Der Menschenskorpion

[...] Der Wahn erkennt in der Verklärung der Opfer ihre Erniedrigung. Er macht sich dem Ungeheuer der Herrschaft gleich, das er leibhaft nicht überwinden kann.[...]

Theodor W. Adorno, Die Dialektik der Aufklärung

Sein Name ist Boris. Er zittert manchmal. Seine Augen blitzen, seine Hände zucken gelegentlich. Wir fanden sein Tagebuch und fassten es zusammen.

In der Kälte eines Oktobermorgens lenkten Boris seine Schritte zu einem Haus in Tox Tath, einem Stadtteil in Liverpool. Der Verfall des Hauses zog ihn an. Nach Stürmen in der Nacht lagen am Morgen Regenschlieren auf den Gebäuden. Häuschen schmiegten sich in eine Landschaft wie in einer Spielzeugeisenbahn, Häuser in der Farbe von Schokolade. Einige Bäume lagen auf Ziegelmauern in der Farbe von Kakao. Dann und wann kreuzte ein Passant seinen Weg, als er die Croxteth Road entlangschlich. Orkane hatten die Bäume aus der Erde gerissen. Stille breitete sich auf den Straßen aus. Diese Stille erinnerte Boris an Gleichförmigkeit, mit der der Ganges Kadaver in die Mangrovenwurzeln schwemmt.

Der Reisende betrat den Hof des Hauses. Seine Blicke wanderten zu verschmorten Plastikpuppen, Müllasche lag auf der Erde verstreut. Ein Haus voll Merkwürdigkeiten. Es bestand aus drei Stockwerken, die Fenster aus der Kolonialzeit hatte jemand zerbrochen und von innen mit Pappe versiegelt. Er fühlte, wie seine Wahrnehmung sich veränderte, erkannte etwas und schreckte zurück. Müll lag überall, der zum Teil verbrannt war, verbrannt, als ob dort jemand versucht hatte, etwas zu beseitigen. Denn etwas störte. Dieses Etwas hatte in Boris eine Hemmung ausgelöst, den Hof zu betreten. Er wußte nicht, was es war, noch nicht. Deshalb drehte sich der Geschichtsstudent aus Hannover um und ging zurück zu dem Hotel in der Croxteth Road, in dem er mit seiner Schwester, ihrer Freundin und ihrem Freund Domizil wohnte. Dort ruhte etwas in diesem Haus der Zerstörung, in diesem Hof.

Er saß kurze Zeit später mit Malcolm, seinem Gastgeber, einem Mensch voll Korpulenz, im Zimmer und trank Tee. Sie hörten Popmusik aus England. Die Straßen in der Kälte von Tox Tath blieben draußen. Cristopher, der Freund von Boris Schwester, sortierte seine Schätze - Beute eines One-Pound Shops. Boris rauchte eine Gitanes und wusch sich die Hände. Er vergaß den Müllberg nicht.

Die Nacht in Tox Tath reizt mit einer Atmosphäre voll Eigentümlichkeit. Dann und wann zerreißt jedoch der Schrei eines Säuglings im Sterben das Eigentümliche und ersetzt es durch Terror. Jugendliche, Kinder von Vätern aus Nigeria und Müttern mit weißer Haut, kontrollieren die Dunkelheit. Die Mütter leben von Sozialhilfe und die Väter sind nach Nigeria abgehauen. Der Pariastatus der Kinder ist nachvollziehbar: In ganz England treiben nirgendwo mehr Rassisten ihr Unwesen als in Liverpool. Die Schwarzen aus der Black Community hassen dafür die Weißen.

Beide Seiten bezeichnen die Mulattenkinder als Bastarde. Nachts erschießen diese Kinder sich dann gegenseitig. In den Straßen von Tox Tath stößt der Atem dichter hervor als anderswo und getriebener stößt er aus den Lungen. Die Mulattenkinder zerschlagen Telefonzellen und rotten sich zusammen. Sie werfen mit Steinen auf vorbeifahrende Autos - und es brodelt.

Ein Wind liegt in der Luft, ein Hauch, der sich zum Sturm zusammenzieht. Er braut sich zusammen, dann zerstirbt er, bis der Tag beginnt und die Kinderkämpfer sich in ihre Behausungen zurückziehen, um dort die Nacht, eine neue Nacht, abzuwarten, in der der Wind erneut den Brandgeruch von Mülltonnen in sich trägt.

Die Nacht bricht neu mit Schwärze hervor, erweckt das Leuchten in den Augen dieser Raubtiere, die in der Zartheit ihrer Kinderjahre die Beretta als Freund und das AK-47 als Beschützer ansehen.

Es war so ein Tag. Malcolm kochte Kaffee, Boris und die anderen aßen zu Rollen gepapptes Weißbrot mit Cheddarkäse. Die Uhr zeigte Mittag; es regnete nicht mehr. „My hands are the killer that confirm my fears.“ An diese Zeilen der Gothic-Rock Band Christian Death dachte Boris, als er nach dem Essen im Bus zum City Center fuhr. Eine blonde Frau hustete neben ihm und Wolken tauchten früh am Nachmittag die Stadt in Dämmerlicht.

Boris traf sich mit seinen Freunden, denen aus Hannover und denen aus Liverpool, im Cafe Tobac in der Bold Street. Die Tische leuchteten, blau gestrichen in Lackfarbe, das Innere des Raumes war leer, beruhigend leer. Eine junge Marrokanerin servierte Mocca. Nach wie vor lag es in der Luft. Boris fühlte sich, als ob er sich in diesem Hof infiziert hatte, infiziert mit Zerfressenem, zerfressen von den Blatternviren eines Leichnams. So schien ihm auch die Ruhe des Cafes äußerlich.

Vor den Fenster gingen Passanten, Weiße und Schwarze, Pakistanis, Inder, Nigerianer und Scallies, wie sich die Schläger weißer Hautfarbe nannten, Arschlöcher, die andere Menschen krankenhausreif prügelten, schnell ein Messer in der Hand hielten und zustießen. Einer dieser Typen hatte einem Kumpel von Boris Schwester in einer Telefonzelle den Hals aufgeschnitten, weil der -seiner Meinung nach- zu lange telefoniert hatte.

Boris betrachtete Postkarten, die er seinen Freunden in Hannover schicken wollte. Eine zeigte die Docks von Liverpool, eine eine Kathedrale aus dem Mittelalter, eine dritte zeigte das Sternzeichen Skorpion. Die fesselte ihn: Ein roter Skorpion kroch über einen Sumpf. Die Karte trug die Inschrift: „Red is not the color of innocence.“ Boris schluckte. Er dachte an die Geschichte „The Masque of the Red Death“ von Edgar Allan Poe, an die Unentrinnbarkeit vor dem Unheil.

Kurz nach sechs - die Nacht begann. Sie saßen im Hotel und die Musik aus der Anlage übertönte zögernd den Sirenenklang und das Krachen der Glashausfassaden draußen. Malcolm zeigte Boris eine Straße der Gefahr.

Das war es: Haß und Verzweiflung trieb Kinder, die niemand liebte. Haß trieb sie, beim Häuserbrand in Wollust Lieder vom Tod zu singen. Aber es war nicht nur das. Voll Entsetzen spürte Boris, dass es noch etwas anderes gab und dass dieses andere sich in Müllbergen in diesem Stadtteil verbarg - wie ein Weihgefäß des Todes. Was stand hinter dem Sirenenheulen? War das eine Art Seele, Antrieb oder Kern des Ganzen? Es konnte doch nicht nur die Erbärmlichkeit des Kinderlebens sein. „Ist es möglich, dass Haß, Angst, Chaos und Verzweiflung Wirklichkeit werden?“ fragte er sich. „ Dass etwas entsteht, wenn Leidenschaft vergilbt und Inzest verschlingt?“ Die Musik dämpfte und beruhigte ihn. Autos fuhren am Fenster vorbei. Er dachte an den Müllberg. Als ob jemand versucht hätte, Unheil zu beseitigen. „Warum verbrannte der Müll nur zur Hälfte?

Warum nicht ganz?“ schwitzte er und blickte nach draußen. Dort kroch die Nacht wie ein Insekt. Wie Insekten flogen diese Kinder auf ihrer Suche nach Opfern in die Straßenzüge. „Wem bringen sie Opfer? Sind es Opfer für ihren Haß? Sind es Opfer für ihre Grausamkeit, ihre Einsamkeit, ihre Kälte?“ Das fragte sich Boris, und es drängte ihn, der Sache auf den Grund zu gehen.

In Tox Tath geht man, wenn man nicht einer Gang angehört, in der Nacht nur in Gruppen durch die Straßen oder bleibt zu Hause.

Die Bewohner des Viertels wissen, dass die Straßen den Tod trinken. Sie wissen, dass ein Menschenleben nicht zählt. Sechzehn Jahre bevor Boris seinen Urlaubsalptraum verbrachte entfesselten die Schwarzen ihren Haß auf die Unterdrücker. Der Stadtteil entflammte.

Liverpool ist eine Stadt der Armut und niemand restaurierte die Häuser. So hausen die Armen in Gebäuden, denen die Fenster fehlen, in Fassaden der Pracht, deren Dachziegel die Innenhöfe bedecken. Säuglinge sterben an Unterernährung, Alte an Lungenentzündung. Die Verzweiflung springt an jeder Ecke in die Augen. Die Kinder wachsen in dem Tod der Straßen auf und lernen zu töten, lernen zu überleben, lernen zu sterben. Denn sterben können sie in Tox Tath schnell.

Boris saß in der Badewanne mit dem Dreckboiler, der Stunden brauchte, um zu erhitzen. Dafür kochte das Wasser jetzt. Er sinnierte, heute Nacht zu dem Hof zu gelangen. Er mußte seine Unternehmung im Verborgenen durchführen. So legte er sich neben seiner Schwester ins Bett, las in einem Buch über die Sklaverei-Ausstellung im Liverpool Museum, wartete, bis sie das Licht ausknipste und tat so, als ob er schlafen würde.

Als Boris hörte, dass ihr Atem sich beruhigte und ein Schnaufen aus ihrer Nase drang, stand er auf. Der Geschichtsstudent schlich sich zur Treppe, wo Hose, Pullover und Jacke in ihrem Versteck lagen und ging zur Vordertür. An der Eiche, die in der Nacht die Silhouette eines verformten Gorillas anzunehmen schien, huschte er vorbei und trat auf die Croxteth Road. Eiswind strich um Boris Ohren. Stille lag über dem Viertel, von weit entfernt drang Motorenlärm. Er sah keinen Menschen. Boris hastete die Friedhofsmauer entlang, deren Schieferplatten im Zwielicht der Dunkelheit ein Eigenleben annahmen.

In Deutschland liebte er den Spätherbst mit der Klarheit seiner Kälte. Hier spürte er Angst, die die Kaltluft noch unterstrich, auch wenn sein Kopf sich klärte. Boris beschleunigte seine Schritte, fühlte sich beobachtet. Am Abend zuvor hatte er von dem Kobold Redcap gelesen. Das hätte er lieber bleiben lassen sollen. Boris versuchte, die Imagination ab- und die ratio einzuschalten, doch das war leichter gesagt als getan.

