Der Muttersohn

Xorxoril trat aus der Höhle hinaus. Er hatte Xorgolchoron, die Stadt der Todeselfen, hinter sich gelassen, war durch Tunnel gekrochen und durch unterirdische Flüsse geschwommen, hatte den Grottenspinnen Gift abgezapft und sich vor den Steinsalamandern versteckt.

Der volle Mond beschien das Tal mit Zwielicht und ließ die Elfensiedlung im Wald wie aus Silber gegossen erscheinen. Das Halbblut konnte diesen Nachtfrieden nicht genießen. Dort unten lebte seine leibliche Mutter Iliolin, eine Elfe des Buchenwaldes, die er seit zwölf Wintern nicht mehr gesehen hatte. Seine Zeugung hatte ihn zum Außenseiterdasein verdammt. Die im Tal unten hielten seine elefantenfarbene Haut für verräterisch, die Schwarzelfen misstrauten ihm ebenfalls, egal, was er tat. Xorxoril hatte Menschen und Zwerge gefangen und sie seiner Schöpferin, der Todesmutter geopfert und doch blieb er für die Kinder der Todesmutter der Murdulul, der Mischling.

Xorxoril prüfte seinen Obsidiandolch und schlich durch das Unterholz. Seine graue Haut tarnte ihn perfekt und das Hemd aus Menschenhaut hatte er ebenfalls in den Farben des Mondes gefärbt. Aber auch die Verwandten, die Buchenwandler, wie sie sich nannten, waren Elfen und hatten scharfe Sinne wie er. So beobachtete er jeden Baum, jeden Farn, jeden Weißdornbusch drei Mal und verkleidete sich. Er schlüpfte in eine Robe aus geflochtenen Birkenzweigen und zog die bleiche Haut eines erbeuteten Menschen über das Gesicht. Seine Ohren bestäubte er mit Kalk. Das war nicht genug, er schloss die Augen und murmelte einen Zauberspruch, fühlte, wie sich die rosige Haut über seine eigene legte, seine Haarwurzeln eins mit der Hülle seines Opfers wurden.

Dann aktivierte er sein Quartzamulett, das Auge der Todesmutter. Jetzt konnte er sich wie eine Viper zwischen dem Krokus und dem Bärlauch hindurch winden. Er legte einen Tarnzauber auf seine schwarze Rüstung und seine Waffen, die jetzt den Anschein von Laub und Farngestrüpp erweckten.

Wenn die Elfenwachen auf das Rascheln aufmerksam würden, hörten sie zugleich das Schnaufen und Schmatzen eines Igels. Er hatte keine mächtigen Zauber angewandt, die Wachen waren zwar Elfen wie er, aber der Krieg hatte längst geendet und Xorxoril hoffte auf ihre Unachtsamkeit. Er würde seine Energie später noch brauchen.

Sie standen am Rosensee, drei Buchenwandler, so hießen sie, die Waldelfen, zu denen er einst gehört hatte, mit Langbögen und Jagdschwertern. Die Elfen zuckten tatsächlich, als er sich vorbeischlängelte, beruhigten sich aber binnen eines Augenblicks. Die Waldverwandten schienen sich in Sicherheit zu wiegen, sonst hätten sie einen Magier postiert und dann hätten sie ihn vielleicht gefangen.

Binnen eines weiteren Augenblicks steckten Obsidianpfeile in den Herzen der ersten beiden Waldelfen. Der dritte sprang geschwind hinter einen Holunderbusch, genau in Xorxorils Obsidianklinge, den Ritualdolch, den Fangzahn der Todesmutter, die er der Wache durch das Zwerchfell in die Brust bohrte. Die Größe des Ermordeten entsprach ungefähr der Größe des Eindringlings. Xorxoril zog den Umhang der Leiche über und zog deren Helm in Form einer Tulpenblüte über den Kopf, denn der Zauber würde nicht lange anhalten. Die Anderen zog er hinter den Holunderbusch, nachdem er ihre Herzen aus den Körpern entfernt hatte. Er biss in die Herzen hinein und verschlang von jedem ein Stück roh, dann begrub er sie in der feuchten Erde und betete zu seiner Göttin. Seiner Religion zufolge waren alle Kreaturen entstanden, als Xorgolgorchara, die Eine, die Dämonen der Zeit vor der Zeit besiegt und ihr Blut auf der Erde vergossen hatte. Aus den Blutstropfen waren sie entstanden, die Elfen, die Menschen und die Tiere. Und Blut mussten ihr ihre Diener darbieten, um ihrer Göttin die Ehrerbietung zu zeigen. Denn die Prophezeiung sagte, dass Xorgolgorchara in fünfhundert Wintern auf die Erde kommen und alle Kreaturen verschlingen würde. Wenn ihre Diener ihr heute schon Fleisch- und Blutopfer brachten, konnten sie dem Untergang vielleicht entgehen und würden Geister in der neuen Zeit werden. Xorxoril sang: „Todesmutter, die alles gebiert und alles verschlingt, nimm dieses Opfer in deinen Bauch zurück.“

Der Mörder beendete sein Gebet, dann ging er aufrecht die Straße zum Baumhausdorf der Waldelfen entlang und erreichte die Siedlung ohne Zwischenfälle. Die Silberhunde, die Wachhunde der Waldelfen, knurrten kurz und sprangen dann zu ihm, wollten ihm über das Gesicht lecken. Die Hunde kannten zum Glück die Vorurteile seiner Verwandten nicht, sahen in ihm einen Elfen, keinen Bastard.

Er hielt kurz inne und fühlte sich in die Zeit zurück, als er hier mit Myrilia, seiner Waldschwester, Wildkatzen zur Jagd abgerichtet hatte, vor achtzehn Wintern. „Keine Zeit zu träumen“, murmelte der Rückkehrer und nutzte die Schatten, um zur Trauerweide am Nordufer des Rosensees zu kommen. „Das ist immer noch so schön wie damals“, flüsterte der Elf, während er die spiegelnden Sternbilder im Wasser bewunderte und das wie eine Mistel in die Weidenkrone geflochtene Haus seiner Mutter betrachtete. „Hätte ich nur hier bleiben können“, nuschelte er und eine Träne floss sein durch Zauber verformtes Gesicht hinab. Dann erhob sich seine Stimme wie das Zirpen von Grillen, wie die Töne der Nachtigall; in der Sprache der Waldelfen sang er das Lied von den beiden Libellen, auf denen zwei Elfenkinder in den Himmel ritten. So rein, so klar summte er, dass kein Buchenwandler ihn für jemand aus der Unterwelt hätte halten können; und sein Gesang mischte sich mit dem Buhen der Eulen, die durch die Nacht flogen, den Brunftschreien der Hirsche und dem Schnattern der Wildenten, die sich auf dem See zum Schlafen eingefunden hatten.

Dann öffnete sich eine Luke da oben, ein Mensch hätte wohl nur einen Schatten wahrgenommen, und ein Gesicht erschien, wie das Gesicht einer Frau, aber diese herzförmigen Konturen, diese Mandelaugen in Smaragdgrün, diese Haare wie Saiten einer Harfe, so schön konnte keine Menschenfrau sein und auch die meisten Elfinnen nicht.

„Sisiolili, Morgentau, mein Sohn, bist du es?“ Vor seiner Mutter konnte er sich nicht verkleiden, ob mit oder ohne Zauber, aber dieser alte Name, das war nicht mehr er: „Ja Mutter, ich bin aus dem schwarzen Bauch der Erde zu dir zurückgekommen.“ Die Stimme seiner Mutter klang überrascht: „Ich hatte nicht gehofft, dass wir uns noch einmal wieder sehen. Der Buchenrat hat mir verboten, Kontakt aufzunehmen. Sie bewerten dich als Todeselfen, nicht als einen der ihren.“ „Ich komme von den Todeselfen zu dir, Mutter.“ Iliolin antwortete, ohne zu zögern: „Ja, aber du bist mein Kind, und ich fürchte mich nicht vor meinem eigenen Blut. Das Böse, das du dort gelernt hast, kann gegen die Kraft einer Mutter gegenüber ihrem Sohn nicht ankommen. Ich werde dich heilen, mein Morgentau.“ „Darf ich hereinkommen?“, fragte Xorxoril. „Mein Sohn, mein Haus ist dein Haus, es ist das Haus deiner Familie, deine Schwester hat hier gelebt und dein Bruder Biolgilol Schilfflöte“, empfing ihn seine Mutter.

„Sie sind nicht mehr hier?“, fragte Xorxoril erleichtert. „Nein, mein Morgentau, Myrilia ist als Musikantin an den Hof von König Niogolfin in die geheimen Gärten gezogen und Biolgilol, nun.“ „Was ist mit ihm?“ „Dein Bruder ist tot. Er starb im Krieg gegen die dunkeln Verwandten, bei denen du die letzten Jahre verbracht hast. Sie ketteten ihn an einen Felsen und ließen ihn von den Bestien der Tiefe zerfleischen.“ Xorxoril lächelte. „Krieg ist die normale Beziehung zwischen den Kindern des Waldes und den Kindern Xorgolgorcharas aus dem Bauch der Erde. Ich hoffe, er ist gestorben, ohne herumzujammern“, zischte der Sohn.

Xorxoril dachte an die alten Jahre: Heute vor achtunddreißig Wintern hatten die Todestänzer, wie die dunklen Elfen sich selbst nannten, ihre oberirdischen Gattungsverwandten überfallen und einige von ihnen gemartert. Die Folter war jedoch nicht das Ziel gewesen, der Raubzug diente einem Blutopferritual. Ygorroriul Lavapfeil, Hohepriester der schwarzen Göttin, der alles gebärenden, alles verschlingenden Erdmutter Xorgolgorchara, hatte die schönste Elfe der Waldverwandten geschändet und in einer Obsidiangruft gefangen gehalten. Dort sollte sie ihr Kind zur Welt bringen, ein Kind, in dem die Liebe zum Leben der Waldelfen mit der Mordlust der Todesalben verschmolz. Das Herz des Säuglings hatte der Hohepriester der schwarzen Göttin als Opfer versprochen. Doch Iliolin war entkommen, hatte sich in einer Grotte unter dem Rosensee verborgen und das Kind großgezogen, Morgentau hatte sie es genannt.

„Ich weiß noch, wie Biolgilol mich das erste Mal sah, als ich aus der Grotte hinaus durfte.“ „Ja, mein Morgentau, und er nannte dich Mäuschen, weil deine Haut grau schimmerte wie Mäusefell.“

Xorxoril kletterte das Weidennetz hoch zum Eingang seines Mutterhauses. Sie drückte ihn an ihre Brust. Zwölf Winter waren keine Zeit für eine Elfe und nur ein Sohn konnte die feinen Falten an ihren Augen erkennen, fein wie Spinnweben. Xorxoril blickte sich um. Der Tisch aus Erlenästen, das Bett aus Rosenholz, alles war wie damals. Über dem Bett hing das Bild von ihm und seiner Schwester, das Bild, das Gilgialin Birkenzweig, der Dorfkünstler, damals gemalt hatte. „Kochst du uns einen Krokustee ?“, fragte der Sohn seine Mutter. „Ja, mein Morgentau, du hast ja einen harten Weg hinter dir. Aber sag, warum trägst du die Kleidung der Buchenwächter?“ „Ich habe die Wachen getötet.“ „Mein Sohn, du hast dich mit Blut befleckt. Jetzt kannst du nicht mehr hier bleiben. Du hättest dich doch an ihnen vorbei schleichen können.“ „Ich musste ein Opfer bringen. Ich kann nicht mehr zurück, ich will nicht mehr zurück. Ich diene einer höheren Macht“, dachte sich der Rückkehrer und erkannte an den Iliolins Augen, dass sie seine Gedanken erraten hatte.

Das Baumhaus duftete vom kochenden Krokuswasser, dann trank Xorxoril aus einem Rindenbecher. „Die Zeit bei den Dunkelelfen hat dich verroht, mein Junge. Früher konntest du nicht einmal ein Eichhörnchen umbringen. Du hast nur Früchte und Pflanzen gegessen, weil du kein Tier töten wolltest.“

Xorxoril fixierte seine Mutter mit seinen smaragdfarbenen Augen. Der Blick hätte einen Menschen wohl erzittern lassen, aber nicht Iliolin: „Sie haben andere Sitten dort unten, Mutter. Sie feiern nicht das Leben, denn das Leben ist nur ein Atemzug auf dem Weg in das Reich der Muttergöttin. Sie verehren die Göttin Xorgolgorchara, die Todesmutter, die alles Lebende in sich aufnimmt, nachdem sie es in die Welt hinaus geworfen hat. Nicht Bardensang und Liebesspiel, sondern Krieg und Mord zeigen die Ehrerbietung der Göttin gegenüber.“ Seine Mutter blickte ihrem Sohn entsetzt in das Gesicht: „Das ist ja schrecklich. Warum bloß hat dich damals das Waldvolk diesen Ungeheuern ausgeliefert? Du redest, als wärest du ein Schwarzelf.“ Sie formte ihre Hände zum Halbkreis der Mondsichel und sang das alte Zauberlied, mit dem sie ihre Kinder einst vor den Kreaturen der Nacht, den Blut saugenden Elfenvampiren, den Todesfeen und den lebenden Toten geschützt hatte.

Xorxoril zitterte und umklammerte den Fangzahn der Todesmutter an seinem Gürtel aus Zwergenhaut. Schwarze Strahlen wirbelten vom Dolch seinen Unterarm hoch, legten sich wie ein Netz um seine Brust, stellten sich wie ein Schild aus dunklem Nebel vor sein Gesicht.

