bettler schiebt seine Frau in der Schubkarre

Etwa 30% der Verhafteten waren Frauen - im Vergleich zu anderen Hexenprozessen erstaunlich wenig. Während die Hälfte der jungen Bettler das Alter von 16 Jahren noch nicht überschritten hatte, betrug der Anteil der Bettlerinnen unter 20 Jahren nur etwa ein Viertel, was daran lag, daß in einer patriarchalen Kultur die Männer weit früher auf die Straße geschickt wurden.

Vom Absturz in Bettelei und Armut gab es selten ein Zurück. Betteltum wurde quasi vererbt. 21% der verhafteten Jugendlichen gaben an, daß schon ihre Eltern auf diese Art und Weise ihr Leben gefristet hatten. Es bedurfte für die besitzarmen Unterschichten nicht sonderlich vieles, um an den Bettelstab zu geraten, und dennoch war es ein Schritt ohne Wiederkehr. Für die Unterschichten hatten sich die Reproduktionsbedingungen im 17. Jahrhundert kontinuierlich verschlechtert, und daher mochte es für manche verarmte Familie tatsächlich naheliegen, ihre Kinder auf die Straße zu schicken, um so ihr Budget zu entlasten bzw. sich eine weitere, dringend benötigte Einnahmequelle zu verschaffen.

Wo bei den Bettlern der familiäre Zusammenhalt nicht mehr intakt war, traten oft reale oder erfundene Paten an deren Stelle. Für die Unterschichten waren die Patenschaften eine Form von künstlicher Verwandtschaft, ein wichtiges soziales Sicherungsnetz, das den Fall ins Nichts aufzuhalten vermochte oder zumindest bremste.

Die Bettler waren keineswegs total ausgegrenzt; die Beziehungen zur seßhaften, etablierten Welt blieben vielfältig und wurden über Verwandte und Bekannte, Paten und andere Bezugspersonen oft sorgfältig gepflegt. Man wollte diese Kontakte nicht verlieren, ohne die das nackte Elend drohte, und die Übergänge zwischen den saisonalen Beschäftigungsrhytmen der plebejischen Schichten in Stadt und Land und dem temporären Bettel waren fließend. Der bäuerliche Betrieb, dessen Funktionieren auf persönlichen Bindungen beruhte, besaß eine erstaunliche Integrationsfähigkeit. Am unteren Rand der Gesellschaft gab es ausgedehnte Grauzonen, in denen sich saisonale Beschäftigung und Erwerbslosigkeit abwechselten, partielle Integration und Desintegration beständig ineinander übergingen.

Die Mobilität der Bettler war deutlich regional begrenzt und deckte sich weitgehend mit ihren Herkunftsorten. Dialektgrenzen waren für Menschen, die, in ihrer Existenz auf die Unterstützung anderer angewiesen, ein kaum zu überwindendes Hindernis.

Die Grenzüberschreitung zur bürgerlichen Eigentumskriminalität war bei den Bettlern nicht so häufig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Und vor allem nicht so, wie es ihnen von der Obrigkeit immer wieder zur Last gelegt wurde. Auch wenn Obstdiebstahl und ähnliches des öfteren vorkamen, so wurde doch die Grenze zu schwereren Diebstählen oder gar zu Raub nur selten überschritten, da die Bettler sehr wohl wußten, daß ihr Wohlergehen stieg und fiel mit dem Rahmen, in dem sie sich bewegten. Im Gegensatz zur ländlichen Bettlertradition entwickelte sich die Salzburger Stadtbettlerszene. Diese, im wesentlichen eine jugendliche Subkultur, machte durch ihre Verhöhnung jeglicher Autorität, Lautstärke, Tumult und Verwünschungen sowie Verfluchungen auf sich aufmerksam. Gewalttätige Momente erhielten Einzug in die Bettlerkultur am stärksten durch ehemalige Soldaten und andere bewaffnete Randgruppen und Räuberbanden.