„Vielleicht hätte ich doch besser im Bett bleiben sollen,“ nuschelte der Student sich in seinen Dreitagebart. Weiße mochten die Kids nicht und deutsche Studenten aus der Mittelschicht, die in Liverpool ein paar Tage Gefahr schnupperten, um dann wieder in ihr Zuhause zurückzukehren, noch viel weniger. Die Mulattenkinder hatten sich nicht freiwillig entschieden, in der Unerträglichkeit des Chaos und in der Menschenunwürdigkeit des Verfalls zu leben.

Boris hörte es nicht krachen und das verunsicherte ihn. In den Nächten zuvor war es kaum zehn Minuten ruhig geblieben. Lag es daran, dass die Killerkinder ihn bemerkt hatten und auf der Lauer lagen? Er versuchte, sich diesen Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Immerhin war er nur ein Mensch, der in der Nacht über die Straße ging.

Aber die Straße war Boris zu offen. Nebel zog auf, er konnte sich ein wenig verbergen. Boris sah nicht eine Mülltonne, hinter der er sich zur Not verstecken könnte.

Kein Baum und kein Busch bot ihm Deckung, wenn diese Kids mit Maschinenpistolen herumspielten oder Butterfly-Messer ausprobierten. Boris Knie schlotterten. Er lehnte sich an eine Mauer, blickte auf Raureif und Efeublätter und begutachtete die Szenerie. Wenige hundert Meter trennten ihn vom Hof. Die Straßen, in denen die Mulattengangs kämpften, lagen auf der anderen Seite eines Parks, der hinter dem Hof begann.

Keine Killer hielten sich in der Croxteth Road auf. Da die Gangs ihre Reviere abstimmten, schien es unwahrscheinlich, dass die Mörderkinder auftauchten. Das sagte die Logik. Sein Gefühl sprach anders. Er hatte Angst. Der Student fror vor Angst, die weit über eine Faust im Gesicht hinausging. Zuerst wollte der Tourist zurück ins Hotel gehen, es zog in die andere Richtung. Es? Wie am vorigen Morgen zog es ihn an. Er lief nicht weg vor dem, was ihm Angst machte, sondern ging darauf zu, ein Mechanismus gefährlich wie ein Maschinengewehr.

Nicht er ging, sondern es trieb ihn, zwang ihn: Es fühlte sich an, als ob jemand ihm von hinten in den Nacken schlug; wie ein Sklaventreiber im Hafen von Liverpool, dem Zentrum des Fleischmarkts. Boris wollte dagegen ankämpfen, wollte ins Hotel zurückgehen. Es war zu spät.

Er dachte an die Horrorliteratur in der Bold Street. Er merkte, dass die Künstler des Düsteren und Verborgenen auf die Wirklichkeit zielten.

Jetzt trieb Boris die Angst vor der Angst in die Angst. Er erinnerte sich an die Postkarte, auf der ein roter Skorpion über einen Fäulnissumpf kroch. Boris dachte an den Skorpionsstachel, an Afrika, an den Pandinus Imperator- den Riesenskorpion. Rot sollte nicht die Farbe der Unschuld sein. Wie das Blut, das die Kinder in der Nacht vergossen. Wie die Angst und Einsamkeit, die sich in Kaltblütigkeit und Grausamkeit verengte. Boris zitterte, denn wie der Sumpf auf der Postkarte verfaulten die Kinderseelen. Kinderseelen, die krochen wie Tausendfüßler. Boris kippte vor Schreck, die Erkenntnisse kollabierten. Der Skorpion. Das Tierkreiszeichen, das über Verwesung kriecht, sticht und tötet. Das Sinnbild für ein Menschmonster, einen Sozialdarwinisten im Überlebenskampf.

Der Student erkannte mit der Klarheit eines Kristallglases: Den Bruch des Tabus, die Erforschung der Perversion, die Reise in die Unterwelt. Die Angst gewann und Boris wusste, was die Kinder trieb. Der Skorpion trieb sie. Ihm brachten sie Opfer. Eine Kreatur der Kälte stach, eine Schöpfung aus Selbstzerstörung tötete. Sie bewegte sich auf dem Gestank unter der Oberfläche dieser Kloake.

Er raste auf den Hof, zwischen Gruppen von Gangkindern hindurch, vorbei an Mulatten, die eine Ratte mit Stricknadeln spickten, bis er zum Zentrum des Sogs kam.

Der Hof phosphoriszierte. Eine Amerikanerleiche lag zwischen den Plastikstücken, kenntlich am Hawaihemd und den Nike-Turnschuhen. Kinder von schwarzen Vätern und weißen Müttern standen um den Kadaver und stimmten einen Singsang an. Ein Wesen mit dem Unterleib eines Riesenskorpions und dem Torso eines Menschen kroch über den Abfall, die Augen Kugeln, die Hände Zangen. Die Kinder traten zur Seite, als der Menschskorpion zur Leiche kam. Im Bannstrahl ging Boris zum Wesen.

Sein Körper vibrierte, als dieses Geschöpf, aus Angst und Hass zu Fleisch geworden, den Chitinschwanz über den Kopf bog. Er fiel nieder und Schemen der Trommelkämpfer Altägyptens zogen ihn in den Äther, sein Nacken verkrampfte und Gefühllosigkeit fraß sich in die Lähmung seines Leibes.

Zwei Tage ist das her. Boris träumte die Schrecken dieser Stadt. Ein Traum, dachte er, saß in der Badewanne und starrte auf den Dreckspiegel.

Doch woher kam diese Stelle an seinem Becken, die aussah wie ein Muttermal, was waren das für Spinnweben in Sternform am Bauch? Warum schallte sein Herzschlag?

„Boris, hast Du die Geburtstagskarte für deine Mutter schon losgeschickt?“ rief seine Schwester Nadja von draußen. Er blickte auf die Karte mit dem roten Skorpion. An der Wand hing ein Stadtplan von Liverpool. „Die Karte ist ein Alptraum“, schrie Boris und flüsterte: „Und nicht nur die Karte.“

Wie Gift stach es in seine Nackenhaut und lähmte seine Bewegungen?

Boris zuckt manchmal mit den Augen.

Walpurgisheulen

Ulrich, Susanna und Martin, der Schotte, waren in der Stadt Thale im Ostharz angekommen.

Sie hatten das Auto vor einem einst wohl prächtigen, nun aber verfallenen, Gebäude geparkt und genossen nach einer mehrstündigen Autofahrt die Bergnatur. Am 30. April lag noch Schnee an den Bergbächen, zwischen den Tannen leuchteten goldene Mosaike einfallender Sonnenstrahlen. Hier unten im Tal wirkte der Himmel blau, obwohl vom Berghang Nebel aufzog, hier unten im Tal trugen fast alle Bäume Blätter, während den Berg hinauf, Richtung Hexentanzplatz, die Bäume noch kahl waren. Wassertropfen fielen aus regengesättigten Fichtenkronen auf den Boden in Moospolster, die den herumliegenden Wurzeln das Aussehen von Fabelwesen gaben. „Guck mal, eine Dryade“, sagte Ulrich zu seiner Freundin und zeigte auf einen Baum, aus dem eine Wölbung hervor stand wie eine Frauenbrust mit Brustwarze. „Die Baumfee hat sich versteckt, als wir das Auto geparkt haben, aber nicht schnell genug“, meinte Ulrich.

Martin und Ulrich hatten sich schon seit Stunden in die Walpurgisfeier am Hexentanzplatz hinein fantasiert, über die schwarze Annis, die Kinder fressende Hexe der schottischen Highlands, Satanisten in Kalifornien, Goethes Faust und germanische Fruchtbarkeitsfeste geredet. „Hier wirkt es irrealer, wenn Autos fahren, als wenn hier ein Zwerg zwischen den Felsen hervortreten würde“, behauptete Ulrich. „Das sieht aus wie bei mir zu Hause in den Highlands. Schade, dass ich meine Kamera vergessen habe“, erwiderte der Schotte.

Die drei aßen Wildgulasch im Hotel „Zum Fichtenhof“, beobachteten Bachforellen im Fischteich und stellten das Auto am großen Parkplatz bei der Bergseilbahn ab, mit der die Touristen über das Flusstal der Bode hoch zum Hexentanzplatz fuhren. Sie wollten aber zu Fuß hinauf steigen. Schließlich waren sie hier, um sich in die Stimmung hineinzufühlen, in der die Menschen in alten Zeiten die Dämonen des Winters vertrieben und die Geister des Frühlings begrüßt hatten. Dem alten Glauben und der neuen Tourismusindustrie nach sammelten sich die Hexen in der Nacht zum ersten Mai oben auf dem Hexentanzplatz und flogen von dort zum Brocken, wo sie ihrem Herrn, dem Satan, den Anus küssten, Geschlechtsverkehr mit dem Teufel, Hunden, Schweinen, Wölfen und anderen Tieren hatten und überhaupt wilde Orgien feierten. In Thale stellten Harzbewohner Hexenflugsalben nach Originalrezepten her. Tollkirsche, Stechapfel und Fliegenpilz waren nur einige der Substanzen, die, verbunden mit den Figuren der nächtlichen Natur, wilde Flug- und Sexfantasien entstehen ließen. Martin und Ulrich hielten sich an Schierker Feuerstein, einen Kräuterschnaps und hatten bereits die erste Flasche intus. „Ihr solltet nicht so viel saufen, bevor wir auf der Spitze sind. Unterschätzt das nicht. Die Felsen sind steil, es wird anstrengend“, sagte Susanna, die sich beim Trinken zurück hielt.

Auf dem Parkplatz liefen einige Opas und Omas herum, die alle die gleichen spitzen Hexenhüte trugen. Andere hatten sich als Teufel geschminkt, was in der Kombination mit Jeans und Blousons nicht gerade überzeugend aussah. „Walpurgis ist hier Big Business“, sagte Ulrich. „Ein bisschen weniger kommerziell wäre es mir lieber“, erwiderte Susanna. „Die richtigen Okkultisten und Freaks suchen sich wohl ihre eigenen Stellen und nicht die Großevents“, vermutete Martin. „Warum heißt der Platz eigentlich Hexentanzplatz?“ fragte Susanna. Ulrich blätterte in seinem Reiseführer: „Goethes Walpurgispassage im Faust spielt auf der Hochebene bei Thale. Aber der Hexentanzplatz war auch eine wirkliche Kultstätte der Altsachsen. Man fand hier einen germanischen Opferstein aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert und ein Opferbeil aus Kupfer. Außerdem steht oben auf dem Berg eine Steinmauer, die ein Germanenstamm angelegt hat. Die Christen vereinnahmten das heidnische Frühlingsfest später, indem sie es der heiligen Walpurga unterstellten.“ „Der Ethnologe Hans Peter Duerr schreibt, dass die archaischen Kulturen glaubten, in zyklischen Festen die Wiedergeburt der gejagten Tiere unterstützen zu können. Die Tiere sollten in der Bergen, dem Bauch der Erde, leben und von der Erdgöttin, der alles gebärenden Tiermutter, zur Welt gebracht werden“, ergänzte Susanna. „Haben die auch Menschen geopfert?“ fragte Martin. „Die Germanen haben auf jeden Fall Menschen geopfert“, meinte Ulrich. „Die waren sowieso sehr kriegerisch, ihr höchster Gott Odin war auch Schlachtengott und ständig von zwei Wölfen, Geri und Freki, begleitet.“ „Die Wölfe haben mit kriegerisch wenig zu tun“, warf Susanna ein. „Geri steht für Vermittlung und Freki für Wachsamkeit.“