„Morgentau, was tust du. Ich schütze dich, du musst keine Wand aufbauen, um deine Mutter abzuwehren. Ich will, dass es dir wieder gut geht. Du musst viel gelitten haben, mein armes Kind. Xorxorils Stimme hinter dem Schleier klang leblos, ohne Emotion, so als hätte Lavagestein zu sprechen begonnen: „Mutter, die Kinder Xorgolgorcharas sind Elfen, so wie ihr.“ Das Gesicht seiner Mutter glühte grün und die Energien des Waldes zentrierten sich in ihr: „Es sind böse Elfen, mein Sohn. Du bist kein Schwarzelf. Sie haben dir das schöne Leben genommen, das du hättest haben können, die Gesänge des Waldes. Sie haben dir das Gefühl genommen, was es bedeutet, ein Elf zu sein, die lieblichste Kreatur, die Cerlihilian, der erste der Götter, geschaffen hat, ein Elf, ein Wesen, geschaffen, um allen lebenden Wesen Freude und Glück zu schenken, ein Wesen, in dem Cerlihilians Reich des Regenbogens schon in der Welt des kreatürlichen Lebens Gestalt annimmt. Cerlihilian ist ein guter Gott, der die Elfen kennt und liebt.“ Von ihren Augen gingen grüne Strahlen aus, Strahlen, die in sich das Leuchten des Mondes auf den Eichenblättern ebenso zu tragen schienen wie das Farnkraut und die satte Farbe der immergrünen Mistelzweige. Wie in einem Kaleidoskop blitzen die Formen von Hyazinthen und Rosen, Krokussen, Lilien und Orchideen, ja von den verschiedensten Blüten des Waldes auf und spielten wie von einer Brise des Sees getragen, um Xorxoril.

Aber es war, als würden sie an einer Wand aus schwarzem Glas aufprallen, ohne eine Öffnung, durch die sie hinein fliegen konnten, um den Körper des Elfen, seine Haut, zu erreichen. Aus Iliolins Augenstrahlen schien sich eine Gestalt zu formen, in gelbgrünem Licht, wie ein Wesen aus der Uferzone des Sees, wenn die ersten Strahlen der Morgensonne die Wasseroberfläche erwärmten. Es ballte sich zusammen wie eine gold glühende Wildkatze, aber mit Schwimmhäuten an den Füßen wie ein Fischotter, das Tier der Wiedergeburt der Waldelfen. Der Schwanz, buschig wie der eines Eichhörnchens schlug hin und her wie der einer gereizten Katze und schien dabei einen Sternenschweif mit sich zu ziehen. Am goldig glitzernden Katzenkopf wuchsen Geweihstangen. Xorxoril schluckte und dachte: „Iliolin hat einen Chililionik beschworen, einen Waldgeist, nicht den mächtigsten, aber der Geist hatte einen Heimvorteil, denn er zog seine Kraft aus der Energie des Waldes. Früher war das mein Schutzgeist, ein Geist der aufgehenden Sonne. Er hat mich vor den Schwarzelfen behütet.“ Xorxoril hatte nur den Dolch, dessen Vulkanglas ihn mit den Dämonen der Erdmutter verband. Doch sie mussten einen weiten Weg zurücklegen und die Waldelfen hatten die Astralwelt ihres Buchendorfes hervorragend gesichert. Geister des Farns, Feenwesen der Weiden, Dryaden und intelligente Baumwesen bemerkten das Eindringen fremder Energien. Geisterhunde in den Morgennebeln, Mondkatzen, deren Blick hypnotisierte und andere Kreaturen des Waldes sorgten dafür, dass die Schwarzelfen den Wald nicht verheerten. Xorxoril war den Wächtern der Haine nicht aufgefallen, denn in ihm pulsierte auch noch das Blut der Buchenelfen, tief verborgen. Und er wusste, was seine Mutter vorhatte. Der Chililionik kämpfte nicht gegen ihn, sondern sollte den Schleier des Bösen von ihm nehmen, der sich wie eine zweite Haut über ihn gelegt hatte. Xorxoril würde die Geister gegeneinander kämpfen lassen, im Ernstfall bevorzugte er einfache Methoden und Zaubern kostete Energie.

Vor dem Chililionik schien die Luft zu brodeln und die Form einer Spinne wie aus Lavaglas bewegte sich lautlos in der Luft, schien ein Netz aus Kristallfäden um Xorxoril zu weben. Einzelne Sternregen prasselten durch die Öffnungen im Netz, aber fielen zu Boden, bevor sie den Körper des heimgekehrten Sohnes erreicht hatten. Die Schwarzglasspinne stürzte sich auf die katzenartige Manifestation. Die wiederum fuhr mit Goldkrallen über den Hinterkörper der Glaskreatur, fauchte und versuchte, sich in den Kopf hinter den Mandibeln der Spinne zu verbeißen.

„Lass die Geistwesen das untereinander regeln“, flüsterte Xorxoril freundlich Iliolin zu. „Ich bin nicht hier, um zu kämpfen. Gut und böse liegt im Auge des Betrachters. Die Dunkelheit hat die Kinder der Todesmutter dunkel werden lassen, Mutter. Sie sind Geschöpfe der Unterwelt, deshalb verhalten sie sich so, wie sie sich verhalten müssen, sie dienen der Göttin, die sie geboren hat.“ „Aber in dir, mein Junge, in dir steckt ein guter Kern. Du bist mein Kind, nicht das Kind dessen, der mich schändete.“

Xorxoril schwieg, sein Leben stellte ihn vor Aufgaben, die seine Mutter nicht erahnen konnte. Dann sagte er ruhig: „Schick bitte den Chililionik in den See zurück. Ich möchte jetzt nicht mit ihm spielen.“ „Ja, mein Morgentau“, antwortete die Waldelfe und schloss die Augen. Der Goldschweif wirbelte im Raum umher, die Katzenform zog sich wie eine in der Luft rotierende Schlange zusammen und zog sich den Baumstamm hinab in die Uferböschung des Sees.

Sie tranken still von dem Krokustee, Iliolin streichelte über seine Maske: „Deine Haut ist nicht mehr grau wie früher und dein Gesicht sieht anders aus.“ Xorxoril senkte den Kopf und hob den Zauber auf. Die Hautmaske fiel vom Gesicht:„Doch, Mutter, ich habe immer noch die Farbe eines Mischlings, aber ich bin es nicht mehr.“ „Nein, mein Sohn, denn du bist zu mir zurückgekommen, in den Wald. Du hast dich entschieden, das Leben eines Elfen zu genießen und deinen Frieden zu finden.“ „Ja, Mutter.“

Iliolins Augen blickten traumtrunken in die leuchtende Iris ihres Sohnes, dann fiel ihr Kopf auf den Tisch. Xorxoril nahm ihr Handgelenk und fühlte den Puls. „Das Spinnengift hat seine Wirkung getan. Dein Herz schlägt nicht mehr. Ich bin nicht hier, um zu kämpfen, ich bin zurückgekommen, um dich zu töten und ich habe es getan.“ Mit schnellen Schnitten seines Obsidiandolchs trennte er Iliolins Kopf vom Körper, dann öffnete er den Brustkorb und entnahm das warme Herz.

Er blickte nach draußen. Die Sonne kroch bereits in die Laubdecke und legte einen Goldschimmer wie ein Mosaik über die Kronen, wie es nur in einem Ort der Waldelfen vorstellbar sein konnte. Xorxoril blickte auf den Morgentau, der sich auf das Gras gelegt hatte: „Keine Zeit mehr, um meiner Kindheit hinter her zutrauern“, hustete der Elf mit Selbstverachtung in der Stimme, steckte den Kopf und das Herz der Frau, die ihn geliebt hatte, in seine Rückentasche. Dann nahm er das Bild von der Wand und fügte es hinzu.

Er ging mit schnellen Schritten, aber ohne zu rennen, durch das Dorf. Die ersten Waldverwandten blickten bereits aus ihren Rindenhütten und winkten ihm zu, ihm zu, ihm, der den Umhang der Wache trug. Dann gelangte er zum Wald, folgte dem Bachlauf entgegen dem Strom, bergauf. Kein Silberhund würde seine Spur finden. Er warf den Umhang in ein Dickicht. Xorxoril rannte die Serpentinen hinauf zu den Granitfelsen, kam zu dem verborgenen Eingang, sprang zwischen den Stalaktiten und Stalagmiten hindurch und sang in der Sprache der Schwarzelfen, ein anderes Lied als das Lied des Waldes. Sein Lied klang wie das Röcheln Verwundeter, wie das Knirschen von Daumenschrauben, wie Peitschenschläge in sonnenlosen Verliesen.

Der Elf kam zum unterirdischen Fluss und dort warteten sie, die Wachen seines Erzeugers, fünf Herzjäger der Unterwelt und zwei Nekromanten, denn die Kinder aus dem Bauch der Erde wiegten sich niemals in Sicherheit. „Warst du erfolgreich?“, fragte ihn der Anführer. „Sonst wäre ich nicht zurückgekommen“, knurrte Xorxoril, dessen grüne Iris schwarz zu leuchten schien. Die Eskorte geleitete ihn zu ihrem Nachen aus Rippenknochen, bespannt mit Zwergenhaut, sie fuhren Stunden um Stunden durch die Dunkelheit, bis sie zum Wasserfall der Höhlen kamen. Die Wachen vertäuten das Boot am Obsidianhafen.

Dann stiegen sie die Felstreppen hinab in die Lavasteinhöhle, zum Tempel der Todesmutter von Xordoron. Zum ersten Mal in seinem Leben durfte Xorxoril die Kultstätte betreten.

Xorgolgorcharas Priester hatten sich um den runden Obsidianaltar versammelt und lauschten stumm den Ritualgesängen ihres Meisters. Er stand in ihrer Mitte, seine Haut glänzte schwarz wie poliertes Ebenholz und seine Haare fielen weiß wie pulverisierte Knochen ab. Xorxoril betrat mit gemessenen Schritten den heiligen Kreis und fiel vor Ygorroriul Lavapfeil auf die Knie, öffnete die Rückentasche und legte dem Hohepriester das Herz und den Kopf zu Füßen. „Nun, mein Sohn, du hast die Prüfung bestanden. Ab heute bist du für uns kein Murdulul mehr, kein Bastard; und wer dich jemals einen Mischling nennt, wird den Tod empfangen. Dieses war dein erster Schritt auf deinem Weg, ein würdiger Nachfolger deines Vaters zu werden, ein Dunkelelf unter Dunkelelfen, ein Geschöpf der Finsternis, dessen Seele so schwarz ist wie die Tränen der Göttin, der du dienst, deiner Todesmutter.“ Xorxorils Augen glänzten und eine Träne floss über seine grauen Wangen. Alle Zweifel, alle Unsicherheiten seines früheren Lebens lösten sich auf. Er hatte die Prüfung bestanden und war aufgenommen in die Priesterschaft der Xorgolchara; er hatte bewiesen, dass er seinen Namen mit Würde trug: Xorxoril, das Blutopfer. Er neigte seinen Kopf vor dem ausdruckslosen Antlitz desjenigen, der einst seine kreatürliche

Mutter geschändet hatte: „Danke, Vater. Ich habe lange gebraucht, aber jetzt bin ich endlich in den Hallen unserer Muttergöttin angekommen.“

Arizona 2007 / Chiricahua Mountains / Painted Desert / Grand Canyon / Monument Valley

Feenköniginnen, Irrsinn und Drachen: Bilder 2012

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Feenkönigin

schwarze meerjungfrau

Drache grün

Drache rot

Meerdrache

Feenkönig im Morgengrauen

Feenkönig bei Nacht

Faszination Irrsinn

Kaziranga National Park, Assam, India

Der Beutelwolf - Artenschutz und soziale Emanzipation

von Utz Anhalt (sopos)

“Bis zum langsamen Tod des Elefanten haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren.” Theodor W. Adorno.

“Wir sind alle Könige auf einem Totenfeld.” Elias Canetti

Die Natur braucht den Menschen nicht, aber der Mensch die Natur. Die Erhaltung der Artenvielfalt und Menschenrecht schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.

Das abendländische Naturverständnis bedingte die Genese des Kapitalismus: Gott herrschte über die Menschen und die Menschen über die Natur. Die Bourgeoisie kapitalisierte dieses Herrschaftsrecht des Adels, statt es zu überwinden. Die Theoretiker des Zivilisationsparadigmas in der Tradition von Descartes, Leibniz und Galileis setzten den Europäer und den Fortschritt gegen die Natur. Kant löste sich davon nicht, sondern fügte dem Mechanismus noch den Rassismus hinzu (physische Geographie), wobei die Minderwertigkeit der Menschen mit ihrer Nähe zur Natur abnahm. In diesem Punkt war er sich mit Hegel einig. Dieses Fortschrittsdogma der Moderne zeigte sich bis heute als Scholastik mit religiös-fundamentalistischem Kern, eine Religion, die das “Barbarische”, “Naturhafte”, “Religiöse” der Vormoderne oder dem Außen zuschreibt (siehe Samuel Huntington).

Die Erfahrungen der Jahrtausende in der Erkenntnis der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Ökosystem galten der Scholastik des Mittelalters als abergläubisch, der Moderne als rückständig. Ziel des technischen Fortschrittes war es, in einer “Tabula rasa” alles hinter sich zu lassen, was vorher war. Das Tier galt als etwas Anstößiges, was überwunden werden musste. Die US-Amerikaner plakatierten diese Pioniervorstellung des Fortschritts in der “Göttin der Freiheit”, die Telegraphen und Eisenbahn in “die Wildnis” bringt. Native Americans, Wölfe und andere “wilde Tiere” flohen vor ihr.