Ohnmachtsgefühl und Rachephantasien der Bettler

Die in der religiösen Ordnung festgeschriebene Dankbarkeit für den Erhalt des Almosens war mitverantwortlich für die Krise der Bettler in der frühen Neuzeit. Das Almosen genoß im Mittelalter noch eine rituelle Einbindung. Mit der Moralisierung im protestantischen Kontext der entstehenden Staatlichkeit und der Etablierung des Bürgertums verlagerte sich das Geben des Almosens immer mehr auf das Gewissen des Spenders. Die protestantische Erwerbsethik hielt zunehmend dazu an, das Spenden als Verschwendung und somit als Sünde zu begreifen. Frömmigkeit wurde immer stärker zur privaten Tugend erhoben. Der Bettler wurde nunmehr an der subjektiven Haltung gemessen, die er gegenüber dem Geschenk annahm. Der religiös eingegrenzte Austausch, von dem beide nur profitieren konnten, verlagerte sich auf ein Bitten und Betteln einerseits und das “großherzige Gewähren” einer milden Gabe andererseits. Es stand nun nicht mehr das Seelenheil des Spenders im Mittelpunkt, sondern die durch den Besitz materiellen Reichtums höhere Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie, verbunden mit der Selbstbefriedigung durch die gute Gabe. Der damit verbundenen Verhaltenserwartung konnte der Bettler indes kaum genügen - im Gegenteil, die Formen des Bettels wurden, bedingt durch einen immer stärkeren innerbettlerischen Konkurrenzkampf und eine immer massivere Verarmung, aggressiver und mußten zu einem unauflöslichen, für die Bettler letztendlich tödlichen Mißverständnis führen.

Die ständische Ordnung blieb im mittelalterlichen Katholizismus gewährleistet; der Arme hatte sein Los in Demut zu ertragen, während der Reichtum von der Kirche in Repräsentationsobjekten angelegt wurde. Der Adel schuf großartige Schlösser, führte Krieg, arbeitete nicht und schlug seine Untertanen.

War Armut an sich im mittelalterlichen Katholizismus nicht negativ besetzt, so änderte sich dieses Bild im Protestantismus erheblich. Das katholisch-päpstliche Gottesfundament beruhte auf einer patriarchalischen Linie, die vom männlichen Gott über den Papst und die Kirchenherren bis zum Familienvater reichte. Das feudalistische Ständeprinzip gab sich die Form eines innergesellschaftlichen Ausgleichs, der verhinderte, daß die Armen verhungerten. Ihnen wurde einerseits die Aussicht auf das Himmelreich versprochen, andererseits galt der Reiche nur dadurch als gut, indem er von seinem Reichtum den Armen etwas abgab. Er mußte sich also mit Almosen gewissermaßen den Zugang zum Himmelreich erkaufen. Die ständische Ordnung blieb dadurch gewährleistet; der Arme hatte sein Los in Demut zu ertragen, während der Reichtum von der Kirche in Repräsentationsobjekten wie prunkvollen Dömen und Kathedralen angelegt wurde. Der Adel schuf großartige Schlösser, führte Krieg, arbeitete nicht und schlug seine Untertanen.

Der Protestantismus verbreitete sich vor allem im städtischen Bürgertum bei den Kaufleuten, Handwerkern usw., die gegen den Adel und den katholischen Klerus die neuen bürgerlichen Tugenden ins Feld führten: Sparsamkeit, Redlichkeit, Fleiß und Ordnung. Im Protestantismus, insbesondere im Calvinismus galt Reichtum nunmehr als etwas, das erarbeitet und (re-)investiert werden mußte. Der Adel galt als parasitär, der katholische Klerus als dekadent. Gleichzeitig wurde das Bettelwesen neu bewertet. Der Arme hatte nicht mehr das schwere Erdenlos zu tragen; er war arm aus Faulheit, denn Reichtum galt als das Resultat harter Arbeit. Dem folgte die neuzeitliche und in den späteren Jahrhunderten immer weiter verfeinerte Verächtlichmachung von Armut, die bis in die puritanisch geprägte US-Verfassung als pursuit of happiness eingegangen ist. Das Almosen galt nunmehr als etwas, das der Tüchtige dem Nicht-Tüchtigen aus Gnade überließ - kein Tauschakt mehr, sondern ein Gewähren. Der faule Bettler konnte keinerlei Recht auf die Gabe in Anspruch nehmen. Das spiegelt sich bis heute in der umgangssprachlichen Bezeichnung des Bettlers als Penner wieder.

Das Bettelwesen wurde neu bewertet. Der Arme hatte nicht mehr das schwere Erdenlos zu tragen; er war arm aus Faulheit, denn Reichtum galt als das Resultat harter Arbeit. Dem folgte die neuzeitliche Verächtlichmachung von Armut, die bis in die puritanisch geprägte US-Verfassung als pursuit of happiness eingegangen ist.