„Da oben gibt es eine Walpurgishalle mit einem einäugigen Odinskopf“, vermerkte Martin. „Odin wurde im Christentum zum wilden Jäger, der zwischen Weihnachten und Neujahr mit seinem Dämonenheer durch die Wolken zieht und geeignete Krieger sucht, die sich seiner Schar anschließen können“, fügte Ulrich hinzu. „Kein Wunder, dass die Leute so etwas geglaubt haben, bei der Landschaft“, mutmaßte Martin und blickte auf die Felsformationen des Bodetals, den so genannten „deutschen Grand Canyon“. Der Granitfelsen der Roßtrappe bildete zusammen mit dem Hexentanzplatz weit über dem „Tal der engen Wege“ ein Felsentor, durch das sich der Fluss Bode in der Tiefe sein Bett zwischen Steinbrocken, Hornfels, Schiefer, Ramberggranit und umgestürzten Baumstämmen suchte. „Die Bode heißt nach dem Riesen Bodo. Der soll der Sage nach die schöne Brunhilde verfolgt haben. Die rettete sich mit einem Sprung ihres Pferdes über das Tal. Deshalb heißt der Felsen da drüben Roßtrappe und der Fluss Bodo. Ach so, Bodo wurde zur Strafe in einen schwarzen Hund verwandelt, der jetzt die Krone der Prinzessin bewacht. Um Mitternacht, besonders zur Walpurgis, hört der Wanderer sein Schreckensgeheul“, las Ulrich vor. „Die Zwerge und Elfen, die Kobolde und Waldgeister oder sogar der Teufel persönlich sollen nachts die Wanderer erschrecken, so dass diese vom Weg abkommen und in Felsspalten fallen oder im Fluss ertrinken“, fiel Martin ein. „So, und wenn ihr euch jetzt ständig Gespenstergeschichten erzählt, sind wir vor Anbruch der Dunkelheit nicht oben. Und wenn die Wanderer so viel saufen wie ihr, brauchen sie keinen Teufel, um in die Tiefe zu stürzen“, lenkte Susanna das Gespräch in eine praktische Richtung.

Die Drei wanderten los. Ulrich ließ sein Jagdmesser im Auto, weil die Security oben beim Fest es ihm bestimmt abgenommen hätte. Wild zelten durften sie im Naturschutzgebiet auch nicht. Aber einige Flaschen Köstritzer Schwarzbier und eine zweite Flasche Schierker Feuerstein durften nicht fehlen, als Hilfsmittel, um die Walpurgisstimmung von Magie, Wildnis und Erotik genießen zu können. Einige Mädchen in Hexenkostümen und Besen gingen zur Seilbahn. Martin flüsterte: „Soll ich denen sagen, dass mein Scottish Sausage, my devil´s cock, dicker ist als ihre Besenstiele und, dass sie darauf zum Brocken reiten können wie noch nie zuvor in ihrem Leben?“ „Du kannst ja sagen, du bist der Satan und hättest dich als Mensch verkleidet. Darauf fahren die Girls hier bestimmt ab“, grinste Ulrich. „Bei uns in Schottland haben sie früher auch Hexen verbrannt. Die Leute bei mir, die glauben da heute noch dran, an den handlosen Bagpiper, den Kelpie, einen Dämon, der die Wanderer in den Sumpf zieht und an solche Sachen, da oben hat jeder See seine Nessie.“

Die Drei wanderten jetzt am Fluss Bode entlang, während die Masse der Walpurgisgänger an der Seilbahnkasse wartete. Die Familien mit Kindern kamen gerade zurück, viele der Jungs trugen Dreizacke aus Plastik, sehr beliebt waren auch Teufelshörner, die im Dunkeln leuchteten, Gummihexennasen und Perücken mit eisgrauen oder feuerroten Haaren.

„Das ist ja wie auf dem Schützenfest“, lästerte Susanna. „Ich dachte, hier springen Leute, die das ernst nehmen, nackt um das Feuer herum.“ „Guck mal, das ist das ideale Setting für einen Fantasyplot“, unterbrach Ulrich das Gespräch. Die Dämmerung hatte eingesetzt und im Zwielicht verloren die Konturen an Schärfe. Die Steilwände auf beiden Seiten der Bode hätten auch aus dem Fels geschlagene Burgen eines Zwergenvolkes sein können, die mit den Menschen im Tal in Konflikt lagen. Durch Birkenblätter drangen Blaulichtsprenkel der untergehenden Sonne wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich auf den Waldboden und funkelten hier und da auf dem Moos und den feuchten Steinen. Ein Eisentor verschloss einen Höhlenausgang, eine Informationstafel verwies darauf, dass hier Fledermäuse lebten. „Krak, Krak, Krak,“ tönte es über ihnen. „Susanna, da, ein Kolkrabe“, rief Ulrich. „Wie, keine Krähe?“ „Nein, er ist viel größer und hat einen kürzeren Schwanz. Außerdem ist seine Stimme tiefer.“ „Hugin and Munin“, erläuterte Martin. „They are the ravens of Odin, wisdom and cleverness. Maybe the wild hunt is beginning now, maybe Odin will take the horniest small witches from the Hexentanzplatz.” Die Drei wanderten bis zur Jungfernbrücke, überquerten die Bode und stiegen den Bergweg zum Hexentanzplatz hoch.

„Wird schon steiler“, stöhnte Ulrich. „Bei uns in Hannover bin ich Berge nicht gewohnt.“ „Wir in Heidelberg sind damit aufgewachsen“, lächelte Susanna. „Jede Woche so eine Tour und deine Kondition ist wieder in Ordnung. Du musst kleine Schritte machen. Könnt ihr die Flaschen nicht oben austrinken?“ Martin und Ulrich hatten die zweite Flasche Feuerstein schon halb geleert und Ulrich lallte bereits.

„Wir hätten früher losgehen sollen“, meinte Susanna. „Jetzt geht es noch gerade, aber in einer halben Stunde ist es dunkel, und dann wird es hier gefährlich.“ „Dann kommen die Werwölfe und Teufel, die Zwerge krabbeln aus ihren Höhlen und der schwarze Hund lähmt die Wanderer mit seinem Todesgeheul. Kein Wunder, dass die Romantiker hier ihre Impressionen bekamen.“ „Man merkt, dass du aus dem Flachland kommst. Wir Bergbewohner haben weniger Sinn für solche schaurig schönen Fantasien, sondern achten auf reale Gefahren. Und deswegen sollten wir schneller gehen und hier nicht herumträumen. Wenn es dunkel ist, kannst du nämlich die Luft und die Erde farblich nicht mehr unterscheiden“, warnte Susanna.

Martin war der Bergspitze wesentlich näher gekommen und wartete immer wieder auf Susanna und Ulrich. Für den Highländer Martin war dies ein Spaziergang und auch Susanna sah den Weg nicht als wirkliche Bergtour an. Ulrich aber war abgefallen, schwitzte und ächzte unter der Last seines Übergewichts. Er hatte an sich eine gute Kondition, war aber das Überwinden von Höhenunterschieden nicht gewohnt. Susanna wartete an einer Wegschlaufe. „Lass uns eine Pause machen“, japste Ulrich. „Wir machen eine Pause, wenn wir oben sind,“ antwortete Susanna und tastete sich weiter über die Steine. Zwei Jugendliche kamen ihnen entgegen. „Viel Spaß“, meinte der Eine. „Da vorne liegt ein Baum auf dem Weg und es wird steil.“ Susanna und Ulrich marschierten weiter, Ulrich benutzte die zusammengerollte Matte als Krücke. „Ich kann die Steine noch erkennen, aber die Erde löst sich fast auf. Ist hier nicht irgendwo ein Geländer?“ „Nein Schatz“, sagte Susanna. „Zurück können wir nicht mehr.“ „Hätten wir wenigstens Vollmond“, seufzte Ulrich, denn die Mondsichel lag wie eine hauchdünne Messingscheibe über den Fichten und strahlte kaum Licht ab. Dann stießen sie an den Baum. Er lag quer über dem Weg und sie mussten durch Steingeröll um ihn herum krabbeln. Ulrich kam außer Atem und keuchte, lehnte sich mit dem Kopf an den Stamm und verschnaufte. Er trank einen Schluck Feuerstein, rauchte eine Zigarette und zog sich an den Felsbrocken entlang nach oben. „Wildnis ist ja gut und schön, wenn man ihr nicht ausgeliefert ist,“ nuschelte Ulrich.

„Susanna“, rief er, aber er hörte keine Antwort. „Susanna, Martin?“ Nichts. Vor ihm schien der Weg zu liegen, aber er konnte den Weg kaum von den Geröllhaufen unterscheiden und Nebel zog auf, waberte wie eine Gruppe durchscheinender Geister zwischen den Birken. „Martin“, rief er. Dann hörte er ein Heulen wie von einem Wolf, gefolgt von „Ulrich, Ulrich, hier oben.“ „Heute ist Walpurgis“, atmete Ulrich auf, froh, dass er seinen Freund nicht verloren hatte. Dann spitzte er die Lippen und heulte zurück. „Uuuuuh, Uuuuuh.“ Und wieder: „Ulrich, Ulrich, Ulrich. Uuuuuuh.“ Ulrich hastete, seine Erschöpfung schien vergessen, jetzt hörte er die Lautsprecheransagen einer Mittelalterband, das war der Hexentanzplatz, die härteste Wegstrecke lag wohl hinter ihm. „Uuuuuh, Ulrich“, heulte Martin wieder.

Lauter dröhnte es jetzt von dort, wo anscheinend das Festival stattfand, auf dem Gipfel im Osten. Doch dann, was war das? „Uuuuuh, Uuuuuh“, heulte es aus verschiedenen Kehlen aus dem Westen des Gipfels. Das war nicht Martin, und es war auch nicht der Wind. Dieses Heulen klang genau so real wie das von Martin. „Wölfe“, dachte Ulrich automatisch und ein Schauer lief ihm über den Rücken.

Dann beruhigte er sich: „Erstens gibt es seit dem 19. Jahrhundert keine Wölfe mehr im Harz, zweitens greifen Wölfe keine Menschen an.“ Das Heulen hielt an, und es handelte sich eindeutig um mehrere Heuler. „Vielleicht sind das die richtigen Walpurgisgänger, Neuheiden und Neuhexen, die dort die Mutter der Tiere verehren. Da sollten wir hingehen“, murmelte er und zog sich weiter an den Steinen entlang. Er orientierte sich jetzt an den Baumstämmen, denn außer den hellen Birken und den im Mondlicht silbern leuchtenden Steinen konnte er nichts mehr erkennen. Der Bach, in dem seine Füße steckten, das hätte auch eine Nebelschwade sein können und der Granitblock, der quer über dem Weg lag, ein Luftloch, in dem es zweihundert Meter bergab ging.