Hermann Melville zeigte den Mechanismus des Kapitalismus in Moby Dick. Ahabs Motiv ist Rache, Rache an einer Kreatur, die sich gegen die Vernichtung wehrt. Alles, was Ahabs Mannschaft tut, ist rational, nur das Ziel nicht: Es ist der Wahnsinn. Ahab jagt die Mannschaft der “Pequod” (die nicht umsonst nach einer ausgerotteten Indianerkultur heißt) ins Verderben, nur weil es etwas geben könnte, das sich der Kontrolle entzieht. Das “Verbrechen” des weißen Wales ist, sich nicht verwerten zu lassen. Die Verachtung des Anderen (Rassismus) und die Ausrottung der Wildtiere gehören zusammen wie der Weg durch die Rosenbeete von Gärtnern wie Samuel Huntington.

Der Kapitalismus zerstört das Ökosystem des Planeten, indem er sich ihm entgegenstellt. Der Kapitalismus existiert durch die Verwertung des Wertes. Werte werden geschaffen und zerstört. Der Kapitalismus zerstört lebendige Arbeit und verwandelt sie in tote Arbeit. Starke Mächte stehen einer sinnvollen Nutzung der Ressourcen entgegen: In den 1930er Jahre entwickelten US-Farmer Kleidung aus Hanf. Hanf ist eine Pflanze, die quasi uneingeschränkt einsetzbar ist, braucht weder komplizierte Bewässerung noch mühselige Ernte und reproduziert sich unermeßlich. Hanf laugt den Boden nicht aus, sondern baut ihn auf. Die Baumwollindustriellen schlugen zu und griffen ein Nebenprodukt dieser Pflanze (das Haschisch) an. Cannabis würde die Jugendlichen verwirren und aggressiv machen. Sie schafften es, den konkurrenzlosen Hanf zur illegalen Droge zu ächten.

Das Vorbild lebendiger Arbeit ist das Ökosystem: Das Ökosystem erneuert sich zu hundert Prozent selbst. Es kostet nichts. Es produziert keinen Profit aus lebendiger Biomasse, sondern recycled die “überflüssige” Biomasse vollends. Das Ökosystem ist ein Perpetuum Mobile, eigentlich die Basis für eine humane Gesellschaft. Die moderne Naturwissenschaft weiß inzwischen, dass nicht tote Materie, sondern Beziehungsstrukturen das sind, was wir Leben nennen.

Leider denken manche Betonköpfe bei Artenschutz an “völkisch-reaktionären Heimatschutz”. Nichts ist falscher. Die Reaktionäre trieben die Welt 1914 in den Abgrund. Sie hatten an Wildtieren “geübt”. Nazis definierten sich über biologistischen Antisemitismus. “Blut- und Boden” war die Speerspitze der Vernichtung der lebendigen Natur in der Moderne. Marinettis Futuristisches Manifest war eine Ode an die Kriegstechnik, die Naturvernichtung und die Frauenverachtung. Die Nazis setzten das, was sie der nichtmenschlichen Natur antaten, gegenüber den jüdischen Opfern um. Sie unterteilten die Welt in lebenswertes und “lebensunwertes” Leben. Diese Politik hatte eine Basis in der Vernichtung der lebendigen Tierwelt; Menschen in “Schädlinge” und “Nützliche” hatte seine Entsprechung in der Ungeziefervernichtung an Wildtieren. Die Nazi-Henker brachen den Leichen die Goldzähne heraus und verwerteten die Körper der Ermordeten. Das war Verwertungslogik in Konsequenz.

Sie hatte ein Vorspiel. Opfer waren “wilde Tiere”, “wilde Menschen” und Frauen. 1810 wurde auf der Weltausstellung eine “Hottentot-Venus” präsentiert. Die Frau verstarb schnell. Ihre Genitalien wurden präpariert und im Museum ausgestellt. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Kolonialherren gehörte das Ausrotten der Wildtiere. Fritz von Schellendorf rühmte sich, 60 Löwen, ein Selous hunderte geschossen zu haben. Bis 1914 hatten Offiziere, Kolonialbeamte, Bürger und Adlige,Farmer und Siedler die afrikanische Wildtierwelt bis auf Restbestände dezimiert. Die Herren ließen ab 1914 Millionen Menschen schlachten, nachdem sie die Welt in Jagdgebiete aufgeteilt hatten. Der Gesichtsausdruck der Wehrmachtssoldaten, die auf den Leichen ihrer Opfer posierten, hatte seine Entsprechung im Gesichtsausdruck der Kolonialjäger auf den Elefantenköpfen.

“Konkurrenten” im Monopol auf den natürlichen Reichtum (Fischotter, Greifvögel, Luchse, Wölfe) wurden dezimiert - entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Professionelle Bisonjäger rotteten die Bisons aus, mit dem Ziel, den dort lebenden Natives ihre Lebensgrundlage zu nehmen. Das Fleisch der Kadaver verweste, die Zungen und Felle waren auf den Märkten im Nordosten eine Massenware. Ein menschenwürdigeres Wirtschaftssystem hätte mit den Bisonherden der Plains die damalige Bevölkerung des Westens (”weiße und indianische”) ernähren können, ohne dass der Bestand gefährdet gewesen wäre.

Wandertaube.jpgDie Wandertaube war einst der häufigste Vogel der Welt. Ihre Schwärme zählten hunderte von Millionen. Heerscharen von Jägern verkauften die Tauben für 1 Dollar das Dutzend, vor allem als Schweinefutter. 1914 starb die letzte Wandertaube im Zoo von Cincinnati. Das Motiv war Profit und Gier. Diese Liste ist endlos fortsetzbar. Sei es der Beutelwolf, dem die Farmer Tasmaniens nicht eingestehen konnten, neben Kängurus auch einmal ein Schaf zu fressen, die Stellersche Seekuh, die dem Pelzmarkt für Seeotter zum Opfer fiel, das Quagga, aus dessen Häuten die Buren Getreidesäcke nähten. Der Mechanismus war ähnlich: Natur wurde für kurzfristige Profitinteressen vernichtet.

Die gleiche Verwertungsvorstellung zerstört auch das Leben der Menschen. Im Kapitalismus geht es nicht darum, ob die Maschinen die Vielfalt der menschlichen Lebensäußerungen unterstützen, die Menschen müssen vielmehr als Funktionseinheiten Teil der Maschine werden, die Natur ebenso. Die Lust des Menschen, seine Freude an der Umwelt wird zerstört.

Die Regenwälder sind eine Wissenschaftsbibliothek für die heutigen und zukünftigen Menschen. Vielleicht 10% ihres Reichtums (Medikamente, Bionik, Nahrungsmittel…) sind bekannt. Was heute passiert, ist, diese Bibliothek kurz und klein zu schlagen und ihre Bücher als Brennholz zu verwenden. Das ist eine soziale Frage. Die Möglichkeit der Wissensaneignung wird damit, für die Profitinteressen weniger, der Mehrheit der Menschen für immer genommen.

Eine sozial emanzipatorische Artenschutzpolitik hätte bereits kurzfristig positive Auswirkungen. Die Regionen mit der höchsten Artenvielfalt liegen in den Ländern der Hungerleider. In Tansania, Uganda und Kenia ist der Wildtierreichtum der einzige “Rohstoff”, in dem afrikanische Länder den Preis bestimmen. Eine nicht zerstörende Nutzung (Fototourismus, lokales Hotelgewerbe) könnte den Lebensstandard und die Unabhängigkeit der Locals erheblich erhöhen.

Beispiel Spitzmaulnashorn: Innerhalb von 18 Jahren schossen hochorganisierte Banden den Bestand an Spitzmaulnashörnern um 95% zusammen. Die Mittelsmänner in Arabien brachten die Hörner auf den Weltmarkt. Die Profite aus dem Handel mit “exotischen Tieren” werden nur von den Profiten aus dem Waffen- und Drogenhandel übertroffen. Durch die Anbindung der Trophäen an den Weltmarkt wird das Potential des lebendigen Wildtierreichtums bei einer nachhaltigen Nutzung den Communities genommen. Julius Nyere und Nelson Mandela erklärten die Erhaltung des Wildtierreichtums zur Priorität: Aus der Erfahrung antikolonialer Befreiungskämpfe. Es geht um die Erhaltung der Vielfalt des Lebens oder um die Aufrechterhaltung einer Ökonomie der Vernichtung.

Nur einige Beispiele, wie es auch geht: Im Lake Byuoni in Süduganda arbeiten Aidswaisen auf Inseln mit einer hohen Dichte an Vogelarten. Touristencamps sind in die Landschaft integriert. Die Jugendlichen, die ansonsten auf den Straßen von Kabale als Prostituierte geendet hätten, kochen selbst und verdienen an den Touristen. In der Pufferzone des Kibale -Nationalparks organisieren Locals ihre eigenen Projekte. Die Alternative wäre, Bananen für einen Weltmarkt zu produzieren, der sie nicht haben will. Die Touristen übernachten in den lokalen Herbergen.

Es fängt klein an. Die Zubetonierung intakter Biotope beraubt die dort lebenden Menschen des Genusses, wenn der Gesang eines Vogels Glückshormone ausschüttet. Der Warenkonsum bleibt ein Absorbieren toter Objekte. Lebendige Wildtiere bewegen sich, verhalten sich. Menschen können sie beobachten, von ihnen lernen (Bionik), sich an ihnen erfreuen, ohne zum Konsum gezwungen zu werden.

Wenn die Schäden an der Natur, die die Kommunen zu tragen haben, in die Bilanz einbezogen würden, hätte das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre nicht stattgefunden. Der Aufschwung der asiatischen Tigerstaaten wäre ein Fake. Ohne einbetonierte Flussläufe und mit Überschwemmungsgebieten und Altarmen hätte es die Elbflutkatastrophe wohl nicht in dem Ausmaß gegeben, hätten die betroffenen Menschen nicht ihre Häuser verloren.

Im Großen: Als die US-Bomber im Vietnamkrieg 75% des Regenwaldes mit Agent Orange einsprühten wurde die Menschheit des dortigen Reichtums für immer beraubt, ob es sich um Medikamente, nutzbare Pflanzen und Tiere, um Ökotourismus oder die Freude an der Betrachtung der Tiere handelt.

Die Entwicklung Indonesiens zum “Schwellenland” betrieb Suharto nicht nur mit der Ermordung einer Million Kommunisten, sondern auch mit einer Dezimierung der Wildtierbestände. Während die indonesischen Kommunisten in den Folterkammern starben, holzten internationale Konzerne Borneos Regenwälder ab.

Fortschritt im emanzipatorischen Sinne bedeutet, dass die Mehrheit der Menschen sich individuell freier entfalten, das Leben lustvoller genießen kann als es im derzeitig der Fall ist. Human wäre es, wenn Menschen frische Luft atmen können, wenn Kinder nicht an Krebs sterben. Human ist es auch, wenn Menschen sich, ohne Geld bezahlen zu müssen, an der lebendigen Natur erfreuen können.

Fortschrittlich wäre eine Technik, die dem Menschen dient und nicht dem Kapital. Fortschrittlich wäre damit auch eine Technik, die der Natur nicht schadet. Das schließt modernste Technik und Industrie ein. Es kommt nicht auf die Technik an, sondern darauf, wie und wöfür sie genutzt wird.

Artenschutz ist Menschenrecht. Der Uranabbau in den Navaho-Reservationen gefährdet die dort lebenden Tiere und zerstört das Leben der Menschen. Der Rülpser eines Öltankers vor der Küste Spaniens zerstörte nicht nur Populationen von Meeresvögeln, sondern auch die Existenz von Austernzüchtern, kleinen Züchtern etc., die auf eine nachhaltige Nutzung des Ökosystems angewiesen sind.

Das ökologische Grauen der brennenden Ölfelder von Kuwait ist bekannt. Was hat die Jagd auf den weißen Wal von George W. Bush für ökologische Folgen und damit für Folgen für die Menschen, die in diesem Land leben? Es geht um den Konflikt Entwertung von Menschen und nichtmenschlicher Natur oder Technik, die dem Menschen und damit auch der Natur dazu dient, sich zu entfalten, um globalen Amoklauf oder soziale und ökologische Emanzipation. Diskussionen über neue emanzipatorische Theorien sind gut und wichtig. Die Auswirkungen des bestehenden Systems könnten indes die Art Orang-Utan in 5 Jahren in Freiheit ausgelöscht haben. Der Handlungsbedarf besteht jetzt.

In den Hexenprozessen der frühen Neuzeit redeten Herrschaftsträger den “kleinen Leuten” ein, ihre Nachbarn, Hirten, Kräutersammler, seien Werwölfe. Als in Sachsen das erste Wolfsrudel auftauchte, forderten einige Jäger sofort den Abschuss der Tiere. Im Zivilisationsdogma spiegelt sich die Anerkennung oder Missachtung des Fremden. Wie sagte Lévi-Strauss: Die europäische Wissenschaft wird sich niemals selbst erkennen, so lange sie nicht begreift, dass nicht eine Kultur auf der Welt minderwertig ist. Das Ökosystem hat auch ein Eigenrecht. Es funktioniert vollkommen ohne Menschen. Es stabilisiert diese Welt. Wie Eugen Drewermann sagte: “Was wir momentan anrichten, kommt einer Querschnittslähmung der gesamten Evolution gleich. Es bedeutet, alle Arten ausschließlich darauf auszurichten, ob sie für den Homo sapiens verwertbar sind.”

Ein Denken, dass den Europäer als Mittelpunkt in einer Welt aus toten Objekten ansieht, ist die Hybris des 19. Jahrhunderts. Die Natur braucht den Menschen nicht, aber der Mensch die Natur. Die Erhaltung der Artenvielfalt und Menschenrecht schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.

Osama Bin Laden - US Kommando killt Mitarbeiter a.D.

Osama Bin Laden - US Kommando killt Mitarbeiter a.D.