Das katholische Salzburg zeichnete sich bis in das 17. Jahrhundert durch eine relativ großzügige Armutspolitik aus. Trotzdem kam es auch hier zu einem zunehmend aggressiven Bettelverhalten. Die immer radikaleren Erwerbspraktiken der Vaganten zeigten sich u.a. in zunehmenden Verfluchungen.

Daß die Bettler in einer eigenen Realität bzw. Subkultur lebten, in der sich Stilisierungen, Wunschvorstellungen und konstruierte Biographien mit realen und erdachten Fähigkeiten verbanden, zeigt auch die Vertrautheit der Bettlerkultur mit magischen Ritualen und Praktiken. Die von der Marginalisierung Betroffenen neigten dazu, den Bauersleuten ihre “besonderen” Fähigkeiten anzupreisen und dabei auch stark zu übertreiben. Exemplarisch ist hier der Fall des Abdeckersohns Hänsl Ridl, der 1677 der Kramerin Christina Zänklin anbot, ihr eine Salbe zu machen. Obwohl die mit der Kadaververwertung beschäftigten Abdecker über ein reichhaltiges volksmedizinisches Wissen verfügten, weckte dies bei der Kramerin den Verdacht auf eine Hexensalbe.

Die vagabundierende Lebensweise der Bettler entzog sich der Kontrolle der Kirche und des Staates weitestgehend. Das Bestreben der Obrigkeit ging dahin, das bettelnde Vagantentum allgemein als magie-verdächtig darzustellen. Dies führte zur weitgehenden Isolierung von der Restgesellschaft. Das in Hexenprozessen immer wieder auftretende Element der Dämonisierung nicht opportuner, aber von alters her bekannter Verhaltensformen durch die staatliche Obrigkeit und durch die gegenreformatorische Kirche zeigt sich als Versuch, durch schärfste Kriminalisierung die Isolierung der Randgruppen voranzutreiben. Der Umbruch geschah innerhalb weniger Jahre. 1673 etwa ließ Thomas Kessler, Vikar in St. Veit, seinem Zorn freien Lauf: Die Bettler würden ketzerische Bücher verkaufen, Superstitiones einschwätzen, dem Volk sei das Vieh verzaubert. Im Unterschied zu den Anklagen wegen Schadenszaubers zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird im Jahr 1673 den Bettlern allein ihr Geschäft mit der Leichtgläubigkeit der Leute zum Vorwurf gemacht. Bereits 1677 offenbart sich im Fall Hänsl Riedl das neue Feindbild des Aberglaubens von Seiten der katholischen Kirche, die in Trennung zwischen dem Heiligen und Profanen auf Distanz zur Bevölkerung ging und immer weniger in das Volk hineinschauen konnte. Die unkontrollierbaren und daher für ihren Machterhalt gefährlichen Bereiche füllte die Kirche mit der angeblichen Existenz von schwarzer Magie.

Der Hexenprozeß gab den Bettlern durch die Dämonisierung eine Macht und Stärke, die sie in Wirklichkeit gerne gehabt hätten: Sie überhöhten noch die Anklagepunkte durch grandioseste Selbstübertrumpfungen und holten sich das, was sie in ihrem Leben niemals bekommen hatten: soziale Anerkennung, die sich in ihrer Hinrichtung manifestierte.

Die Bettler, bei denen das Spiel mit Zaubertricks, magischen Wundermitteln, Salben, Illusionen und erfundenen bzw. sich selbst erfindenden Geschichten zum Standardrepertoire ihres Lebensunterhaltes gehörte, die sich aber größtenteils nicht als Zauberer betrachteten, waren sich der Gefahr nicht bewußt, in der sie schwebten. Der Glaube an die Existenz von Schadenszauber und Gegenzauber war in der Bevölkerung und auch bei den Bettlern allgemein verbreitet. Die Fähigkeiten der eigenen Person wurden aber durchaus realistisch eingeschätzt: der Jackl konnte zaubern, man selbst konnte es nicht. Erkennbar ist ein Zusammenspiel von Rachephantasien der Bettler, wirklicher Ohnmacht und Demütigungen und deren Umkehrung im Hexenprozeß. Situationen, in denen sich ihre totale Abhängigkeit und Marginalisiertheit den Bettlern zeigten, gehörten zu ihrem alltäglichen Leben. Daß sich daraus Rachebedürfnisse ergaben, liegt auf der Hand. Da aber die Bettler aufgrund ihrer ohnehin sehr zwiespältigen Reputation in der Öffentlichkeit gezwungen waren, sich wenigstens innerhalb der bestehenden Normen zu bewegen, kanalisierte sich das Rachebedürfnis in Phantasien und imaginären Handlungen, wobei die Vorstellung vom stillen und heimlichen Schadenszauber eine besondere Bedeutung gewann.