Er zog sich höher, von Baum zu Baum, und wieder hörte er das Heulen. Er hielt inne. „Das sind keine Menschen“, wisperte Ulrich. „Kein Mensch kann so perfekt das Heulen von Wölfen nachahmen. Hat vielleicht jemand heulende Wölfe aufgenommen und spielt das Tonband ab?“ Er verwarf den Gedanken sofort. Das hätte bedeutet, dass oben jemand saß, der wartete, bis Martin oder irgendwer anders anfing zu heulen. „So ein Quatsch“, schalt Ulrich sich selbst. „Vielleicht gibt es hier wieder Wölfe und keiner hat sie vorher gesehen“, flüsterte er und schüttelte erneut den Kopf über seine Unvernunft. „Die laufen dann bestimmt zum größten Event im Harz und setzen sich daneben.“ Er drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und nahm einen tiefen Schluck aus der Feuersteinflasche, sah sich um. Die Natur regte zu mystischen Fantasien an. Der Wind strich durch die Birkenzweige, als würden die Sylphen zum Tanzplatz ziehen, um die Hexen zu begrüßen, die Schatten zwischen den Baumwurzeln erweckten den Anschein dutzender Höhleneingänge zu den unterirdischen Städten der Erdgnome. Ein Ahorn war um einen Stein herum gewachsen, als sei das Holz erstarrte Lava. Seine Äste streckten sich in die Nachtluft wie Knochenfinger eines Greises. Dann ertönte erneut das Heulen: „Uuuuuuh“. Es vermischte sich mit dem Pfeifen des Windes zwischen Tannenzweigen, als käme ein fliegendes Heer vom Gipfel herab geweht zu ihm. „Keine Zeit zu träumen“, sprach Ulrich zu sich. „ich muss zum Tanzplatz, Martin und Susanna finden:“

Er gestand sich ein, dass er Angst hatte, unvernünftige Angst. „Ich bin ein aufgeklärter Mensch“, murmelte Ulrich. „Es gibt keine Elfen und keine Hexen und keinen wilden Jäger. Und es gibt im Harz auch keine Wölfe. Vielleicht halten da oben Gastwirte Hunde. Und die drehen durch wegen dem Lärm auf dem Festival.“ Er war dem Heulen näher gekommen, nah an der Hochebene und der Weg hatte jetzt ein Geländer, an dem er sich festhielt. Ihm schien jetzt, als würde er auf das Heulen zu gehen.

„Was ist, wenn die Hunde nicht im Zwinger sind“, fröstelte es ihn. „Und wenn sie sich aufregen und im Wald herum laufen, Rottweiler oder Dobermänner?“ Und hatte er nicht eben einen Schatten gesehen, der sich bewegte? Dort oben, zwischen dem Asthaufen? Wäre es bloß hell gewesen. In solch einer Harznacht, wenn der Wind unter die Lederjacke kroch und die vom Bier nassen Finger erstarrten, wenn der Wind zwischen trockenen Tannennadeln knisterte, schien einem Ortsfremden wie ihm wohl alles verzaubert? „Wie soll ich denn Susanna erklären, dass ich Angst vor ein paar Hunden habe, als erwachsener Mann, ist das peinlich.“ Aber er hatte Angst, das musste er sich eingestehen. Natürlich wusste sein Kopf, dass der Schatten kein Hund gewesen war, sein Bauch sagte ihm anderes. Er sagte: „Flieh, solange du noch Zeit hast. Such dir einen Baum und klettere hinauf, da können die Hunde nicht folgen.“ „Vielleicht sind das ja die Hunde Odins“, machte er sich über seine Angst lustig, aber es reichte nicht zur Beruhigung. Er dachte an die wilde Jagd und an den schwarzen Hund, in den sich der Riese Bodo verwandelt hatte. „Ein schwarzer Hund, ich höre Gespenster. Wahrscheinlich habe ich nur mit offenen Augen geträumt. Hier braucht man keine Tollkirsche, um Halluzinationen zu bekommen“, rationalisierte er. Aber es heulte wieder. Ein lang gezogener Laut von mehreren Wesen. „Vielleicht sind es Huskies. Die bellen nicht, sondern heulen. Aber sie greifen keine Menschen an. Mastinos oder Rottweiler heulen nicht, die bellen mit tiefer Stimme.“ Aber es hörte sich an wie Wölfe. „Ich spinne rum wie irgendein Hinterwäldler aus Martins Dorf, als wäre ich ein Redneck, der glaubt, die Todesfee Banshee würde kreischen, wenn der Wind weht. Wofür habe ich eigentlich studiert?“

Dann machte er sich klar, dass er nicht irre wurde und auch nicht zuviel getrunken hatte. Denn das Heulen war eine Realität, auch wenn Susanna ihm das bestimmt nicht glauben würde. Das Heulen war genau so wirklich wie die Kälte unter seiner Lederjacke und die Seitenstiche, genau so wirklich wie sein weißer Atem in der Frostnacht. Er nahm all seinen Mut zusammen und folgte dem Geländer. Weit vorn sah er Licht und konnte Gesangsfetzen hören, dazu eine elektronisch verstärkte Fidel. „Gleich bin ich da“, schnaufte er.

Dann durchdrang es ihn, als ob jemand mit einem Stück Kreide über eine Schultafel kratzte, als piekte jemand mit Nadeln in seine Ohrmuschel. Bilder von Tieraugen, die rot im Dunkeln leuchteten, verflossen mit Wagen zwischen Wolkenrissen, dabei pochte die Fidel wilder und wilder in seinen Ohren. Er verspürte einen Druck auf seinem Kopf wie Höhentaumel. Denn es heulte wieder, aber diesmal so, dass seine Knochen vibrierten und seine Knie weich wurden, aneinander klapperten. Die Haare auf seinen Armen sträubten sich, als wäre er ein Tier, dem Gefahr droht, als wäre er auf seine Urinstinkte zurück geworfen, wie ein früher Mensch in einem Wald, in dem es Tiere gab, die ihn fressen konnten. War er das selbst, oder waren das seine Beine, die ihn antrieben, den Weg zurück, weg von dem, was im Dunkeln auf ihn lauerte, weg von den Bestien, die ihn jagten. Er stolperte, die Flasche zersplitterte, dann richtete er sich wieder auf und lief, rannte, stolperte, lief und rannte, prallte mit dem Kopf gegen einen Felsüberhang. Das Heulen wurde ein wenig leiser, aber weiter laufen, rief es ihm zu, weiter, weiter, weiter. Da, ein Stück Erde für seine Füße, wie schnell er doch springen konnte, Erde, was für ein großer Sprung, der Wind rauschte durch seine Haare, es war, als würde er fliegen, doch warum lagen seine Arme nicht auf den Steinen, warum strampelten seine Füße in der Leere. War das der Flug der Hexen? War das eine Erfahrung der Walpurgisnacht.

Die Bergluft drang kalt und angenehm in seine Lungen, dann stoppte sein Sprung und es war, als hätte ein Zwerg eine Granittür vor ihm zugeschlagen. Ein Schmerz, als habe ein Germane mit einem Schmiedehammer auf ihn eingeschlagen, durchzog seine Schulter, seinen Rücken, seine Wirbelsäule. In seinen Schläfen pochte es von innen wie Gnome, die mit Spitzhacken das Erz aus dem Innern des Berges gewannen. „Susanna, Martin“, brüllte er. „Helft mir, helft mir, helft mir.“ Und immer noch hörte er das Heulen, das mit dem Wind in das Tal pfiff. Was wäre, wenn die alten Geschichten wahr wären und wirklich Geisterwesen in der Nacht der Nächte umhergingen? Warum hatte er bloß alles für lächerlich gehalten, was sich die Bergbauern erzählten? Wer hatte ihn bloß angegriffen? Er hörte ein Rauschen in seinen Ohren und Nachtgeschöpfe schienen ihn einzuhüllen und in das Reich der Mystik, in die Wunderwelt des Traumes zu führen. Dann das Leuchten. Waren das Irrlichter? Sie riefen seinen Namen. Nein, sie durften ihn nicht holen, nein, nein, nein. Er würde sich verteidigen. Die Lichter kamen näher und näher, sein Körper bäumte sich auf vor Schmerz, als er nach dem ersten trat. Dann tanzten Funken vor seinen Augen, dann wurde es schwarz und er sah Odin, den Göttervater auf einem schwarzen Hund durch eine mondlose Nacht reiten.

„Ulrich, Ulrich“, hörte er es wie aus weiter Ferne. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Es war weiß wie ein sonnenloses Licht in den Höhlen der Zwerge. „Ulrich, Ulrich.“ Er öffnete die Augen weiter. „Na, wachst du auf, Bloody Wanker, du Wilder.“ Das waren die Gesichter von Martin und Susanna. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst auf den Weg achten“, flüsterte Susanna ihm zu. „Da, da waren Hunde und Wölfe und Lichter, die, die haben geheult, sie wollten mich holen.“ „Die Feuerwehrleute wollten dich holen. Jemand hat ihnen Bescheid gesagt, weil du um Hilfe geschrieen hast. Du hast einem von ihnen in den Bauch getreten.“ „Aber, aber die Wölfe.“ „Auf dem Hexentanzplatz befindet sich ein Tierpark. Das Gehege der Grauwölfe grenzt direkt an den Bergweg. Sie haben uns geantwortet. Susanna und ich waren gestern Morgen im Park, als du noch in Narkose lagst. Es sind vier Wölfe. Ich habe noch ein paar Mal geheult, aber sie reagierten nicht. Wahrscheinlich haben sie gemerkt, dass ich nur so ein blöder Tierparkbesucher bin und kein Wolf“, grinste Martin. „Du hast Glück gehabt, Schatz. Du bist anscheinend vom Weg abgekommen und einen Geröllhang hinunter gestürzt. Aber drei Meter abschüssig vom Weg bist du gegen eine Schieferplatte geknallt. Die hat dich abgefangen, dabei hast du dir die Schulter und das Schlüsselbein gebrochen. Aber du hättest tot sein können. Darunter geht es hunderte von Metern in die Tiefe.“ „Oh Gott, was für ein Abenteuer“, murmelte Ulrich, blickte in die Zwergenkristalle, die sich in die Neonröhren eines Krankenhauszimmers verwandelt hatten, betastete seinen Gips und wusste, dass er diese

Walpurgisnacht nicht vergessen würde.

Wolfsfreiheit

„ [. . . ] Der überführte und daher als schuldig befundene Täter wurde in der Regel dem Kläger „ zur freien Verfügung“ übergeben. [. . . ]“

Jutta Nowosadtko, Scharfrichter und Abdecker

Das Eis knirschte, während der Müllerjunge mit seinen Stiefeln hinein trat. Ihm war es zu kalt für März, als würde die Sonne zu früh untergehen, als hielte der Winter die Welt in einem Gefängnis aus Frost. Doch die Märzenbecher leuchteten in der Dämmerung und die Vögel des Frühlings sangen im Gestrüpp. Die Glocke weit entfernt im Dorf hatte eben sechs geschlagen. Wurde es im Frühling zu schnell dunkel. Oder verschluckte der Wald das Licht?

Egal, der Junge musste Holz für die Mühle besorgen, und er riss die schneebedeckten Äste aus dem Haufen hervor, aus dem Haufen am Rande des Waldsees. Er lud sich die Äste auf den Rücken und machte sich auf den Heimweg.

Täuschten ihn seine Augen oder legte sich die Nacht bereits auf die Erde? Wo mochte der Weg sein? Er kannte diesen Weg im Schlaf; täglich ging er durch den Wald von der Mühle bis zur Stadt. Der Junge hörte den Schrei des Eichelhähers. „Eichelhäher rufen nicht in der Nacht“, flüsterte er.

Die „Hunde Gottes“, die Mönche des Dominik hatten die Region von Hexen gesäubert. Die Unholdinnen, die ihr Unwesen getrieben hatten, hatte das Feuer gereinigt. „Meine Angst ist unnötig,“ sagte sich der Junge. Doch den Weg fand er nicht. Zweige knackten unter seinen Füßen und peitschten ihm in das Gesicht. Außerdem hatte es zu schneien begonnen; nur wenige Meter reichte sein Blick.