Von Utz Anhalt (sopos)

Eine zehn Jahre währende Jagd ist beendet. Eine Special Force der US-Navy tötete den mutmaßlichen Al Qaida Führer in Pakistan, keine hundert Kilometer von Islamabad entfernt. Barack Obama kommentierte: “Bin Laden war kein Islamistenführer, sondern ein Massenmörder.” Obamas Vorgänger, Clinton und Bush, beglückwünschten den amerikanischen Präsidenten zum erfolgreichen Ausgang der Jagd. Bin Laden gilt als Kopf hinter dem Anschlag auf das World Trade Center und anderen Angriffen auf westliche Einrichtungen, unter anderem auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania.

Ein Massenmörder war Bin Laden zweifelsohne, ebenso ein Islamistenführer. Diese Massenmörder hießen für den Westen im Afghanistankrieg der Sowjetunion Freiheitskämpfer, und auch damals waren sie Massenmörder. Gegen die UDSSR stand Osama Bin Laden seinerzeit im Dienst der CIA. Das gilt auch für etliche andere Al Qaida Terroristen. Die vom CIA ausgebildeten Terroristen entglitten ihren US-Eltern jedoch. Der Sieg über die Russen, der Rückzug der Sowjets aus Afghanistan und der Zusammenbruch des Ostblocks machte die CIA-Kinder siegestrunken. Sie sahen sich selbst als Überwinder der “Ungläubigen”. Nach “Satan Nr. 1″, der Sowjetunion und dem Kommunismus, war nun “Satan Nr. 2″, die USA und der Westen an der Reihe. Sie waren zuvor nicht menschenfreundlicher gewesen als danach. Der Unterschied war, für wen sie als Massenmörder arbeiteten. Und jetzt ging es auch gegen ihre vorherigen Arbeitgeber und Ausbilder, die CIA, die US-Army, die US-Regierung. Amerikanische Pazifisten demonstrierten gegen den Afghanistankrieg des damaligen Präsidenten George W. Bush mit einem Konterfei Bin Ladens und Bushs, unter dem stand “Mr. Frankenbush and his monster”. Frankenstein erzählt die Geschichte eines Wissenschaftlers, der einen künstlichen Menschen schafft. Doch sein Geschöpf gerät ihm außer Kontrolle. Der Vergleich zu Bin Laden ist insofern richtig, dass die Dschihadisten in Afghanistan durch die USA und ihre Verbündeten in Saudi-Arabien an die Front geschickt wurden. Der Vergleich stimmt aber insofern nicht, weil das Geschöpf im Frankenstein-Roman deshalb ein Monster wird, weil es keinen Platz in der Welt findet - eine tragische Geschichte. Die Dschihadisten waren aber keine tragischen Figuren, sondern ausgebildete Killer. Statt Al Qaida müsste es richtigerweise heißen: Al CIAda.

Barack Obama gehört selbst nicht zu den US-Falken und Geheimdienstoffizieren der älteren Generation, die die dschihadistischen Mordbrenner gegen die Sowjetunion hetzten, er führt lediglich die Politik seiner Vorgänger weiter. Dazu gehört auch, mit der Schaltzentrale des Terrors, dem saudischen Herrscherhaus, nach wie vor blühende Geschäfte zu machen. Die Dschihadisten entstanden keinesfalls naturwüchsig aus dem Konflikt zwischen Islam und Westen, zwischen Islam und Kommunismus, sondern wurden gezielt für eine “asymetrische Kriegführung” gegen die Sowjetunion eingesetzt, in einem der unzähligen Stellvertreterkriege im Ost-West-Konflikt. Bin Laden war nur eine Figur in diesem Spiel. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center war die Sympathie der Tyrannen in Saudi-Arabien für ihre Taliban und Al Qaida Freunde den Amerikanern ein Dorn im Auge. Nachdem die Königsfamilie sich offiziell mit ihrer Unterstützung für die Dschihad-Terroristen etwas zurückhielt, blieb sie nach wie vor wichtigster Partner der USA in der Golfregion. Denn sie lieferten nach wie vor das Öl, im Unterschied zu den Freischärlern Bin Ladens.

Es gilt bei dem amerikanischen “Der Gerechtigkeit ist genüge getan worden” Pathos, die Augen aufzuhalten. Die neuen Freiheitskämpfer im Nato-Jargon sind die Rebellen in Libyen. Ein UN-Mandat erlaubt eine militärisch abgesicherte Flugverbotszone, um Zivilisten vor Gaddhaffis Luftwaffe zu schützen. Die “Unterstützung der Rebellen”, der neue “humanitäre Einsatz” sieht so aus, dass die Nato mit Raketen den Sohn von Gaddhaffi und drei seiner Enkel tötete. Was hat das mit dem Schutz von Zivilisten zu tun? Statt Zivilisten vor Flugangriffen zu schützen, killt die Nato Zivilisten mit Flugangriffen. Oder ist jemand ein militärisches Top-Ziel, weil er den falschen Großvater hat? Was ist diese Tötung bitte anderes als gewöhnlicher Mord? Gaddhaffi schön zu reden, wäre falsch. Zugleich geht es darum, sich nicht erneut von der Propaganda der Kriegstreiber, ob orwellgrün oder blutrot, einlullen zu lassen. Redet in der öffentlichen Debatte über die Unterstützung der Rebellen jemand von den Ölquellen im Osten Libyens? In den Mainstreammedien scheint Konsens zu sein, dass es sich bei den Rebellen ausschließlich um edle Freiheitskämpfer handelt, die sich gegen ein psychopathisches Monster namens Gaddhaffi zur Wehr setzen. Nur komisch, dass Sarkozy, Berlusconi und der Rest der Bande mit diesem “Monster” eben noch beste Ölgeschäfte machten. Jetzt ergeben sich allerdings neue Möglichkeiten. Der “militärische Schutz” der Rebellen im Osten eröffnet den direkten Zugang zu den Ölquellen des Landes. Denn das Modell, das die Kriegsführer seit dem Nato-Überfall auf Jugoslawien etabliert haben, lässt sich hervorragend auf Libyen anwenden. Die Nato greift ein, übernimmt die Kontrolle über einen Teil des Landes, der sich für unabhängig oder autonom erklärt, kontrolliert dort den “demokratischen Prozess”, das heißt, willfährige Regierungen erhalten eine Scheinsouveränität und die Besatzer beste Konditionen für die Ausbeutung der Rohstoffe. Ganz ähnlich sah, nebenbei, das System der britischen Kolonialherrschaft des 19. Jahrhunderts aus.

Nun gibt es beim tradierten Antiimperialismus der Traditionslinken in Europa ebenfalls ein Problem, und das macht eine differenzierte Analyse und Kritik nicht einfach. “Antiimps” verherrlichten von Gaddhaffi bis zu Mugabe in Simbabwe und von Idi Amin bis Pol Pot jeden noch so schlimmen Blutsäufer, wenn er nur kein Freund der Amerikaner war und ein wenig “befreite Völker”-Rhetorik beherrschte. Dieselben zu grünen Realos mutierten damaligen “Antiimps” bejubeln heute jeden noch so durchschaubaren Angriffskrieg der westlichen Staaten als “humanitäre Intervention”: Differenzierung und Aufklärung war noch nie ihre Sache. Der Fehler, den sie machen, bleibt der gleiche. Die Gaddhaffis, Pol Pots, Bin Ladens oder Mugabes sind nicht deswegen Befreier oder Freunde der Menschenrechte, weil ihre Feinde meine Feinde sind, wie in der irrigen Auffassung mancher traditioneller Antiimps. Sie bauten ihre mörderischen Regime auf ihrer Rolle im nationalen Befreiungskampf auf und nutzten diesen Mythos als Feigenblatt für ihre Bereicherung am gesellschaftlichen Reichtum und ihre Terrorherrschaft.

Gaddaffi war ein Top-Unterstützer des internationalen Terrorismus, ebenso wie die Freunde der USA in Saudi-Arabien. Er galt lange im Westen als Schurke, bis er für Europa die EU-Mauer gegen afrikanische Flüchtlinge nach Libyen ausdehnte und das Öl des Landes kostengünstig lieferte. Gaddhaffi ist ein umgekehrter Bin Laden. Er war zuerst Schurke und dann Partner, Bin Laden zuerst Partner, Freund und Mitarbeiter des Westens, dann Schurke, weil er den Terror gegen den Westen richtete, und nicht, wie erwünscht, gegen die Feinde des Westens.

Die Demokraten und die Freiheit liebenden Menschen in Tunesien, Ägypten und auf den Straßen des Jemens haben den Teufelskreis des Terrors durchbrochen. Sie sollten aufpassen und Kriegführer des Westens nicht als Freunde ansehen. Die jüngere Geschichte zeigt nur zu deutlich, dass Demokraten und Menschenrechtler, die solche Freunde haben, keine Feinde mehr brauchen. Es war das “Volk”, das die korrupten Folterregime in Tunesien und Ägypten wegfegte, unterschiedliche Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten und Milieus, die eines gemeinsam hatten: Sie ertrugen die Missachtung der Menschenrechte durch die herrschenden Autokraten nicht länger, sie forderten ihre Bürgerrechte ein. Und sie waren zu freiheitsliebend, um sich von den falschen Versprechen der Dschihad-Terroristen über den Tisch ziehen lassen. Sie hatten auch von deren Terror die Schnauze gestrichen voll. Die Nato, Sarkozy, Berlusconi und die US-Geheimdienste sind nicht der militärische Arm der um Freiheit kämpfenden Menschen in den arabischen Ländern. Sie sind ein Teil des Problems und nicht der Lösung. Es geht der Nato nicht darum, Demokraten in Libyen vor den mörderischen Angriffen eines Diktators zu schützen, sondern um das Öl des Landes. Das Programm der Nato in Libyen ist nicht das Modell Tahrir-Platz, sondern das Modell Afghanistan. Die Menschen in Ägypten haben der Welt bewiesen, dass es nicht die westlichen Armeen sind, die vom Irak bis Afghanistan Krieg im Namen der Demokratie führen, die die Demokratie und Freiheit bringen. Nicht die westlichen Besatzer, die Terroristen für ihre Zwecke ausbildeten und in die Schlacht schickten, die im Namen der Demokratie Zivilisten in den Tod bombten und bomben, sind es, die die Freiheit bringen. Die soziale Bewegung der Menschen in den einzelnen Ländern brachte die Regime in Ägypten und Tunesien zu Fall. Sie sind glaubwürdig, und nicht ihre falschen Freunde in den westlichen Regierungen, die diese Regime am Leben hielten, die Osama Bin Laden aufbauten, ausrüsteten und in die Schlacht schickten, solange er in ihrem Sinne funktionierte.

Es geht also nicht nur darum, die Menschenrechtler in den arabischen Ländern vor ihren Terrordespoten zu schützen, sondern auch vor der tödlichen Umarmung durch die westlichen Kriegsführer. Der Rachefeldzug der USA in Afghanistan hat den Menschen nicht etwa Freiheit gebracht, sondern nur neues Leid und neuen Terror. Und im Irak sieht es ähnlich aus. Ganz anders allerdings in Tunesien und Ägypten. Dort sind die Menschen offensichtlich dabei, ein demokratisches Gemeinwesen zu organisieren. Wer heute einen Osama bin Laden ausbildet, um morgen gegen ihn Krieg zu führen, ist kein Freund der Menschen, die aus dem Teufelskreis des Terrors herauswollen, die für Demokratie und Freiheitsrechte kämpfen. Die Menschen in Arabien haben sich ihre Freiheit erkämpft. Die Regierungen des Westens spielen ihr altes Spiel weiter, Terroristen auszubilden, wenn sie gebraucht werden, und sie zu verfolgen, wenn sie sich gegen ihre Auftraggeber wenden. Afghanistan wimmelt heute von kleinen Bin Ladens. Finanziert vom Ölgeld des Westens, rüstet das Regime in Saudi-Arabien die Dschihadisten immer wieder neu aus. Menschenrechtler haben die Pflicht, die falsche Alternative zu durchbrechen: Entweder für die Bin Ladens und Gaddhaffis oder für die Kriege der USA und ihrer Verbündeten zu sein, ist keine Alternative. Die Aufklärung kann der Propaganda immer nur hinterherlaufen. Sie sieht sich in einer ähnlichen Situation wie Herkules: Herkules hatte die Aufgabe, die Ställe des Augias zu reinigen. Während er sie reinigte, produzierten die Rinder ihren Mist weiter. Für Menschenrechtler im Westen gilt es, jetzt und weiterhin die kritischen Fragen zu stellen. Wer stellte Osama Bin Laden als Mitarbeiter ein? Wer lieferte Gaddhaffi die Waffen? Wer arbeitet mit dem Herrscherhaus in Saudi-Arabien, dem internationalen Zentrum des dschihadistischen Terrors zusammen? Die Position zwischen den Fronten ist unbequem, sie erfordert geistige Arbeit, eigenständige Recherche und als Dank dafür Angriffe von den Kriegführern auf beiden Seiten. Für freiheitsliebende Menschen ist diese Stellung aber die richtige.

Die NSDAP und die bürgerlichen Parteien

von Utz Anhalt (sopos)

“Dabei müßte gerade bei CDU/CSU und FDP, deren Vorläufer am 23. März 1933 Hitler ermächtigt haben, nachdem sie ihn zuvor verharmlost und mit an die Macht gebracht haben, die historische Schuld alle denkbaren Aktivitäten auslösen.”
Ludwig Stiegler (stellv. SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag)

“Wir lassen uns nicht von einer Partei beleidigen, die in Berlin wieder mit den Altkommunisten zusammenarbeitet und uns in die Nähe von Nazis rücken will.”
Friedrich Merz (CDU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag)

Die Gleichung Rot=Braun, wie sie von Friedrich Merz und anderen CDU-Politikern heute behauptet wird (eigentlich gemeint ist: besser braun als rot), ist nicht allein ein dumpfes totalitarismustheoretisches Herumgepolter, sondern beste rechtsbürgerliche Tradition in Deutschland.