Die Wirksamkeit dieser Vergeltungsphantasien äußerte sich allein in der Furcht der von den Bettlern Gekränkten. Mit den Worten von Charles Baudelaire gesagt: “Eine Geschichte ist nur insofern wahr, wie der Zuhörer ihr Glauben schenkt.” Das eigentlich perverse Element des Hexenprozesses zeigte sich in der Verdrehung, Verstümmelung und Satanisierung ganz realer Konflikte, die dem heimlichen Vergeltungsbedürfnis der Bettler in einer für sie zerstörerischen Art und Weise entgegen kam. Der Hexenprozeß gab ihnen durch die Dämonisierung eine Macht und Stärke, die sie in Wirklichkeit gerne gehabt hätten: Die Bettler überhöhten noch die Anklagepunkte durch grandioseste Selbstübertrumpfungen. Sie holten sich das, was sie in ihrem Leben niemals bekommen hatten: soziale Anerkennung, die sich in ihrer Hinrichtung manifestierte. Die Situation ist paradox: Ein Delinquent schafft sich durch die Überstilisierung eines vom Gericht erfundenen, aber von ihm selbst gleichzeitig herbeiphantasierten todeswürdigen Verbrechens die Grundlage seiner eigenen Todeswürdigkeit.

Epilog: Exkurs und Ausblick

Anders als auf dem europäischen Festland erlangte die Vagabunden- und Bettlerverfolgung im angelsächsischen Raum aufgrund der frühzeitigen Ausbildung eines Zentralstaates im Zusammenhang der ursprünglichen Akkumulation eine weitgehend ohne magisch-mythische Stigmatisierung auskommende, d.h. säkulare Qualität. Im Übergang in die Moderne wurden die Menschen aus ihren feudalen Zusammenhängen gerissen und in Vagantentum und Bettlerei getrieben. Als solche wurden sie massenhaft gefoltert, versklavt und ermordet. Thomas Morus wußte in seiner Schrift Utopia davon zu berichten, daß Großgrundbesitzer ihre Bauern und Hörigen von den heimischen Feldern und Höfen vertrieben, um für die sich herausbildende Textilproduktion Schafherden auf den nun brachliegenden Äckern zu halten. Morus bezeichnete zynisch die Schafe als Menschenfresser, weil die Fortgetriebenen mit ihrem letzten Hab und Gut, jeglichen sozialen Halts beraubt in der Gegend umhervagabundieren mußten, mittellos in die Städte flüchteten, zum Betteln gezwungen waren und als Bettler erhängt wurden. Heinrich VIII. etwa ließ in seiner Zeit als König 72.000 Vagabunden in England ermorden.

Erst allmählich, nachdem sich die modernen Verhältnisse herausgebildet hatten und die Textilmanufaktur durchkapitalisiert war, also mit modernen Maschinen betrieben wurde, reduzierte sich sprungartig das riesige Heer der Vagabondage, das vom Proletariat absorbiert wurde. Die repressive Gesetzgebung gegen Bettler transformierte sich in Disziplinierungsmaßnahmen der nicht an solche Arbeit gewöhnten ehemaligen Outlaws, die in “Workhouses” an die moderne Arbeitsdisziplin gewöhnt wurden. Bis in das 20. Jahrhundert hinein wuchs - von den regelmäßigen Krisenzyklen abgesehen - stetig der Bedarf an Arbeitskräften im Kapitalismus.

Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert scheint sich nunmehr ein ähnlicher Prozeß zu vollziehen, wie er sich zur Zeit der ursprünglichen Akkumulation abgespielt hatte: Eine stetig zunehmende Masse an Menschen wird aus den kapitalistischen Bindungen und Verwertungszusammenhängen entlassen und zu drop-outs gemacht - Ausgeworfene, die für das System keinen Nutzen mehr haben. Sie werden von einem autoritären Staat und von den erkalteten gesellschaftlichen Verhältnissen einem sozialen Tod überantwortet. Der Bettler wird zum Penner.

Historiker, Dozent, Publizist