Er lehnte sich an eine Kiefer und hielt inne. An manchen Tagen scheinen die Vögel zu singen als spielten sie auf Knochenflöten; an diesem Tag schienen ihn die Kieferzweige greifen zu wollen wie Geisterfinger. Die Wolken verzogen sich wie Hunde mit dem Blutgeifer der Tollwut im Maul, und dieser Wind. „Der Wind“, wisperte der Junge, „mir ist, als sänge er vom Tod.“ Die Nacht hatte die Dämmerung noch nicht verschluckt und er sah Schemen; dort, zwischen derbem Farngestrüpp. In der Ferne heulten Wölfe, als würden sie sich im Hunger sammeln, um die Schafe der Bauern zu reißen. Was knisterte dort im Farn?

Was sollte hier nur wehen außer dem Frühlingshauch, der nicht kommen wollte? Er hatte den Waldrand erreicht; und was ihm auf den Schultern lag wie ein Nachtkalb war nicht nur das Holz. Er drehte sich um und blickte in das Zwielicht zwischen den Ebereschen und Wildpflaumen. Es raschelte, schon wieder, dieses Dämmergezücht.

Kroch ihm etwas aus dem Wald hinterher? Der Junge versteckte sich hinter einem Brombeerstrauch und beobachtete den Waldrand. War da nicht ein Blick, ein Augenleuchten, oder verwirrte ihn nur der aufkommende Schaum der Nacht? „Es mag ein Reh sein oder ein wildes Schwein“, beruhigte sich der Junge, drehte sich um und ging den Weg zur Mühle, einen Weg, auf dem der aufblühende Mond jetzt die wundersamsten Nachtpflanzen erschuf.

„Doch, da war etwas.“ Er zitterte, ein Schatten war über den Weg gehuscht und verbarg sich in den Büschen, die das Feld vor dem Wind schützten. Die Bauern hatten ihm oft vor der Nachthexe gewarnt, die dem Wanderer auf einsamer Flur auflauerte, von den Irrlichtern, den Seelen der im Moor Ertrunkenen. „Wenn ich auf dem Weg bleibe, kann mir nichts passieren“, flüsterte der Junge zu sich selbst.

Die Neugier siegte und Schritt für Schritt schlich der Junge zu der Stelle, wo der Schatten den Weg gekreuzt hatte. Die Nacht hüllte die Felder in ihren Schleier und er konnte nur Schatten zwischen Schatten erkennen. „Gütiger Gott“, stöhnte der Junge und bekreuzigte sich. Frische Spuren führten durch den Schnee in die Holunderbüsche: das waren nicht die Spuren von wilden Schweinen oder Hirschen, nicht die von Wolf oder Luchs, sondern die Abdrücke von Schuhen. „Hätte ich wenigstens ein Messer dabei,“ flüsterte der Junge. Er hörte den Schlag seines Herzens, so laut, so verräterisch für das, was dort zwischen dem Holunder lauerte. „Ist das die Holunderfrau, von der mir meine Mutter erzählt hat. Die Stadtherren sagen, sie sei ein Geschöpf des Leibhaftigen, eine Hexe, eine Striga, ein Dämon, der ungetaufte Kinder kocht und Salbe aus ihnen bereitet. „Ihr in die Fänge zu geraten, ist schlimmer als der Tod“, zauderte der Junge.

Dem Jungen stockte der Atem. Ein Schrei, Krak, Krak. Ein Eichelhäher. Den schickten die Hexen doch als Spion aus. Das hatte ihm seine Mutter erzählt. Und aus der Ferne heulten die Dämonen zurück wie Wölfe. Die Wölfe waren Geschöpfe

des Teufels. Das wusste er vom Pfarrer. Und die Eulen? Wenn sie Hexen in Tiergestalt waren? Hatte das Holunderweib ihn in ihr Spinnennetz geflochten, würde sie ihn in ihrem Topf kochen?

„Herr im Himmel, ich will noch nicht sterben. Erbarme dich meiner Seele,“ seufzte der Junge. Die Holunderzweige schienen sich zu verkrampfen wie knotige Finger alter Männer. Das Licht des Mondes glitzerte silbern über dem feuchten Gras vor den Büschen und erweckte den Anschein einer Grenze des Heils vor dem Bösen, das sich im Dunkel versteckte. Und dort, im Dunkel bewegte es sich, der Junge hörte den flachen Atem eines Wesens. Dann knackten Äste unter der raschen Bewegung eines Körpers.

Der Müllersohn sprang einen Armbreit zurück, stolperte, fiel mitsamt seinem Reisigbündel auf das Gras. Bevor er sich wieder aufgerichtet hatte, hechtete es sich aus dem Gestrüpp. Tief lagen die Augen, ein Gesicht konnte der Junge kaum erkennen, nur eine große Nase ragte zwischen schwarzem Haar hervor, zwischen Haar, das das Gesicht bedeckte, Haare, die wie Beine einer Riesenspinne über Rücken und Bauch fielen, als wären sie lebendige Kreaturen. Das Wesen ging auf ihn zu, langsam, es hatte zwei Beine – wie ein Mensch. Der Junge schrie und bekreuzigte sich: Diese Augen, diese Haare wie Holzkohle, das musste eine Figur des Leibhaftigen sein. „Vater unser im Himmel,“ stammelte er, in Angst erstarrt. Das Wesen trat näher und streckte seine Klauen aus, oder waren es doch Hände? Der Müllersohn schloss die Lider und betete. Dann roch er den fauligen Atem der Bestie. „Bist du ein Wesen aus der Hölle?,“ fragte er.

Ein Stöhnen drang in seine Ohren: „Kannst du mir zu essen geben?“ Der Junge öffnete zaghaft die Augen. Die Haare hingen über sein Gesicht und ein anderes Gesicht zeichnete sich vor dem Zwielicht ab, hier am Waldrand. „Ich habe Hunger,“ zischte der, der im Dämmerlicht stand. Der Müllerjunge sah einen Blick, ein Augenleuchten, zwischen Farndickicht und dann fragte er: „Du bist kein Dämon?“ „Ich bin ein Mensch wie du,“ antwortete der Andere. Der Junge öffnete seine Augen ganz und er blickte in Augen, in müde Augen, in Augen, die von Erschöpfung kündeten. Aber es waren die Augen eines Menschen, eingerahmt von einem Bart, der bis auf die Brust wucherte und mit Kletten, Zweigstücken und Grashalmen übersät war. Die Kleidung des Mannes bestand aus Lumpen, hier und da mit Moos ausgepolstert.

Der Müllersohn stand auf. „Warum versteckst du dich im Gebüsch?,“ fragte er den Fremden. „Hast du etwas zu essen?,“ fragte der ihn. „Ich weiß nicht.“ „Kannst du mir etwas geben, ein Brot oder ein wenig Haferbrei?,“ bat der Mann. „Hast du denn nichts?“ „Ich esse, was unter Regenwolken bleibt, Mäuse, Würmer, im Winter auch Flechten. Manchmal verfängt sich ein Reh oder ein Hase in meinen Schlingen. Bussarde und Schnepfen sind meine Gefährten. Ich höre das Wimmern des Rehs und die Wasserstellen teile ich mit den wilden Schweinen, vor zwei Mondphasen riss mir eine Bache das Fleisch an der linken Wade auf, als ich versuchte, einen Frischling zu erbeuten.“ „Warum?“

„Gib mir zu essen, dann erkläre ich es.“

Der Müllerjunge zauderte: „Aber sag, lebst du im Wald?“ „Ich bin auf der Flucht, seit Jahren. Niemand lebt noch, der mir Obdach gewähren könnte. Ein paar Bäume, Büsche, ein Platz, um mich zu verstecken, das reicht, wenn man flieht. Drei Zehen froren mir ab, aber das, was über ist trägt meinen Körper, zwingt ihn, sich weiterzuschleppen, Meter um Meter, denn keine Stadt würde mich dulden, ohne mich dem Henker auszuliefern. Kein Dorf kann ich betreten, ohne den Schergen gereicht zu werden. Anfangs, nachdem es mir gelungen war, meine Ketten abzustreifen, da schlich ich mich des Nachts in ihre Nähe, suchte, von den Abfallhaufen zu essen, da ein Knochen, den ich den Hunden entriss, ein andermal faulige Salatblätter. Die Zeit hat Spuren hinterlassen. Meine Zähne sind ausgefallen, außer einem Backenzahn, einem Schneidezahn und einem Eckzahn; meine Fingerhaut ist gerissen.“

Der Müllerjunge schwieg und gab dem Fremden sein Brot. Der stürzte sich darauf, als sei es ein Festmahl am Hof von König Johann, schlang es hinunter wie ein Wolf.

Nach einer Weile begann der Junge zu sprechen. „Und ich dachte, mein Leben wäre hart. Wo ich tagaus tagein arbeiten muss, Getreide mahlen, das Wasserrad bedienen, wenn sich Pflanzen und Schlamm verheddert haben, Tag und Nacht am Mühlstein stehen, aber zumindest habe ich ein Bett, wenn es auch eine Pritsche ist und einen Ort, von dem ich weiß, dass ich dorthin gehöre. Ich habe Mitleid mit dir, du armer Mann.“

„Du brauchst kein Mitleid zu haben. Diese Art des Überlebens im Walde ist die einzige, die mir noch vertraut ist. Selbst wenn ich wollte, möchte ich nicht in das Dorf zurück, in dem ich aufgewachsen bin. Das Leben ist hart, aber ich kenne die Gesellschaft nicht mehr. Das hier draußen, das ist einfacher. Es gibt keine Freunde und keine Feinde. Es gibt nur Beute, wenn ich hungrig bin und Beobachtung, wenn mein Magen gefüllt ist. Die Tiere scheinen das ähnlich zu sehen. Vor Bären muss ich mich in Acht nehmen, aber die haben ihre Wege, und wenn ich vorsichtig bin, störe ich sie nicht. Die Wölfe fürchten sich vor mir, bin ich doch einer von ihnen. “

„Du bist kein Wolf. Du bist ein Mensch. “ „ Frag mal die Leute im Dorf, frag die Menschen in der Stadt. Die werden dir die Antwort geben. Spätestens, wenn sie dich greifen, weil du Kontakt mit mir aufgenommen hast, wirst du sehen, dass ich für sie ein Tier bin, ein Wolf, der außerhalb ihrer Häuser und Herden lebt. Ich bin wie ein Wolf ein Jäger und Gejagter zugleich. Hast du die Fallen gesehen, die vergifteten Stücke Pferdefleisch, die Wolfsangeln, die in den Bäumen hängen? Es sind Fallen für die Wölfe. Sie haben die gleiche Freiheit wie ich, die Freiheit, dass jeder sie töten kann, wo immer er sie findet. Mein Leben ist ein Schwert, auf dessen Schneide ich tanze. Vielleicht halte ich es noch einen Sommer durch, vielleicht auch zwei. Bisher kann ich meinen Schmerz noch mit Tollkirsche und Stechapfel betäuben. Aber das wird nicht mehr lange der Fall sein. Meine Kraft ist nicht mehr stark wie in dem Winter, in dem ich fortgelaufen bin. “