Schön, daß in dem mehrjährigen Schmusekurs zwischen “Neuer Mitte” und “Alter Rechten” oder “Neuer Rechten” und “Alter Mitte” ein SPD-Mann darauf aufmerksam gemacht hat, daß die SPD einmal eine sozial-demokratische (sozialistische und demokratische) Partei war. Auf einem anderen Blatt steht, daß dies erst in dem Moment passiert, in dem der konservative Flügel der CDU seine offensichtliche Nähe zu den konservativen Revolutionären verrät - und diese ihre zu den Faschisten. Aus aktuellem Anlaß folgt eine kurze Bestandsaufnahme der Zusammenarbeit zwischen bürgerlicher und nationalsozialistischer Rechten vor 1933, deren gemeinsame Abfassung des Ermächtigungsgesetzes nur den letzten Höhepunkt einer langen Kontinuität darstellt. Ich möchte mich dabei weniger auf die Ereignisgeschichte beziehen, als vielmehr auf gemeinsame ideologische Grundlagen zwischen bürgerlichen Parteien und Faschisten. Die Schnittmenge war der Antisemitismus.

Völkische Ideologie stellt ein Konglomerat aus Ideen und Spekulationen dar. Ende des 19. Jahrhunderts reichte das Spektrum der völkischen Denker von Johann Gottlieb Fichte bis zu Julius Langbehn und Paul de Lagarde; von dem mörderischen Antisemiten Houston Steward Chamberlain bis zu Richard Wagner. Die apokalyptischen Phantasien von Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts standen in jedem bürgerlichen Haushalt, der etwas auf sich hielt und - in Verbindung mit den Darbietungen des radikalen Antisemiten Richard Wagner - für einen Begriff: Deutsche Kultur.

  • Lagarde bestimmte 1875 Deutschland als mystische Größe, also nicht als an konkreten Werten und Gesetzen angelegtes Staatsgebilde. Die Hauptgefahr für das verbindende Heil sah er in den Juden. In Vorwegnahme des Nazi-Vokabulars bezeichnete er Juden als Bazillen und Trichinen. Er sah das Übel im alten Testament und verband, auf klassischen christlichen antijudaistischen Vorstellungen basierend, modernen Führerkult, christliche Frömmigkeit und die implizite Aufforderung zum Judenmord als Erlösung. Von ihm stammt die Vorstellung des germanischen Christentums, die den Schulterschluß zwischen Hitler und Hindenburg ermöglichte.
  • Julius Langbehn schlug die spätere Brücke zwischen alter kaisertreuer und neuer faschistischer Rechte durch die Imagination eines unsichtbaren Kaisers, nach dem die deutsche Volksseele begehre. Blut, Boden und Seele waren für ihn in einer organischen Einheit im Führerprinzip Kern des Deutschtums. Die Deutschen (Nordsee-Arier) standen für das Licht, die Juden für die Dunkelheit.
  • Houston Stewart Chamberlain setzte die Rasse als Lebensfrage, sah die Juden als Vampir am Leibe der Menschheit und die Germanen als Spitze der Arier an. Der Wahnsinn des Genozids an den Juden liegt in dieser apokalyptischen Imagination begründet.
  • Wagner, der mit Chamberlain familiär verbunden war, schuf das künstlerische Pendant in den Bayreuther Festspielen. Mit seinem arischen Christus ersann er ein Weltbild aus Erlösung durch Vernichtung, das wenige Jahrzehnte später im Zweiten Weltkrieg von den Faschisten umgesetzt wurde.

All diese Vordenker der Rechten der Weimarer Zeit zeichnete aus, daß sie die Welt als Ganzheit, d.h. ohne lästige Partikularinteressen und die Forderung nach rechtlicher und sozialer Emanzipation, in einem antisemitischen Diskurs in praktische Ideologie übersetzten und den christlichen Erlösungsgedanken germanisch säkularisierten.

In Deutschland hatte der Antisemitismus der bürgerlichen und rechten Parteien der Weimarer Republik mit seiner Tradierung aus dem Kaiserreich den narzißtisch erlösenden Sinn einer Feuer- und Wasser Verbindung zwischen bürgerlichen und faschistischen Rechten.

Eine Opposition gegen die völkisch-antisemitische Ideologie stellten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik die Linke und die Linksliberalen dar, während sich Nationalliberale, Konservative und später Nationalsozialisten hinsichtlich der völkischen Einheit des deutschen Vaterlandes einig waren. Einzelne Fraktionen des organisierten Christentums standen dieser völkischen Identität skeptisch gegenüber, da sie sich in konkreten Ansätzen gegen christliche Grundsätze wandte.

Die völkische Ideologie des mystischen Germanentums zeichnete vor allem anderen aus, daß ihr Postulat die Ungleichheit der Menschen war. Undeutsch waren in dieser Konstruktion eines homogenen deutschen Volkes die Elemente der Französischen Revolution.

  • Das Christentum mit seiner Gleichheit aller Menschen vor Gott wurde durch das germanische Christentum ersetzt.
  • Der Liberalismus mit seiner rechtlichen Gleichheit aller Menschen galt den Völkischen als Ausfluß christlich-jüdischen Denkens.
  • Selbstredend war der Sozialismus mit seiner Forderung nach sozialer Emanzipation Ausdruck eines undeutschen Denkens.

Die historische Grundlage dieser kruden Bewußtseinsbildung des deutschen Bürgertums war zum einen die Zersplitterung des als Deutschland bezeichneten Raumes in hunderte konkurrierende Kleinfürstentümer, zum anderen damit einhergehend ein komplettes ideologisches Kippen der Forderung nach Einigkeit und Recht und Freiheit der demokratischen Revolutionäre von 1848 in einen chauvinistischen Nationalmythos nach 1871. Der das Bürgertum konstituierende Begriff der Nation war in Deutschland auch vor 1933 nicht bürgerlich-demokratisch, sondern reaktionär und völkisch definiert.

Mehrheitliche Teile der Liberalen verbanden sich nicht erst 1933 mit völkischen Denkern, sondern integrierten sich bereits 1871 in den Militarismus und völkischen Antisemitismus des Wilhelminischen Kaiserreichs.

Der Antisemitismus hatte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern eine - in der Personalisierung des deutschen Faschismus auf Hitler - unter den Tisch gekehrte Funktion gegen die emanzipatorischen Bewegungen. Zum einen hatte kulturanthropologisch die jüdische Religion als erste Glaubensgemeinschaft den Wert des Lebens etabliert, zum anderen verzichtete der jüdische Gott auf das Opfer (und das Selbstopfer). Die jüdische Religion deckte also Kriegsdienst- und Befehlsverweigerung. Zeitgeschichtlich hatten sich die mitteleuropäischen Juden als unterprivilegierte Gruppen des Bürgertums kulturell weitgehend emanzipiert. Als benachteiligte Gruppe engagierten sich deutsche Juden vor allem in innovativen gesellschaftlichen Bereichen: in der Wissenschaft, in Opern, Museen und in der Kunst. Es gab dabei große Schnittstellen zwischen der jüdischen Gemeinschaft und nicht-jüdischen linken und liberalen Kreisen.

Wallerstein beschrieb den antisemitischen Rassismus von 1871-1945 denn auch als Wechselspiel zwischen zwei geschichtlichen Konstruktionen. Die im Verlauf des Kapitalismus entstehende Bildung einzelner Nationen verschmolz im Wilhelminischen Kaiserreich bei Konservativen und Nationalliberalen mit der Vorstellung vom christlichen Abendland zum germanischen Vaterland. Die Juden standen als gesellschaftliche Parias für das, was dieses Vaterland angeblich bedrohte: den kosmopolitischen Kapitalismus, den internationalistischen Sozialismus und vor allem als Haßobjekt in der entwickelten Kontinuität der feudalen Eliten in einer industriekapitalistischen Gesellschaft.

Die Kritik der bürgerlichen und altrechten Parteien in der Weimarer Republik an den Nazis richtete sich weniger gegen deren Inhalte als vielmehr gegen die Form. Im Ziel der Kritik stand vor allem der proletarische Flügel der NSDAP, die SA. Die in der DVP und der DNVP organisierten Kapitaleigner wollten sich mit dem Schreihals (Hitler) nicht gemein machen. Der offensive Militarismus der Freikorps und Faschisten war dem Bürgertum Kennzeichen für Verfall und Barbarei.

Ab 1930 hatten die bürgerlichen Regime seit Brüning die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik durch eine Präsidialdiktatur mit massiver Einschränkung der bürgerlichen Grundrechte und der Agitationsmöglichkeiten von Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten ersetzt. Der Übergang in die faschistische Diktatur war bereits vorbereitet. Der Schulterschluß der alten Rechten (von Papen und Schleicher) mit den Nazis diente dazu, diese für eine neofeudale Diktatur zu instrumentalisieren. Der alten Rechten galten die Nazis als Schlägertrupps von der Straße. Wie sehr die Konservativen sich verschätzt hatten, ist allgemein bekannt.

Weder vor noch nach 1933 gab es von den bürgerlichen Parteien nennenswerten Widerstand gegen Hitler. Widerstand aus humanistischer Motivation wie durch die Geschwister Scholl basierte auf einem ethisch verantwortlichen Menschenbild von einzelnen Gruppen, aber nicht auf bürgerlichen Traditionslinien. Insbesondere die Integration des Bürgertums seit dem 19. Jahrhundert in die jeweils bestehende autoritäre oder antidemokratische Herrschaft führte in Deutschland dazu, daß es einen organisierten bürgerlichen Antifaschismus wie in Spanien oder Italien nicht gab. Der Feind der bürgerlichen Parteien auch in der Weimarer Zeit war der, der gegen die bestehende Ordnung stand - im Zweifelsfall die Linke.

Die Gleichung Rot=Braun, wie sie von Friedrich Merz und anderen CDU-Politikern heute behauptet wird (eigentlich gemeint ist: besser braun als rot), ist nicht allein ein dumpfes totalitarismustheoretisches Herumgepolter, sondern beste rechtsbürgerliche Tradition in Deutschland. Denn die ideologischen Überschneidungen innerhalb der demokratischen und antidemokratischen Rechten waren in Deutschland immer viel ausgeprägter als die der Linken.

Literatur:

Immanuel Wallerstein; Etienne Balibar: Rasse-Klasse-Nation: Ambivalente Identitäten. Hamburg.Berlin 1990

Doris Mendlewitsch: Volk und Heil. Vordenker der Nationalsozialismus im 19. Jahrhundert. Rheda-Wiedenbrück 1988

Drachentiere

Drachenschlangen und Drachenechsen – Die Tiere hinter dem Mythos

Drachen sind, im weiten Sinne, mächtige Mischwesen der Mythologie. Der Begriff lautet sich vom lateinischen Wort draco und dem altgriechischen drakon ab, was der starr Blickende bedeutet und auch die Schlange bezeichnete. Drachenähnliche Wesen sind weltweit verbreitet und in ihrer Vielfalt kaum überschaubar. Oft symbolisieren sie das Chaos am Beginn der Welt wie die vorderasiatische Tiamat, die den Ozean verkörpert. Drachen waren die Verkörperung von Naturgewalten, am häufigsten stehen sie mit dem Wasser in Verbindung und sind von Seeschlangen kaum zu unterscheiden wie die Midgardschlange der nordischen Mythologie. Erd-Drachen hüten Schätze, Feuerdrachen leben im Inneren von Vulkanen und später – im Christentum- in der Hölle. Während die europäischen und vorderasiatischen Drachenfiguren in der Regel Schrecken bringende Ungeheuer sind, haben die chinesischen Drachen einen positiven Charakter. Sie hüten die Elemente und sind eine Art oberste Beamte des himmlischen Kaisers, bringen den Regen und die Fruchtbarkeit. Wie die Elemente selbst, können sie aber verheerend wirken – wenn man sie ärgert. Hier interessieren die realen Tiere, die in Drachenmythen einflossen.

Mischwesen

Drachen sind Mischwesen, in denen sich Fähigkeiten und Körperteile von Reptilien, Vögeln und Säugetieren verbinden. Zumeist handelt es sich um Raubtiere. Chinesische Drachen haben zum Beispiel Elemente der Schlange, des Karpfens, des Rindes, Hirschgeweihe und Tigerpranken. Europäische Drachen verbinden Schlangenkörper mit Fledermausflügeln. Sowohl in Europa als auch in Asien ist der Körper von Schuppen bedeckt wie bei einem Reptil. Die Köpfe erinnern an Krokodile, Schlangen, Wölfe oder Großkatzen. Manche Drachen haben Flügel, die chinesischen Drachen fliegen ohne solche Hilfsmittel, manche haben sechs Beine, andere vier, wieder andere nur zwei. Drachen speien Feuer oder lösen Flutwellen aus. Europäische Drachen haben oft eine gespaltene Zunge und einen giftigen Atem.

Die Schlange

Das Tier, was den Drachen am stärksten prägt, ist die Schlange. Viele Drachen sind von ins Monströse verzerrten Schlangen kaum zu unterscheiden. In Europa zeigt sich dies sogar im Wortstamm. Die Drachen der griechischen Antike sind zumeist eine Art Schlangen, so Python in Delphi. Die Würgeschlange Python ist nach ihm benannt, nicht umgekehrt. Die vielen Köpfe und Hälse der Hydra sind ebenfalls Schlangen. Oft bewachen diese Drachen Schätze, in Höhlen und unter der Erde.