„Von wo bist du fortgelaufen?“ „Ich war Leibeigener, Sohn des Heinrich Bettlach, Eigentum des Grafen Balthasar.“ „Warum bist du weggelaufen? Wir alle haben unseren Platz in Gottes Welt und dürfen ihn nicht verlassen.“ „Platz in Gottes Welt? Ich hatte eine Braut und der Graf nahm für sich das Recht der ersten Nacht in Anspruch. Aber meine Braut und ich wollten nicht, dass dieser geile Ziegenbock sie besteigt und sagten Nein. Er hetzte seine Hunde auf uns. Sie zerrissen mein Minchen, ich konnte fliehen. Jetzt bin ich ein Wolf, ein Geächteter. Ich werde niemals in die Knechtschaft zurückgehen können, selbst wenn ich wollte. Wenn du vogelfrei bist, Junge, dann erkennen sie dich, in jedem Dorf und in jeder Stadt. Es gibt Wege in den Wäldern und noch einige wenige, die diese Wege kennen. Aber auch meine Jäger werden diese Wege kennen lernen. Ich sehe es an den Wölfen. Einige verstecken sich, bleiben unerkannt, schleichen sich in das Dorf und reißen ein Schaf oder ein Kalb. Doch für jedes Schaf, das im Dorf von einem Wolf geraubt wird, sterben dutzende von Wölfen. Ich habe sie beobachtet. Aber ich gehe nicht mehr in das Dorf. Es ist im Wald ungefährlicher. Die Schritte sind sicherer. Ich höre meine Jäger, bevor sie mich hören und ich verstecke mich. Noch geht es. “

„Ich mag dich gerne. Wenn du willst, dann werde ich dir Brot bringen, damit du nicht Hunger leiden musst. “

„ Aber sie vorsichtig Junge. Hier, das schenke ich dir. Ich weiß nicht, ob du lesen kannst, ich brauche das nicht mehr. Ich glaube nicht mehr an ihren Gott. Wenn ich tot bin, dann ist nichts mehr. Ich weiß, dass ich noch einige Zeit habe und genauso ende wie die Wölfe in den Gruben mit den Holzpfählen. Versteck dieses Buch, ich habe es meiner Herrin gestohlen.“ Der Mann, der wie die Wölfe lebte, überreichte dem Jungen eine Bibel.

„Ich kann nicht lesen, wilder Mann.“ „ Dann lern es. Ich habe es auch gelernt. Oder dachtest du, dass sie in der Grafschaft den Leibeigenen das Lesen beibringen. Wenn sie gewusst hätten, dass ich es mir beigebracht habe, dann hätten sie mich damals schon getötet. Nun, ich lebe noch, von Augenblick zu Augenblick. Ich habe Waffen, und ich kann kämpfen.“ Der Mann aus dem Wald zeigte dem Jungen einen Bogen und einen angespitzten Stock. „ Ich werde mich verteidigen und bis dahin leben. Ich muss gehen Junge, und du gehst besser auch. Hörst du es?“

Der Junge hörte das Bellen von Hunden in der Ferne. „Die Jäger werden bald hier sein mit ihren Hunden,“ meinte der Mann.

„Du hast nichts getan. Der Graf hat deine Braut ermordet, nicht du.“ „Glaubst du, ein Leibeigener bekommt Recht vor einem Adligen. Geh nach Hause, Junge. Mein Unterschlupf ist zwischen den beiden großen Weiden am See.“

Der Mann rollte sich, kroch vorsichtig auf allen vieren über das Trockenholz und schlängelte sich durch das Gras am Wegesrand, lief dann in ein Tannendickicht.“ Dann war er verschwunden und der Junge blieb allein.

Er ging zu seiner Mühle. Der Vater schlief längst. Der Junge legte sich auf seine Pritsche und dachte noch lange an den Mann, der wie ein Wolf lebte. Er blätterte in dem Buch und betrachtete die ihm fremden Zeichen.

Zeit verging, bis der Junge in der Mitte des Aprils wieder in den Wald kam. Jetzt blühten die Krokusse und das Leben war aus dem Winterschlaf erwacht. Der Junge fand das Loch, eine Beinlänge über der Wasseroberfläche. „Ich bin es, der Müllerjunge. Bist du da?,“ rief er. Doch es kam keine Antwort.

„Der Mann wird auf der Jagd sein“, dachte der Junge und legte ein Brot vor das Loch. Er machte sich mit seinem Klepper und einem Wagen voll Mehlsäcken zur Stadt auf. Er kam an den Stadtwachen vorbei, wankte über die Trittsteine, wich dem Unrat aus und gelangte zum Marktplatz. Mühsam kämpfte er sich seinen Weg durch die Menge und kam zu seinem Stand.

Alle waren da, der Bürgermeister, die Schöffen, die Bürger, die Knechte, die Schreiber, die Handwerker. Unruhe bewegte die Menge. „Liebe Leute, ihr braucht keine Angst mehr zu haben. Ihr seid jetzt in Sicherheit. Gott bleibt nichts verborgen und kein Verbrechen gedeiht unter seiner hütenden Hand.“ Der Müllerjunge verstand nicht, was den Aufruhr verursacht hatte.

Der Müllerjunge hielt einen Bettler am Ärmel fest: „Sag mir, was ist los. Warum sind die Menschen so in Aufregung?“ „Ich weiß es auch nicht. Einige hohe Herren kamen gestern mit einer Kutsche in die Stadt. Es sind Priester, glaube ich. Sie beratschlagen irgend etwas von Bedeutung. Aber hast du vielleicht noch einen Groschen für mich?“

„Nein,“ sagte der Junge. Später fragte er einen Bäcker, der ihm einen Sack Mehl abkaufte, nach dem Grund für den Volksauflauf.

„Die hohen Herren vom Gericht weilen heute in der Stadt Landshut und warten auf den Scharfrichter Georg Trenckhler, ein Meister seines Faches. Sie haben eine Hex gefangen, aber die Hex gesteht ihren Schadenszauber nicht, denn Satan schützt die Striga. Unser Scharfrichter, Peter Nußberger, soll die Haare geschoren und das Nachtgespenst mit Weihwasser gewaschen haben. Georg Trenckhler ist bekannt dafür, die Zauberer zum Geständnis ihrer Verbrechen zu bringen. Die Hex soll sich mittels eines Gürtels aus Tierfell, den der Herr der Hexen, der Leibhaftige, gab, in ein wildes Tier verwandelt, Vieh und Kinder gefressen zu haben.“ „Aber werter Herr, ich dachte, die Hunde Gottes hätten die Hexen in unserer Region längst besiegt.“ „Das Böse, Junge, das Böse kennt viele Wege und die Teufel halten sich in der Finsternis versteckt.“

„Aber wie kann man sich vor ihnen schützen. Indem du dem Wort Gottes folgst, wie es geschrieben steht im Buch der Bücher.“ „Aber ich kann nicht lesen.“ „Dann geh in die Kirche und lausche den Worten des Predigers.“

Diesmal wollte er vor der Dämmerung zuhause sein, denn er hatte Angst. Wie hielt es bloß der Mann aus in einem Wald, in dem immer noch Hexen und Nachtgespenster ihr Unwesen trieben und kleine Kinder fraßen. Sie konnten überall sein. Die Krähen, dort am Himmel, wer sagte ihm, dass es keine Späher der Hexen waren. Und dort, ein Kreuzweg. Dort sollten sich die Hexen und Vampire in der Nacht treffen. Fliegenpilze, mit denen brauten Hexen ihren bösen Trank zusammen. Der Junge zuckte bei jedem Geräusch zusammen.

Heute fühlte er sich gerettet, als er in die Mühle kam, legte sich auf die Pritsche und drückte das heilige Buch fest an seinen Körper. Da, es knisterte wieder unter seinem Bett. War das vielleicht einer der Kobolde mit den Glubschaugen, einer von denen, die auf Mäusen ritten? Irgendwann fielen ihm die Augen zu. Er erwachte im Morgengrauen, ja, er musste schon wieder in die Stadt und hatte unruhig geschlafen. Denn in seinem Traum hatten sich Hexen in Katzen und Eulen verwandelt, ihm das Blut aus dem Hals gesaugt, sein Herz aus der Brust gefressen, hatten Schlangen dort, wo sie Arme hätten haben müssen und Mäuse mit roten Augen und Fangzähnen.

Der Müllerjunge spannte das Pferd ein und schleppte die Säcke auf den Wagen, setzte sich und fuhr los, durch den Wald, den Weg entlang. „Wie hält das bloß der Mann im Wald aus? Warum tun ihm die Unholde nichts?,“ fragte er sich und atmete durch, weil es endlich Tag war, die Zeit der frommen Christen. Er kam zum Stadttor und erhielt Einlass, fuhr beim Ratskeller vor. „Was brauchen die so viel Mehl?,“ dachte er sich. Dann sah er die Waffenknechte, die einige Bürger zur Seite drängten. „Platz für den Scharfrichter Georg Trenckhler, Platz, Eine Kutsche, fast wie die eines Adligen, fuhr vor. Die Knechte öffnete die Tür und ein Mann trat heraus, rückte sich einen roten Hut mit weißen Federn zurecht, rückte einen blonden Schnurrbart gerade und richtete einen schwarzen Rüschenkragen..

„Los, bring schon das Mehl hinein, das Brot für Herrn Trenckhler muss schnell zubereitet werden, er wartet nicht gern,“ wies ihn der Fronbote an. Der Müllerjunge packte die Säcke auf die Schultern und brachte sie in die Bäckerei unterm Ratshaus. Es musste wahrlich ein hoher Herr sein, denn im Speisesaal drehte sich ein Ochse am Spieß, die Silbertabletts quollen über vor gebratenen Hühnern und Gänsen, ein ganzes Schwein mit Apfel im Maul saß in der Mitte der Tafel. Der Junge steckte das Geld ein, was er für das Mehl bekommen sollte und fuhr mit seinem Einspänner in die Stadt hinaus. Im Wald kam er auf die Idee, noch einmal nach dem Mann zu sehen. Er schlich zu den beiden Weiden und rief. Niemand antwortete. Brotstücke lagen umher, aber sie sahen aus, als habe ein Rabe an ihnen gepickt, nicht ein Mensch gegessen. Er konnte die Buchstaben seines Namens und wollte dem Mann eine Nachricht hinterlassen. Er ritzte in einen Ast Müller Jörg und legte ihn so vor die Höhle, dass der Mann ihn nicht übersehen konnte.

Er kam nach Hause, wartete die Mühlenräder, brachte das Mehl in die Säcke und fing von seinem Vater die obligatorischen Schläge ein. Erst spät am Abend kam er zu Ruhe. Heute hatte nicht so viel Angst, sondern vertraute darauf, dass das heilige Buch ihn schützen würde. Draußen vor dem Ölpapier kratzte etwas, aber er wusste, wenn er nur fest an Gott glaubte, würden ihn die Hexen nicht holen können.

Am nächsten Tag hatte er frei, denn das Mehl war abgefüllt und sie hatten in einer Woche mehr verkauft als sonst in einem Monat. Sonst hatte er an seinem freien Tag geschlafen, aber der Gedanke an den Scharfrichter, der sich kleidete wie ein Edelmann, ließ ihn nicht los und gegen Nachmittag schlich er sich zur Stadt. Auf dem Marktplatz tummelte sich eine Menge und der Fronbote stand auf einem Podest neben einem Stapel getrockneten Holzes, an den jemand einen Pfahl befestigt hatte. Morgen, in der Stunde, nach Sonnenuntergang wird der Scharfrichter Georg Trenckhler das heilige Urteil ausführen.

Eine wirkliche Hexe hatte er noch nie gesehen. Das durfte er sich nicht entgehen lassen. Aber er musste arbeiten. „Hm, der Alte schläft immer länger, und wenn ich schnell laufe, bin ich zwei Stunden nach Sonnenaufgang zuhause. In der Dämmerung fand er einen Platz im Heuhaufen eines Pferdestalls und legte sich schlafen. Er blieb ganz ruhig, hier in der Stadt waren die Mächte des Bösen verbannt. Die Nachtgespenster trauten sich nicht aus dem Wald.

Der Junge erwachte, als das Morgenrot auf der Stadtmauer glühte. Die Wachenknechte bewachten den Holzhaufen. Dann trat der Scharfrichter mit weit ausholenden Schritten auf das Podest. In rechten Hand hielt er eine Zange, in der linken einen Eimer mit glühenden Kohlen. Mehr und mehr Menschen kamen auf den Platz, der Bürgermeister, der Schmied, der Apotheker, der Barbier, die Hebamme.

Dann verlas der Stadtrichter das Urteil: „Jacob Bettlach gestand, vom Teufel einen Gürtel aus Wolfsfell bekommen zu haben, der ihm die Macht gab, sich in einen Wolf zu verwandeln. Als Wolf zerriss er seine Braut, Minerra Köster und stahl den Bauern Kühe und Schafe von der Weide. Auch trieb er grässliche Unzucht mit Wölfinnen, Hunden und Schweinen. Die männliche Hex, der Werwolf, ist zum Tode durch das Feuer verurteilt worden. Zuvor aber soll der Scharfrichter ihm das Fleisch mit Zangen aus dem Körper reißen, wie er es seiner Braut von den Knochen biss.“

Der Schinderkarren bewegte sich über den Platz, bewacht von zehn Waffenknechten. Leute sprangen zur Seite, als fürchteten sie sich vor dem Mann, der darin saß, eingesperrt in einen Holzkäfig. Der Wagen fuhr nah an dem Jungen vorbei. Dem stockte der Atem. Im Käfig saß keine Hexe, wie er gedacht hatte, sondern der Mann aus dem Wald oder das, was von ihm noch übrig war. Er konnte die Augen nicht öffnen, denn geschwollene Blutkrusten bedeckten sie. Kaum ein Teil seines Körpers schien keine Wunden aufzuweisen. Sein linker Arm hing schlaff hinunter, er war gebrochen. Die Hände konnte der Junge kaum noch erkennen, sie waren ein Brei aus Fleisch, Blut und Knochen, die aus der Haut hervorstaken.

Der Wagen hielt am Podest und die Waffenknechte zerrten den Gefolterten hinauf, pressten ihn auf den Boden. Der Scharfrichter holte seine Zangen aus der Glut und riss Fleisch aus dem Körper. Der Arme hätte wohl geschrieen, aber Blut sprudelte nur aus seinem Mund, der Junge sah genau hin, der Mann hatte keine Zunge mehr. Der Scharfrichter riss Fleisch aus den Armen, von den Schenkeln und zuletzt riss er ihm den Penis und die Hoden hinaus. „Der Werwolf wird nie wieder Unzucht treiben,“ rief der Scharfrichter. Die Gliedmaßen des Verwundeten zuckten wie ein letztes Aufbäumen eines lebendigen Menschen.

Dann trugen die Knechte den Körper zu den Holzscheiten, richteten ihn am Pfahl auf, entzündeten das Feuer. Das Gesicht des Mannes aus dem Wald verzerrte sich. „Was müssen das für Schmerzen sein;“ murmelte der Junge. „Er ist unschuldig.“ Es stank, ähnlich wie ein gebratenes Schwein, aber es war kein Schwein, sondern ein Mensch.

Die Flammen schlugen hoch und der Rauch lag über der Stadt. Irgendwann hatte der Brand ein Ende. Wo vorher ein Mensch gestanden hatte, befand sich nur noch verkohltes Fleisch. Die Menge begann, sich zu zerstreuen, da betrat der Fronbote noch einmal das Podest: „Sogar Georg Trenckhler, ein Meister seines Mund des Teufelsanbeters nicht die Namen der Komplizen entlocken können. Aber wir fanden einen Beweis in der Höhle des Unholds.“ Der Fronbote hielt einen Ast in die Höhe, den Ast, in den der Junge seinen Namen geritzt hatte. „Die Waffenknechte sind unterwegs, um den Komplizen des Teufelsbündners, mit dem er seine Schandtaten beging, zu fassen.“

Der Junge schlich sich zu dem Pferdestall, in dem er letzte Nacht gelegen hatte. Das war zuviel. Der Mann war unschuldig und ihn erwartete das gleiche Schicksal. Wo war der Herr des Himmels geblieben. Er lag unter dem Heu, bis es dunkel wurde. Dann kroch er über die Stadtmauer. Die Eulen buhten und die Fledermäuse flatterten zwischen den Bäumen umher. Doch diesmal hatte er keine Angst vor den Nachtgespenstern. Denn sie konnten nicht so schlimm sein wie das, was Menschen Menschen antaten. Und er hörte die Wölfe in der Ferne heulen, aber auch vor ihnen fürchtete er sich nicht mehr. Er verbarg sich im dichtesten Farngestrüpp.

Die Sonne ging auf, der Junge beugte sich in das Wasser des Waldsees, um zu trinken, da hörte er aus der Ferne Hundegebell. Es kam von mehreren Seiten, und es wurde lauter. Der Junge nahm einen Stein auf, denn er würde kämpfen und er dachte an jemand, für den die Sonne nicht mehr schien.

Vampirfledermäuse

Ich genoss es, nach meiner Vortragsreise durch die Universitäten Europas, nach Anfeindungen von Theologen und Lesungen unter Polizeischutz, endlich am 31.10. einen freien Abend zu haben. Die Halloweenparties mit ihren Plastikkürbissen, Leuchtstoffspinnweben und verkleideten Langweilern hatten auch in Deutschland Einzug gehalten und entsprachen überhaupt nicht meinem Niveau; so hatte ich den Weg zum Tropenhaus in der Herrenhäuser Gartenanlage in Hannover genommen. Dort hielt Professor Müller vom Institut für Zoologie einen Vortrag zu meinem Leib- und Magenthema, über die Vampirfledermäuse Südamerikas.

Die Veranstaltung war mäßig besucht und Müller hatte seine Power Point - Präsentation bereits begonnen, als ich mich setzte:

„Vampirfledermäuse sind die einzigen Säugetiere, die sich auf Blut als Nahrung spezialisiert haben. Die häufigste Art ist der Gemeine Vampir, Desmodus rotundus. Sein Beutespektrum reicht von Säugetieren und Menschen bis zu Vögeln. Diaemus youngi, der Weißflügelvampir, bevorzugt Vögel, greift auch Säugetiere an, der Kammzahnvampir, Diphylla ecaudata, ist auf Vögel als Beute spezialisiert.“

Ich hatte beschlossen, nichts zu sagen, aber konnte mich nicht zurückhalten: „Der Wissenschaft ist noch eine vierte Art bekannt, die sich genetisch von Desmodus rotundus abgespalten hat, Desmodus raptor, an der das erste Mal der Genraub nachgewiesen wurde.“

„Ich habe davon gehört“, antwortete Müller, „werde mich aber heute mit diesem Phänomen nicht auseinander setzen. Ich möchte Sie bitten, Einwände am Ende des Vortrags zu formulieren.“ Er fuhr fort:

„Vampirfledermäuse bevorzugen als Bissstelle Körperbereiche, die von ihnen leicht erreicht werden können. Bei Rindern hängen sie sich an den Widerrist und beißen seitlich des Halses; beim Angriff vom Boden aus bevorzugen sie die Region oberhalb der Hufe, bei liegenden Tieren Vulva oder Euter. Vor dem Biss wird die Haut durch Lecken eingespeichelt. Danach wird eine Hautfalte zwischen die rasiermesserscharfen Schneidezähne geklemmt und ruckartig ein Hautlappen abgetrennt. Das austretende Blut wird aufgeleckt. Dabei wird die Zungenspitze zwei- bis viermal pro Sekunde in die Wunde getaucht. Das Blut wird entlang zweier Rinnen zwischen Zungenunterseite und Mundboden in den Rachen transportiert. Pro Mahlzeit werden ca. 20 ml Blut getrunken; der Fressvorgang dauert 20 bis 25 Minuten. Da Antikoagulantien im Speichel enthalten sind, blutet die Wunde über eine Stunde lang nach. Das Blut wird im Magenblindsack gespeichert. Die Nieren arbeiten sehr effektiv; nach Beginn der Blutmahlzeit setzt die Diurese ein und ein großer Teil der Flüssigkeit wird ausgeschieden, ehe die Mahlzeit beendet ist, und die Fledermaus ins Tagesquartier fliegt. Desmodus bewegt sich, im Gegensatz zu fast allen anderen Fledermäusen, sehr geschickt und wendig auf dem Boden. Der extrem große Daumen besitzt unterseits drei Polster, die beim Laufen als Sohlen fungieren. Vampirfledermäuse sind auch in der Lage, aus dem Stand ca. 50 cm hoch zu springen. Der Flug ist schnell, bis 5 m/s, und geradlinig. Der Gesichtssinn erlaubt es den Vampirfledermäusen, sich beim nächtlichen Ausflug anhand optischer Landmarken, wie der Silhouette von charakteristischen Bäumen oder Bergzügen, zu orientieren, und damit die geringe Reichweite der Echoortung zu kompensieren. Die Schädigung, die ein größeres Beutetier durch den Biss und den Blutverlust erleidet, ist zumeist gering. Allerdings legen Fliegen gern ihre Eier in die Wunden, was zu großen Geschwüren führen kann. Eine beträchtliche Gefahr besteht durch die Übertragung von Krankheiten beim Beißen und Blutfressen. Vor allen der von den Vampirfledermäusen übertragenen Paralytische Tollwut - Derriengue - fallen jedes Jahr Haustiere, aber auch Menschen zum Opfer.

In allen südamerikanischen Ländern werden die Vampirfledermäuse bekämpft. Meist werden Antikoagulantien z.B. Diphenadion in Vaseline, auf den Rücken gefangener Desmodus gestrichen, und diese wieder frei gelassen. Zurück im Tagesquartier werden diese Tiere von den Koloniemitgliedern sauber geleckt und dadurch die gesamte Gruppe vergiftet.“

Jetzt musste ich mich doch wieder einmischen:

„Der Grund, warum die Indianer Venezuelas die Raubfledermaus, Desmodus raptor, bis zur Ausrottung bekämpften und es heute nur noch eine einzige Kolonie dieser Art unter Kontrolle des Instituts für Genraub der Universität Caracas gibt, liegt nicht an der Tollwut. Viele Fälle hat die Forschung in der Vergangenheit falsch interpretiert.“

Professor Müller reagierte genervt: „Wissen sie, das hier ist ein populärwissenschaftlicher Vortrag. Ich habe von den Theorien des Instituts für Genraub gehört. Das Publikum ist damit überfordert.“ Ich hielt den Mund und stand auf, wanderte allein durch das nächtliche Tropenhaus. Die falschen Vampire in dem Modell eines brasilianischen Küstenregenwaldes flogen in Scharen durch die Luft, saugten Nektar aus Orchideenblüten, falsche Vampire hießen sie, weil sie zwar mit den Blutsaugerfledermäusen verwandt sind, sich aber von Nektar ernähren.