Im Christentum ist die Schlange das niederste Tier, dazu verdammt, auf dem Bauch zu kriechen. Die Schlange ist ein Sinnbild des Teufels; auch wenn der Drache in christlichen Darstellungen mit diversen Attributen des „Hässlichen“ versehen ist wie Fledermausflügeln und Froschaugen, bleiben dies Varianten des Schlangenthemas. Ein wichtiger christlicher Mythos, der des heiligen Georg, der den Drachen besiegt, zeigt den Kampf zwischen Gut und Böse, Gott und dem Teufel. In Europa gibt es keine großen Würgeschlangen und das Vorbild ist in den Giftschlangen zu sehen, der Kreuzotter, der Aspisviper, der Bergotter und verwandten Arten. In den heißen Mittelmeerländern, wo der Begriff Drache, also Schlange, herkommt, sind Giftschlangen weit verbreiteter als in Nordeuropa. Ihre Lebensweise lässt Rückschlüsse auf ihre Sinnbildfunktion für den Drachenmythos zu: Drachen leben in Höhlen und hüten verborgene Schätze; Schlangen verstecken sich ebenfalls in Höhlen, Felsspalten, unter Wurzeln etc. In der Winterstarre sammeln sie sich dort zu vielen; Kreuzottern bilden so genannte Schlangenknoten.

Die Häutung der Schlange brachte sie in verschiedenen Kulturen mit der Vorstellung von Wiedergeburt und den Zyklen des Lebens in der Natur in Verbindung; das könnte ein Hinweis sein, warum Drachen in Schlangenform in Zusammenhang mit der Ordnung der Welt an ihrem Anfang stehen.

Die europäischen Schlangen sind von der Größe her keine „Drachen“, manche wohl von ihrem „Giftodem“, ihrem giftigen Biss. Wer sie um etliches vergrößert, hat einen Drachen geschaffen. In Asien, auch in China, leben Schlangen, die von ihrer Größe her Drachenformat zeigen und ihren Namen eben auch von einem Drachen haben, die Pythons, vor allem der Netz- und der Tigerpython. Der Netzpython ringt mit der Anakonda Südamerikas um den Platz der größten lebenden Schlange. Der Tigerpython ist nur wenig kleiner. Ausgewachsene Tiere beider Arten können ohne weiteres Hirsche, junge Wasserbüffel oder Ziegen erwürgen und verschlingen. Auch ein Mensch wäre von der Größe her überhaupt kein Problem für ihren Verdauungstrakt. Allerdings sind Berichte von Riesenschlangen, die Menschen fressen, mit Vorsicht zu genießen. Belege fehlen in der Regel und meist handelt es sich um klassisches Jägerlatein. Für asiatische Erzählungen, in denen sich Drachen auf Elefanten stürzen, war wahrscheinlich der Python Vorbild. Um aus dem Python einen Drachen zu entwickeln, bedarf es allerdings wenig Übertreibung. Die schlangenartige Form der chinesischen Drachen leitet sich vermutlich von Pythonschlangen ab. Für die gefiederte Schlange Mittelamerikas gaben die dortigen Würgeschlangen, die Boas, den Anknüpfungspunkt in der Wirklichkeit.

Zumindest die Beschreibungen im europäischen Mittelalter von den Drachen Indiens, damals das Wort für Ostasien, die Tiere und Menschen erwürgen, gehen eindeutig auf Pythons zurück.

Krokodile

Krokodile und Alligatoren sind ebenfalls in den Drachenmythos eingeflossen. So beschreiben antike Erzählungen vom Drachen Ägyptens mit ziemlicher Sicherheit das Nilkrokodil. Bereits in der Antike zeigen sich Muster, die in die unterschiedlichen Qualitäten von „Drachen“ hineinspielen. Zu Zeiten Kleopatras standen die Römer verwirrt vor den Tiergöttern der Ägypter. Anubis mit dem Schakalkopf war den Römern ebenso ein Monster wie die von den Ägyptern verehrten Krokodilgötter. Das Krokodil, das mit dem Hochwasser aus seinem Loch kam, galt in Ägypten als Fruchtbarkeitsbringer. Und da die reale Begegnung mit diesen Tieren den meisten Europäern bis in die Neuzeit hinein so fern lag wie die Rückseite des Mondes, tat die Vorstellungskraft ein übriges.

Krokodile und Alligatoren verbringen einen Großteil des Jahres in Höhlen, wie die Wasserdrachen. Im Unterschied zu den meisten Reptilien bewachen sie ihre Gelege und greifen Eindringlinge an, wie der Drachen seinen Schatz. Durch ihre „Bautätigkeit“ verändern sie den Wasserhaushalt, oft sind die von Alligatoren gegrabenen Löcher die einzigen, in denen in Dürreperioden Wasser steht. Die Varianten der europäischen Drachen in Brunnen oder Flüssen, die den Menschen den Zugang zu Wasser versperren, sind vergleichbar.

Manche Krokodile sind für Menschen wirklich gefährlich: Um ein neun Meter langes Leistenkrokodil, das Hirsche, Büffel, Haie, und auch Menschen frisst, das größte und gefährlichste Reptil der Welt, als Wasserdrachen anzusehen, bedarf es nicht viel Fantasie. Die Jungfrau oder Prinzessin, die der Drache als Opfer fordert, bis der edle Held das Ungeheuer erlegt, hat ihre Entsprechung in den Krokodilgöttern verschiedener Kulturen: Dabei wurden Krokodilen tatsächlich Menschen geopfert. Und von vergöttlichten Tieren, die real existieren bis zu reinen Fabelwesen sind die Grenzen in der Mythologie fließend.

In China war es wohl der heute fast ausgestorbene China-Alligator, der Drachenmythen inspirierte. Die kleine Art war früher im Osten Chinas in allen großen Wasserflächen weit verbreitet. Drachenmedizin in chinesischen Apotheken entpuppte sich als Alligatorknochen und Alligatorschuppen.

Die Spanier berichteten von Drachen, deren Brüllen unerträglich gewesen sei, die dicht an dicht in den Sümpfen Floridas lagen. Holzstiche des 16. Jahrhunderts zeigen gewundene schlangenartige Kreaturen mit Greifvogelschnäbeln und Ohren: Es handelte sich um den Mississippi-Alligator, in der Tat ein beeindruckendes Tier. Den christlichen Spaniern muss es erschienen sein, als seien sie im Reich des Teufels gelandet.

Salamander und Molche

Die Salamander der Mythologie sind mächtige Elementarwesen des Feuers. Der nach ihnen benannte Feuersalamander erinnert mit seiner auffälligen schwarz-gelben Haut an die Flamme und Kohle. Hinzu kamen falsch gedeutete Verhaltensweisen. Oft sahen die Menschen die Amphibien aus dem Feuer kriechen. Die Tiere hatten zwischen den Holzscheiten ihren Unterschlupf gesucht und flohen vor der Hitze, wenn ihr Versteck brannte. Deshalb entstand der Glaube, dass sie im Feuer leben würden. In Wirklichkeit braucht der Feuersalamander ein kühles und feuchtes Habitat.

In der christlichen Mythologie leben die Drachen in der Nähe des Teufels, im ewigen Feuer der Hölle. Ob die Menschen des Mittelalters zwischen Drachen, Salamandern und anderen reptilien- und amphibienartigen Wesen Satans genau differenzierten, sei dahingestellt.

Ein Urbild des Drachen bilden auch die Männchen der europäischen Molche im Balzkleid. Kamm- und Teichmolch tragen einen eindrucksvollen „Drachenkamm“ . Außerhalb der Paarungszeit leben sie versteckt unter Moos, Steinen und Wurzeln. Sie sind zwar nur eine Handbreit lang, aber bei entsprechender Vergrößerung – vielleicht handelt es sich ja um Drachenbabies – könnten sie gut als Drachen durchgehen.

Die Echsen

Echsen sind, insbesondere in Europa, ebenso zentral für das Aussehen des Drachen wir Schlangen. In Europa kommen die Eidechsenarten als Vorbilder in Frage, einige Agamen wie der Hardun des Mittelmeerraums sehen aus wie „kleine Drachen“. Eine Agamenart, die auf ihren Hautflügeln gleiten kann, heißt Flugdrache – benannt ist sie aber nach dem Drachen der Mythologie, nicht umgekehrt. Der Stirnlappenbasilisk der Neuen Welt entspricht wie der grüne Leguan fast prototypisch einem Drachen, wiederum bis auf die Größe. Auch die Basilisken haben ihren Namen von dem Fabelwesen, nicht umgekehrt. Als Urbilder vom Drachen kommen in der alten Welt vor allem die Warane in Frage; einige Arten sind die größten Echsen, ihre Zunge ist gespalten wie die der Schlangen, und sie sind Raubtiere.

Ein Waran ist in jedem Fall Vorbild für Drachenvorstellungen gelesen. Anfang des 20. Jahrhunderts hörten europäische Reisende indonesische Geschichten von Dracheninseln, auf die kein Mensch gehen könne, weil die Drachen Menschen fräßen. Die Inseln um Komodo herum sind die Heimat des Komodo-Warans, der größten heute lebenden Echse – mehr als drei Meter lang. Sein Speichel ist mit tödlichen Bakterien angefüllt, so dass der Gebissene innerhalb der nächsten Tage stirbt. Auf Komodo sind die Warane die Spitze der Nahrungspyramide. Mit einem noch gewaltigeren Verwandten der Echse sahen sich die Aborigines konfrontiert, als sie Australien besiedelten: Megalania erreichte über sechs Meter und griff nashorngroße Beuteltiere an..

Eine ähnliche Riesenart lebte auf Flores und stieß auf die „Hobbit-Menschen“, die klein gewachsenen Urmenschen, die dort lebten. Solche Begegnungen kommen der Konfrontation zwischen dem Helden und dem Drachen sehr nahe.

Fossilien

Fossilien schienen einen Beleg für die Existenz von Drachen zu geben, wie bei vielen anderen mystischen Kreaturen auch. Die ersten Drachenknochen im China von vor 2000 Jahren waren nachweislich versteinerte Dinosaurier. Einer, der Protoceratops mit einem schildförmigen Hinterkopf und einem vogelartigen Schnabel war womöglich ein Vorbild für den Vogel Greif. In den Apotheken Chinas fanden sich die Knochen prähistorischer Säugetiere als Drachenmedizin. In Europa waren es die Überreste von Mammut, Wollnashorn und Höhlenbär, die die Zeitgenossen als Drachenskelette interpretierten. Die Vielfalt der realen Natur ist eben genauso spannend wie die Wesen der Fantasie.

Chihiros Reise ins Zauberland - Alice in Wonderland auf japanisch

Chihiros Reise ins Zauberland – Alice im Wunderland auf japanisch

Sen to Chihiro no Kamikakushi des Regisseurs Hayao Miyazaki, auf deutsch Chihiros Reise ins Zauberland, gewann so viele Auszeichnungen wie keine Anime-Film zuvor und ist der erfolgreichste japanische Film. 2002 gewann er zum Beispiel den Goldenen Bären.

Die Geschichte

Das Mädchen Chihiro zieht mit ihren Eltern in eine Kleinstadt. Sie kommen vom Weg ab, weil der Vater eine Abkürzung in einem Wald nehmen will, bleiben in einem Tunnel stehen und gelangen in eine Geisterstadt, wie in Amerika die verlassenen Städte heißen, in einen Vergnügungspark, in dem sich kein einziger Mensch aufhält, der aber dennoch nicht verwahrlost ist. Der Eingang zu dem Park ist ein Bahnhof. Obwohl die Stadt verlassen erscheint, fahren hier Züge ein und aus. In einem Restaurant finden Chihiros Eltern ein leckeres Büffet und auch hier fehlt die Bedienung. Die Eltern verschlingen das Essen geradezu, obwohl Chihiro sie warnt – das Mädchen weiß nicht warum, scheint aber ein ungutes Gefühl zu haben. Der Vater schlägt ihre Warnungen in den Wind, er hätte eine Kreditkarte und Bargeld. Hier ahnt der Zuschauer bereits, dass es sich um verschiedene Welten handelt, und dass die Probleme, die auf Chihiro zukommen, mit den Mitteln des modernen Kapitalismus nicht zu lösen sind.

Während die Eltern essen, treibt die Tochter sich in der Stadt herum. Sie trifft einen Jungen, Haku, der sie auffordert, vor Dunkelheit auf die andere Seite des Flusses zu gehen. Chihiro kommt in das Restaurant zurück, und ihre Eltern haben sich in Schweine verwandelt. Spätestens jetzt wird klar, dass an diesem Ort etwas anders ist als in der Alltagsrealität des modernen Japan.

Die Nacht bricht herein, und damit kommen die Bewohner des Parks – es sind keine Menschen, sondern Gestalten in grotesken Formen und Schatten, die körperlich werden, Geistwesen, Wesen, halb Mensch, halb Tier. Haku nimmt die Rolle von Chihiros Beschützer ein, während sie die Brücke überqueren, muss sie die Luft anhalten, keiner darf merken, dass sich ein Mensch hier aufhält. Sie schafft es nicht, und ein Froschgeist erkennt sie – Haku hüllt ihn in eine Zauberblase und flieht mit dem Mädchen. Er will sie zur Hexe Yubaba bringen, die das Zauberland regiert.

Im Zentrum des Freizeitparks steht ein Badehaus für die Götter, von denen es im Schintoismus unendlich viele gibt, und die eher Naturgeistern entsprechen als übermächtigen

Wesen. Auch Haku ist eine Art Gottheit, ein Flussgott und zugleich der Zauberlehrling der Hexe, wie sich später herausstellt. Eindringlich rät Haku Chihiro, ihren Namen nicht zu vergessen – denn die Hexe schöpft ihre Macht daraus, dass sie die Namen der Wesen vergibt, definiert und sie ihre eigenen Namen vergessen. Ein Mensch, der seinen Namen vergisst, kann nie wieder in die Welt der Menschen zurück.

Chihiro gelangt zum Heizer des Badehauses, einer skurillen Kreatur. Herr Kamaji ist ein älterer Herr mit sechs Armen, die er beliebig verlängern kann und erinnert an eine Mischung aus Spinne und Mensch. Zuerst verhält er sich Chihiro gegenüber abweisend, erweist sich aber später als wichtiger Verbündeter. Die Wesen, die die Kohle in den Ofen werfen, sind belebte „Bälle“ aus Ruß.

Das Mädchen schafft es, in einem Fahrstuhl nach oben zu fahren, gemeinsam mit einem unförmigen Wesen, an dessen Oberkörper verschiedene busenartige Auswüchse hängen. Sie kommt zur Hexe Yubaba zu kommen und nach Arbeit zu fragen. Die Herrin des Badehauses lehnt das ab, verspottet Chihiro und behandelt sie wie ein dummes und nichtsnutziges Kind. Chihiro aber bleibt standhaft und erklärt nachdrücklich, dass sie arbeiten will, bis die Hexe sie schließlich bei Kamaji unterbringt. Die Hexe ist herrisch und mehr als nur exzentrisch: Zugleich kümmert sie sich aber wie eine Übermutter um ein Riesenbaby. Mit einem Zug gelangt Chihiro zu Zeniba, Yubabas Zwillingsschwester. Die ist sehr freundlich zu dem Mädchen und zugleich eine mächtige Zauberin wie ihre Schwester.

Ein besonders geheimnisvolles Wesen ist das Ohngesicht, ein Geist, der anfangs nur für Chihiro sichtbar sein zu scheint, und ihr wohl gesonnen ist. Statt eines Gesichts trägt er eine Maske. Das Mädchen fürchtet sich nicht vor ihm, sondern fragt ihn, ob er nicht nass wird, während er draußen im Regen steht. Das Wesen ist freundlich zu ihr, zum Beispiel schenkt es viele duftende Badeessenzen, um das verdreckte Badebecken zu säubern.

Eine herkuleske Aufgabe kommt auf Chihiro zu, als ein Faulgott erscheint. Dieses Wesen scheint nur aus Schlamm und Moder zu bestehen und verbreitet einen unerträglichen Gestank, den das Bad kaum beseitigen kann. Chihiro entdeckt im Körper des Gottes einen Dorn, der wie ein Stöpsel funktioniert. Sie zieht ihn heraus und eine ganze Müllhalde aus Zivilisationsschrott folgt; das Fäulniswesen entpuppt sich, dermaßen gereinigt als sauberer und klarer Flussgott und fließt zurück in die Welt. Chihiro wird zum Star, Yubaba lobt sie in höchsten Tönen.

Ohngesicht erscheint den Bewohnern des Badehauses und verteilt Gold. Die Kreaturen stürzen sich darauf und durch ihre Gier verwandelt sich der Geist in ein verschlingendes Monster, das die Gierigen frisst. Er bietet auch Chihiro Gold an, die lehnt aber ab; sie kann es nicht brauchen: Ihr Freund Hako, der auch die Gestalt eines Drachen hat, ist nämlich in Gefahr. Daraufhin wird das verschlingende Ungeheuer zu Chihiros Begleiter, der ihr folgt wie ein treuer Hund.

Nach diversen Abenteuern gelingt es Chihiro, ihre Eltern zu befreien, und sie kommt wieder in die normale Welt zurück. Ihre Mutter und ihr Vater haben von dem Zauberland nichts mitbekommen und wir finden uns dort, wo der Film begann.

Der Schintoismus

Miyazakis Kritik richtet sich an das moderne Japan, für ihn eine Gesellschaft, in der der nachhaltige Umgang mit der Natur verloren ist. Sein Film zeigt dieses Problem auf, zum Beispiel in der Reinigung des Faulgottes. Der Fluss selbst ist nämlich rein, Menschen haben ihn mit ihrem Müll verschmutzt.

Die Bilderwelten des Regisseurs sind detailverliebt und präzise, die Charaktere von einer Komplexität, die dem Image des Zeichentrickfilms als alberne Kinderunterhaltung widersprechen. Mit der Adaption von Märchen durch Walt Disney wie zum Beispiel in Schneewittchen hat dieser Film wenig zu tun. Und das liegt auch an seiner inhaltlichen Aussage, die zum Teil sehr japanisch ist. Der Schintoismus, die alte japanische Religion, genauer gesagt, Kultur, ist wahrscheinlich diejenige der Kulturen, die sich in der Moderne erhalten hat mit den meisten animistischen Elementen. Als Animismus bezeichnen wir die Vorstellungen einer belebten Natur, in der Geister, Götter etc. nicht über der Natur stehen, sondern die Essenzen dieser Natur sind – Geister der Flüsse, Bäume, Berge etc.. Schamanen, die Mittler zu diesen Geistern, also diejenigen, die mit der nichtmenschlichen Natur kommunizieren, sind in Japan noch heute anerkannt. Besonders wichtig im Schintoismus sind die Orte der Natur, Berge und Wälder erscheinen quasi als Tempel. Dass sich solche Vorstellungen halten konnten, hat auch historische Gründe. In der frühen Neuzeit war es ein Bedürfnis der japanischen Herrscher, das Land wirtschaftlich unabhängig zu halten – deshalb entwickelten sie strikte Regeln für die Nutzung der Wälder. Es handelte sich nicht um ein konsequentes ökologisches Bewusstsein: Bis heute beutet Japan die Ressourcen des Meeres so rücksichtslos aus wie kaum ein anderer Staat. Heute ist Japan das Industrieland mit dem höchsten Anteil an Wäldern. Der Gegensatz zwischen dieser nachhaltigen Nutzung einerseits und der industriellen Naturzerstörung andererseits ist wohl in keinem Land größer.

Während Zeichentrickfilme, Comics und Märchen hierzulande als nicht ernst zu nehmen gelten, ist das in Japan nicht der Fall. Der Schintoismus lebt wie auch alle Naturkulte von Bilderwelten, und Mangakunst ist hoch angesehen. Ernste Themen in Bildgeschichten zu erörtern, gehört zur Tradition des Landes. Auch die Charaktere in Chihiros Reise verweisen auf eine schintoistische Tradition. Wie bei allen Naturreligionen sind die Figuren nicht eindeutig gut oder böse, sondern komplex: Ihre Eigenschaften können wohltuend oder zerstörerisch sein, je nachdem. Ein Mädchen, das im modernen Japan den Zugang zur Ästhetik des Natürlichen noch nicht verloren hat, lernt, sich im Zauberland zurechtzufinden und wieder herauszukommen.

Alice und Chihiro

Alice und Chihiro weisen trotz vieler Unterschiede Gemeinsamkeiten auf. Beide sind Kinder, beide sind Mädchen. Beide kommen aus der Alltagswelt in ein Wunderland, bei beiden ist der Eingang ein Tunnel: Bei Chihiro bleibt das Auto der Eltern in diesem Tunnel stehen, bei Alice ist der Tunnel in einem Kaninchenbau. Beide begegnen scheinbar absurden Figuren und treten diesen unvoreingenommen und sehr offen gegenüber. Wie Alice entwickelt sich Chihiro dadurch, dass sie sich durch die Erfahrungen im Wunderland im Wortsinn hindurcharbeitet und nicht vor ihnen davonläuft oder sagt, „das gibt es nicht“. Chihiro verblüfft geradezu durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie das Absurde normal behandelt, zum Beispiel, als sie Ohngesicht fragt, ob es nicht nass wird. Alice und Chihiro kehren beide gestärkt in die Alltagswelt zurück.

Die Unterschiede liegen im kulturellen Hintergrund: In Japan spielt ein Croquet-Spiel keine Rolle wie im viktorianischen England, und in Großbritannien gibt es keine schintoistischen Götter wie im traditionellen Japan. Auch die Vorstellung, dass Götter sowohl die Gestalt von Menschen als auch von Drachen annehmen wie Haku, existiert zwar in heidnischen Kulturen des alten Europa, aber nicht im Christentum zu Lewis Carrolls Lebzeit. Die ökologische Frage ist ein spezielles Thema von Miyazaki und spielt bei Alice im Wunderland keine Rolle.

Urmuster

In beiden Geschichten kommt ein junger Mensch in eine andere Welt; durch einen Tunnel – in archaischen Mythen ist das ein Loch, in dem ein Tunnel, ein Schlund, in den Bauch der Erdmutter führt. Der Ort der anderen Welt ist bei Miyazaki realer als bei Carroll, ein verlassener Freizeitpark, in dem sich Menschen auch real bewegen könnten, im Unterschied zu einem Kaninchenbau. Die Wesen der anderen Welt kommen in der Nacht, diese Welt scheint nicht völlig getrennt von der Alltagswelt wie bei Carroll. Hier mag der christliche Überbau eine Rolle spielen, denn in animistischen Kulturen ist die Grenze zwischen der Welt der Geister und der Welt der Menschen zu bestimmten Schwellenzeiten und an bestimmten Schwellenorten offen. Halloween, wo sich Kinder in Monster verkleiden, erinnert heute an diese Vorstellung; Halloween, Samhain, war der keltische Beginn des Winters, wo die Geister der Toten auf die Welt kamen und durch ebenso schreckliche Fratzen abgehalten werden mussten. So hat Miyazaki einerseits einen unmittelbareren Bezug zu animistischen Welten als Carroll, zugleich benutzt er für das Setting viel stärker die moderne Welt, die Eisenbahn, den Freizeitpark, das Auto. Im Zug reist Chihiro zu Yubabas Zwillingsschwester. Der Zug ist dabei mehr als ein reines Transportmittel, der Bahnhof ist der Eingang zur Zauberwelt, und so wie ein Schamane seine Trommel als sein Reitpferd in die Geisterwelt nutzt, ist es in der modernen Variante ein Zug, mit dem das Mädchen von der „bösen“ zur „guten“ Schwester reist, die als Zwillinge vielleicht nur Ausdruck von zwei Aspekten einer Persönlichkeit sind.

Es handelt sich bei Alice und Chihiro um Varianten eines Themas, um den Selbstfindungsprozess eines jungen Mädchens, in einer Welt, die nur dieser Mensch allein bereisen kann. Und, wie in jedem erfolgreichen Selbstfindungsprozess, kommen Alice und Chihiro in die Welt zurück, aus der sie kommen; sie sind aber nicht mehr dieselben wie vorher. Dieses Thema findet sich in unzähligen Märchen. Bei Chihiro wird noch deutlicher als bei Alice, dass Entwicklung Arbeit bedeutet – Chihiro arbeitet im Zauberland praktisch, in einem Badehaus. Das erscheint als plastischer Ausdruck dafür, dass seelische Prozesse Arbeit bedeuten. Chihiro emanzipiert sich im „Zauberland“ gerade dadurch vom schüchternen Mädchen zur selbstbewussten Gestalterin ihrer Umwelt, dass sie sich aktiv und eigenständig einbringt, dass sie eingreift und dadurch zu Ergebnissen kommt, die die geistige Wirklichkeit verändern. Dadurch erlangt sie die Anerkennung der Hexe Yubaba; und Yubaba verliert ihren Schrecken – das Absurde wird zu einer sinnvollen Erfahrung, das scheinbar chaotische zu einer neuen Lebensperspektive.

Name und Identität

Chihiro muss ihren Namen in Erinnerung behalten, sonst kann sie nie mehr in die Welt der Menschen zurück, der Welt, aus der sie kommt. Dingen, Menschen und anderen Lebewesen einen Namen zu geben, ist Definitionsmacht, ein wichtiges Element jeder menschlichen Kultur. Die Macht über Dinge geht bei Menschen damit einher, sie zu definieren und die Welt dadurch zu ordnen. Und die Macht über Menschen definiert sich darüber, über ihren Namen zu bestimmen. Der Name verweist auf die Identität: „Wie heißt du?“, und „wer bist du?“, sind eng miteinander verbunden. In vielen Gesellschaften gibt es die Vorstellung, dass der Name eines Menschen prägend für sein Schicksal ist; Familiennamen definierten den Beruf und damit auch die Klassenzugehörigkeit, ein Felix Schmidt-Johannsen ist der Glückliche, Sohn des Schmiedes Johann. Und auch in der heutigen Freiheit der Namensgebung gibt es die Tendenz, dass Kinder sich auch in die Richtung entwickeln, die ihr Name definiert.

So gingen die Jungen amerikanischer Kulturen in ihrer Pubertät allein in die Wildnis, wo sie die Visionen bekamen, die ihnen ihren erwachsenen Namen gaben.

Dadurch, dass Yubaba sie Sen nennt, wird Chihiro Yubabas Geschöpf – scheinbar, denn sie hat ja ihren wirklichen Namen nicht vergessen: Wer vergisst, woher er kommt, der verliert seine Identität. Der Zombie auf Haiti bezeichnet eben nicht in erster Linie einen körperlichen Toten, sondern einen psychisch Toten – einen Menschen, der durch „Zauberei“, geistige Indoktrination oder Gifte von einem Schwarzmagier, einem Sklavenhalter, zu einem debilen Arbeitsidioten gemacht wurde und nicht mehr weiß, wer er ist. Auch die Vorstellung, dass der Werwolf sich rückverwandeln muss, wenn man seinen Namen ruft, verweist auf die Identität.

Chihiro vergisst nicht und kann deshalb zurückkehren. Das ist weniger mystisch, als es scheint. Wie viele Menschen scheitern, weil sie etwas ganz anderes sein wollen, als sie aus ihrer Erfahrung her sind und landen als Verlorene im Delirium? Die Umerziehung in jeder Diktatur zielt darauf, die Identität des Menschen auszulöschen und durch eine der Herrschaft genehme auszutauschen. Und die Methode der teilnehmenden Feldforschung in der Ethnologie bedeutet, sich auf die andere Kultur einzulassen, und die eigene „im Rucksack zu tragen“. Chihiros Namensänderung zeigt eine Möglichkeit, mit verschieden Lebenswelten umzugehen: Yubaba ist ja eben nicht einfach nur böse, sondern sozusagen die Personalmanagerin des Badehauses, die dafür sorgt, dass der Betrieb funktioniert. Und Sen ist in diesem Sinn eben nicht das Mädchen Chihiro, sondern eine der Dienstleisterinnen des Badehauses. Berufswelt und Privatleben sind nicht identisch, insofern verweist Miyazaki auf praktische Strukturen des Alltagslebens. Kalle von nebenan, der zuhause die Beine auf das Sofa legt, ist in dem Bekleidungsgeschäft, wo er als Verkäufer arbeitet, Herr Schmidt und verhält sich entsprechend. Zuhause Herr Schmidt zu sein, wäre genauso unergiebig, wie am Arbeitsplatz Kalle sein zu wollen. Dies ist insbesondere vor dem japanischen Hintergrund interessant; in der japanischen Firmenkultur sind Formalien und Anpassung noch ausgeprägter als sogar in Deutschland, Trennung von Freizeit und Arbeit kaum vorhanden, totale Identifikation mit der jeweiligen Firmenideologie ein Muss. Und Miyazaki als scharfer Kritiker dieses Konformitätsdrucks verwendet solche Verweise mit Sicherheit nicht zufällig. Auch die belebten Rußklumpen, die den Ofen heizen, erscheinen als Arbeitsroboter ohne persönliche Identität, im Unterschied zum Heizer Kamaji selbst, dessen sechs ausdehnbare Arme, mit denen er verschiedene Tätigkeiten ausübt, andeuten, dass er als Individuum an diesen Arbeitsplatz gehört.

Alice im Wunderland ist ein Bestseller unter den Kinderbüchern, obwohl es schon vor weit über hundert Jahren erschien; Chihiros Reise ins Zauberland wurde ein weltweiter Erfolg, obwohl Japan ansonsten eher einen Geheimtipp für Filmkenner darstellt. Ein Grund dafür liegt in den zeit- und kulturübergreifenden Urmustern, die beide Geschichten erzählen.

Terror im Jemen

Terror im Jemen / Interview mit Fami Al Qadi, Mitglied der jemenitischen Opposition im Exil / Juni 2009

Dieses Interview vom Juni 2009 veröffentlichten wir auf Bitte von Fami Al Quadi damals nicht, weil sein Vater, Hussein Al Quadi, im Spätsommer 2009 vom Geheimdienst des Jemens verhaftet worden war. Am 4. November 2009, ermordete der Geheimdienst, laut Fami Al Quadi, Hussein Al Quadi. Damit ist der Grund für die Zurückhaltung entfallen.

Utz Anhalt: Wer ist dieser ehemalige Präsident des Jemen. vor dem ihr vor 30 Jahren nach Deutschland geflohen seid, und der sich vor wenigen Wochen in einem Hotel in Bayern einquartiert hat?

Fami Al Qadi: Ali Salem Al Beidh war seit der Revolution Verteidigungsminister, seit dem 06.11.1967. Er stand unter dem Schutz der DDR und der Sowjetunion. Egal, welche Regierung dran war, er war immer dabei, bis 1994. Er hat die Vereinigung gemacht und 1991 den Jemen an Saudi-Arabien verkauft. Nach 1994 hat er Asyl im Oman beantragt, weil ihn der damalige und jetzige Präsident Jemens A.A. Saleh der Todesstrafe ausgesetzt hatte. Dort lebte er bis 2009 im Luxus. Der Sultan von Oman, Kabus, bürgerte ihn ein. Jetzt kommt er nach Deutschland. Al Beidh ist ein Massenmörder, er muss vor den Europäischen Gerichtshof. 1986 war er verantwortlich für Massaker an 40.000, 1994 an 80.000 Menschen. Jemen verhungerte, er saugte das Land aus. Er plünderte die Kulturschätze und Museen Jemens und verschacherte sie privat. Ich, Fami Al Qadi, klage ihn an, mich im Alter von zehn Jahren, 1969, in seiner Funktion als Innenminister, meine Mutter, meine Schwestern und meine Brüder ins Gefängnis geworfen zu haben. Zwanzig Bewaffnete mit vorgehaltenen Kalaschnikows führten uns ab, als wir den letzten Checkpoint im Südjemen auf dem Weg nach Nordjemen passieren wollten und brachten uns auf Al-Beidhs Geheiß in den Geheimdienstknast in Lahj. 1977 wurden der deutsche Konsul im Jemen und seine Frau ermordet. Der Mörder, Abdullah Barrakat, damals Chef der National Guard, läuft heute frei in Sanaa-Stadt herum und unterstützt Al Qaida- die deutsche Regierung spricht bis heute nicht darüber und stellt keine Fragen, die jemenitische Regierung tut bis heute so, als wäre der Mord nur ein Unfall gewesen. Ich frage mich, warum Deutschland kein Interesse an der Aufklärung zeigt. Der Fall gilt bis heute als unaufgeklärt, im Jemen ist aber bekannt, dass Barrakat der Täter ist. Während sich Al Beidh heute in einem Luxushotel in Bayern einquartiert, warten hunderte politisch Verfolgte aus dem Jemen seit fünf Jahren in Deutschland auf ihre Asylverfahren in Kassel. Ich habe die Beweise dazu. Noch etwas: Al-Beidh hat dem Südjemen 44 Milliarden US-Dollar Schulden hinterlassen, und zwar von Waffenkäufen aus der Sowjetunion. Diese Waffen gibt es nicht im Jemen, sie sind natürlich kontinuierlich weitergeliefert worden- nach Somalia und in den Sudan, um die Kriege dort voranzutreiben.

Er konnte natürlich nicht in bar bezahlen, sondern bezahlt mit Fisch aus dem Golf von Aden, der den Menschen im Jemen jetzt auf Jahrzehnte fehlt. Den Jemeniten ist privater Fischfang bei Höchststrafen verboten.

Utz Anhalt: Was war der Grund dafür, dass er eure Familie verfolgte?

Fami Al Qadi: Wir waren Demokraten und mein Vater, Hussein al-Qadi, einer der führenden Oppositionspolitiker der FLOSY, die bis heute aktiv ist.

Utz Anhalt: Wie sieht das mit dem heutigen Präsidenten aus?

Fami Al Qadi: Der jetzige Präsident heißt Ali Abdullah Saleh al- Afesh. Er unterstützt Al Qaida, mit ihm regiert Al Qaida im Jemen. Dafür bekam Saleh dann ca. 300 Millionen Euro deutsche Entwicklungshilfe pro Jahr von der damaligen SPD-Bundesregierung unter Schröder. Ich bitte die deutsche Regierung im Namen der jemenitischen Exil-Opposition, keine finanzielle Entwicklungshilfe an den Jemen zu leisten. Seit wie vielen Jahren zahlt Deutschland Entwicklungshilfe? Geht es den Menschen dort besser? Alles schluckt die Korruption und deutsche und jemitische Politiker profitieren davon, während Kinder aus Not betteln und arbeiten müssen. Saleh ist ein Mörder und Diktator wie Al Beidh, er verkauft Frauen und Kinder. Schröder, Schily und Möllemann führten freundschaftliche Beziehungen zu ihm, Möllemann war der Kugelschreiber für Saudi-Arabien. Schily verkaufte alles Mögliche an Saleh, Überwachungskameras, Sicherheitstechnik, alles, was eine Diktatur braucht, er ist verantwortlich für Al Qaida. Ex-Kanzler Schröder schüttelte dem Schlächter bei der Expo 2000 in Hannover die Hand. Ehemalige Stasi-Leute hängen als Ausbilder im Geheimdienst des Jemens drin. Jemen hat heute eines der ärmsten Völker der Welt, 80% der Menschen leben mit weniger als einem Dollar pro Tag. Die Luft zum Atmen gehört der Militärdiktatur. Saleh ließ den Präsidenten Ibrahim Al Hamdi ermorden. Er verkauft die Vögel im Himmel, die Fische im Wasser und die Erde, er arbeitet mit den Piraten im Golf von Aden und mit Al Qaida zusammen. Er kassiert für jedes Schiff, das durch den Golf von Aden fährt, persönlich. Wenn du zu seiner Familie gehörst, lebst du mehr als im Luxus und das Volk verblutet.

Utz Anhalt: Die Bundeswehr kämpft in Afghanistan gegen Al Qaida und die Bundesregierung unterstützt gleichzeitig ein Regime, das mit Al Qaida zusammenarbeitet?

Fami Al Qadi: Bin Laden kriegt Schutz vom Geheimdienst des Jemen, dem von Pakistan und aus Saudi-Arabien. Saudi-Arabien hat Al Qaida in Saudi-Arabien gegründet; Al Qaida hat eine Zentrale in Sanaa-Stadt unter persönlicher Fürsorge von Saleh. Bin Laden hielt sich mehrmals in Sanaa auf. Al Qaida hat die Geiseln entführt und ermordet und Saleh weiß, wer die Geiselnehmer sind und wo sie sich aufhalten. Er braucht die Geiselnahmen, um mehr Entwicklungshilfe aus Deutschland zu erpressen. Saleh hat Kinder aus dem Jemen wie Ratten eingesammelt und nach Afghanistan geliefert, damit sie dort Selbstmordanschläge verüben. Der Präsident ist persönlich für die Morde an den Geiseln verantwortlich. Bin Laden gilt in Sanaa als eine Art Rambo von Arabien und ist sehr beliebt.

Utz Anhalt: Saleh macht die schiitischen Huti-Rebellen für die Geiselnahmen verantwortlich.

Fami Al Qadi: Die haben damit nicht das geringste zu tun. Das sind keine Dschihadisten, Islamisten oder Terroristen. sondern Menschen, die ihre Freiheit verteidigen. Saleh herrscht nur über Sanaa-Stadt. Er bekommt die Rebellen in den Bergen nicht unter Kontrolle. Jetzt versucht er, den Westen gegen die Rebellen aufzuhetzen und zugleich von seiner Schuld für die Geiselnahmen abzulenken.

Utz Anhalt: Du sagst, Al Qaida wurde von Saudi-Arabien gegründet und Saleh ist der Lakai Saudi-Arabiens. Wie kommt es dann, dass Saudi-Arabien Verbündeter der USA im Afghanistankrieg war?

Fami Al Qadi: Der Kampf zwischen Bush und Bin Laden war ein Kampf um Familiengeld. Ussama Bin Ladens Familie hat sich mit ihm aus Familiengründen zerstritten, nicht wegen Al Qaida und dem Terrorismus. Der Jemen und die Saudis finanzieren den Dschihad im Irak, in Afghanistan, sie finanzieren Al Quaida und die Terroranschläge.Zugleich lassen sie sich vom Westen das Öl bezahlen, bzw. Entwicklungshilfe geben.

Utz Anhalt: Das heißt, deutsche Entwicklungshilfe finanziert mit Saleh einen Despoten, der die Entführung und Ermordung von deutschen Staatsbürgern zu verantworten hat?

Fami Al Qadi: So ist es.

Utz Anhalt: Wie sieht es mit der Verfolgung von Oppositionellen in Europa durch Saleh aus?

Fami Al Qadi: Der jemenitische Geheimdienst ist hier in Deutschland seit vielen Jahren hinter mir und meiner Familie her. Ein Geheimdienstagent hatte in Deutschland Asyl beantragt, hier fünf Jahre lang jemenitische Asylbewerber bespitzelt und wurde dann nach Dubai abgeschoben, mit Diplomatenpass. Solche Gewaltleute kriegen immer ihre Papiere. Die Mitarbeiter der jemenitischen Botschaft sind vor allem damit beschäftigt, Informationen über in Deutschland lebende Dissidenten zu bekommen. Die politisch Verfolgten aus dem Jemen stellt man hier hingegen unter Terrorverdacht. Dabei sind wir Demokraten, Al Qadi, nicht Al Qaida. Nach dem 11.9. 2001 haben in Deutschland lebende Oppositionelle wegen der Terrorangst ihrer Arbeitgeber ihre Jobs verloren. Wir sind hier Gäste. Wenn der Schlächter abtritt, gehen wir sofort zurück in unser Land. Das gilt auch für die Asylbewerber in Kassel und ganz Europa. Kurz: Europa könnte sehr leicht eine Anzahl Asylbewerber loswerden, wenn die Militärdiktatur im Jemen abgesetzt und durch eine demokratische Regierung ersetzt würde. Aber leider unterstützen Europa, Amerika, Saudi- Arabien diese Militärdiktatur. Und heute pflegt Angela Merkel die freundschaftlichsten Beziehungen zu Saleh. Auf den Internetseiten der Bundesregierung ist das sehr schön nachzulesen (Pressekonferenz Februar 2008, Salehs Besuch in Deutschland. Wir werden aber nicht nur vom jemenitischen Geheimdienst verfolgt und bedroht, sondern auch vom saudischen Geheimdienst: Drohanrufe, Verfolgung und Photoaufnahmen von uns sind einige der Mittel.

Utz Anhalt: Saleh stellt sich als eine Art jemenitischen Helmut Kohl dar, als den Präsidenten der Vereinigung zwischen Nord- und Südjemen.

Fami Al Qadi: Wir wollen die Vereinigung, aber ohne ihn. Schon 1980 sind die Al Qadis im Gefängnis brutal zusammengeschlagen worden, weil sie die Vereinigung wollten. Wir waren mit 300 Oppositionellen in einer großen Zelle mit feuchtem, kalten Zementboden, als Nahrung 1 Kg Reis mit Sand vermischt für alle 300, Schläge durch kubanische Aufseher, die unsere Sprache nicht verstanden, und Folter.

Utz Anhalt: Was soll mit Saleh passieren?

Fami Al Qadi: Ich, Fami Al Qadi, sage, “wenn Ali Abdullah Saleh, Ali Salem Al Beidh und der Mörder des deutschen Konsuls, Abdullah Barrakat, im demokratischen Europa vor Gericht stehen, glaube ich an Demokratie und gehe ich sofort in meine Heimat zurück.”

ingt leben möchte.

Historiker, Dozent, Publizist