Nach einiger Zeit kam ich zurück in den Vortragssaal. Dort referierte Müller über Fledermaus und Vampirmythos:

„Vampire verwandeln sich im Mythos in Fledermäuse; Dracula konnte sich in eine Fledermaus verwandeln. Fledermäuse schlafen tagsüber an Aufenthaltsorten des Vampirs. Seit Menschen Kulturen bilden, gehören Ruinen, Friedhöfe und Verliese zu ihren Ruheplätzen. Als aufgeklärte Menschen wissen wir, dass Fledermäuse diese Plätze aufsuchen, weil sie Schutz finden und ihre Sinnesorgane an die Dunkelheit angepasst sind. Eine Fledermaus am Tag ist so orientierungslos wie ein Mensch in einer mondlosen Nacht. Zu Bram Stokers Zeit war die Verknüpfung von Vampir und Fledermaus im Volksglauben noch lebendig. wie der Naturforscher Alfred Edmund Brehm 1864 erörterte: „Die Naturwissenschaft kann die abergläubischen Leute- denn noch heute gibt es der Natur entfremdete Unwissende (sic!), welche scheußliche Vampire zu sehen glauben - besser über die Frucht fressenden Fledermäuse belehren. Der Aufenthalt im Dunkeln, das Mäuseartige des Körpers, die dunkelhäutigen Flughände, sowie der abschreckende Gesichtsausdruck und die unangenehm kreischende Stimme der Fledermaus geben der Erscheinung etwas Unheimliches, was schon die Alten gefühlt haben mögen. Lindwurm und Drachen, jene Phantasiegebilde, hatten ihre Flügel von der Fledermaus entliehen, wie noch heute das Zerrbild des Teufels oder das Heer der bösen Geister, welche der heilige Ivan austreibt, in Gestalt von Fledermäusen erscheinen. Bei Erwägung ihres Nutzens verlieren diese Tiere schon vieles von ihrer Häßlichkeit, und wenn man die Sommerabende im Freien verbringt, erscheinen die Fledermäuse als eine freundliche Erscheinung der stillen Landschaft.“

Erneut konnte ich mich nicht zurück halten, denn wir waren zu völlig anderen Ergebnissen gekommen: „Herr Müller, sicherlich hat Aberglaube mit der Verfolgung der harmlosen Fledermausarten zu tun, das sind 99 von 100 Fällen. Aber in Südamerika stehen dahinter reale Erfahrungen, die mit dem Begriff des Vampirismus genau beschrieben sind. Allerdings sind diese Tiere alles andere als wandelnde Tote, denn das ist der christliche Kern in Europa, Himmel und Hölle, Gott und Teufel, dieses Kleinkinder - Denken. Der, nennen Sie es Vampirismus, der Raubfledermaus, ist Wirklichkeit.“

Müller war jetzt sehr gereizt:„Aber ich bitte Sie! Die Vampirfledermaus erhielt ihren Namen nach dem Vampir Osteuropas, nicht umgekehrt, und zwar, weil die Tiere sich von Blut ernähren.“

Er fuhr fort: „Alfred Edmund Brehm beschrieb das Aussehen der Fledermäuse: „In der Gesamtbildung stimmen sie am meisten mit den Affen (sic!) überein und haben wie diese zwei Brustzitzen. „Ihre Hände sind zu Flugwerkzeugen umgewandelt, während der Leib das geringste Maß an Größe hat. Unter allen Merkmalen ist die Haut das merkwürdigste, weil sie nicht nur die Körpergestaltung, sondern namentlich den Gesichtsausdruck bedingt und somit die Ursache wird, daß viele Fledermausgesichter ein geradezu ungeheuerliches Aussehen haben. Die Hautwucherung an den Ohren und an der Nase aber ist es, welche dem Gesichte sein absonderliches Gepräge und-nach der Ansicht der meisten wenigstens- seine Häßlichkeit gibt.“

Dann schlug er den Bogen und zitierte Stokers Dracula:

„Können sie mir sagen, warum es in den Pampas und anderswo Fledermäuse gibt, die zur Nachtzeit über Rinder und Pferde herfallen und ihnen das Blut bis zum letzten Tropfen aus den Adern saugen; warum es auf Inseln des Stillen Ozeans Fledermäuse gibt, die den ganzen Tag über, nach Beobachtung von Reisenden, wie ungeheuere Nüsse an den Bäumen hängen und zur Nachtzeit auf die Matrosen hernieder flattern, und dann - und dann findet man am Morgen tote Männer, weiß und blutleer wie Frau Lucy?“ „Großer Gott, Herr Professor“, sagte ich erschreckt auffahrend, „wollen sie damit sagen, dass Lucy das Opfer einer solchen Fledermaus wurde und dass ein solches Wesen im neunzehnten Jahrhundert hier in London vorkommen kann?“

Wie sie sehen, liebe Zuhörer, nutzte Bram Stoker das reale Vorbild der Vampirfledermäuse, um die Angst vor dem Blutsauger Graf Dracula aufzubauen, nicht völlig falsch, aber dramatisiert. Die kleinen Vampirfledermäuse können in der Realität keinem Menschen das gesamte Blut aussaugen. Maximal fühlt man sich nach einer Attacke etwas schlapp.“

Auch, wenn es Müller nicht schmeckte, ich wollte solche Halbwahrheiten nicht einfach stehen lassen:

„Stokers Problem war seine Halbbildung. Die Evolutionstheorie war zu seiner Zeit bekannt, aber seine Figur Van Helsing verlässt sich im entscheidenden Moment auf den Aberglauben. Das war feige. Mit der Evolutionstheorie wäre er der Sache näher gekommen. Das Van Helsing - Spektakel mit Kreuz und Pflock, dieser religiöse Blödsinn, verschleiert Tatsachen, auf die Stoker hätte stoßen können. Die Beschreibungen der Indianer lagen auf dem Tisch und an der von Ihnen zitierten Stelle kommt er der Wahrheit nahe, nur um danach die wissenschaftlich überholten christlichen Ladenhüter aus dem Schrank zu holen.“

Müllers Gesicht hatte die Farbe einer reifen Tomate angenommen: „Ihre Theorien sind anstrengend. Bram Stoker schrieb einen Roman und keine Doktorarbeit. Vielleicht möchten Sie das ja nachholen. Ich vermute allerdings, dass die entsprechende Fakultät in schallendes Gelächter ob ihrer Thesen ausbrechen würde.“ Einige Frauen im Publikum kicherten leise.

„Ich muss Sie enttäuschen, das habe ich längst hinter mir. Sie können ja die entsprechenden Artikel im Scientific American lesen, vorausgesetzt, Sie sprechen Englisch“; zischte ich und gab mir keine Mühe mehr, meine Verachtung zu verbergen.

Müller ging nicht auf die Spitze ein und trug weiter vor: „Brehm schreibt weiter: „Genaueres berichtet der Spanier Azara, welcher den Blutsauger „Mordedor“, zu Deutsch Beißer nennt. „Zuweilen“, sagt er, „beißen sie sich in den Kamm und in die Kinnlappen der schlafenden Hühner ein, um ihnen Blut auszusaugen, und die Hühner sterben daran gewöhnlich, zumal, wenn die Wunden, was fast immer geschieht, sich entzünden. Ebenso beißen sie Pferde, Esel, Maultiere und Kühe regelmäßig in die Seiten, die Schultern oder in den Hals, weil sie dort mit Leichtigkeit sich festhalten können. Dasselbe thun sie mit den Menschen, wie ich bezeugen kann, weil ich selbst viermal in die Zehen gebissen worden bin, während ich unter freiem Himmel oder in Feldhäusern schlief. Die Wunde, welche sie mir beibrachten, ohne daß ich es fühlte, war rund oder länglich rund und hatte eine Linie im Durchmesser, aber so geringe Tiefe, daß sie kaum die ganze Haut durchdrang. Man erkannte sie durch aufgetriebene Ränder. Meiner Schätzung nach betrug das Blut, welches nach dem Bisse floss, etwa dritthalb Unzen.“

Nun konnte ich nicht mehr an mich halten: „Azaras Expedition 1821 in die Gran Sabana in Südvenezuela war nicht mit den von Ihnen beschriebenen Arten konfrontiert. Einige Dutzend der großen Raubvampirfledermäuse mit einer Spannweite von 1,70 Metern griffen die Männer an, als sie sich gerade zum Schlafen gelegt hatten. Die indianischen Führer flohen vor den Angreifern in den Fluss und nutzten Schilfrohre zum Atmen; das rettete ihnen die körperliche Unversehrtheit. Brehm kannte die Unterschiede nicht. Einige Männer schlossen sich in einer Indianerhütte ein, die Biester konnten nicht eindringen.“ Müllers Tonfall nahm an Schärfe zu und er fuhr mich an: „Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie hier einen Vortrag halten und denke, dass das Publikum Ihre Suada als Belästigung empfindet.“

„Ich habe verstanden“, erwiderte ich trocken, nahm meine Sachen zusammen und ging hinaus.

Ich stand wohl um die zwanzig Minuten am eisigen Seerosenteich im Botanischen Garten vor dem Tropenhaus, als die ersten Vortragsbesucher an mir vorbei schlenderten. Viel später kam auch Müller, er zog sein Laptop in einem Rollwagen hinter sich her und hatte die Augen auf den Boden gerichtet. Darum stieß er fast mit mir zusammen, wie ich so ohne eine Menschenseele weit und breit am Brückengeländer stand.

„Entschuldigung“, murmelte er und blickte auf. „Sie“, grummelte er dann. Nach einer Weile räusperte er sich: „Hm, ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich war doch etwas harsch vorhin. Aber wissen Sie, der Vortrag war für ein zwar interessiertes, aber doch ein Laienpublikum gedacht. Wie kommt es, dass Sie sich mit den Forschungen der Universität von Caracas so gut auskennen, deren Ergebnisse einen Konflikt zwischen Wissenschaft und Christentum ausgelöst haben wie das letzte Mal die Veröffentlichung der Darwinschen Evolutionstheorie?“

Ich drückte Müller meine Visitenkarte in die Hand und freute mich über seinen erstaunten Blick: „Ist das Ihr Ernst? Sie sind der Victor Mafuente, dem der Erzbischof von Caracas angedroht hat, er würde auf ewig in der Hölle braten und dessen Bücher Wiedertäufer in Nevada öffentlich verbrennen?“

„Das ist richtig“, sagte ich. „Ich habe das Institut in Caracas gegründet. Die Religiösen, die an eine unsterbliche Seele glauben und an die Schöpfungslehre hassen mich zu Recht. Ausgehend von der Raubvampirfledermaus haben wir nachgewiesen, dass viele ihrer Vorstellungen, so genannte ruhelose Seelen, Werwölfe, Zentauren und andere Tiermenschfiguren auf biologischen Realitäten, auf Veränderungen der genetischen Struktur basieren. Wir haben bewiesen, dass es in der Natur das Phänomen des Genraubs gibt, demgegenüber genmanipulierte Pflanzen Stümpereien sind.“

Seine Augen weiteten sich: „Wir Zoologen in Deutschland erlauben uns darüber noch kein Urteil. Wenn ich Sie recht verstanden habe, stellen Sie die These auf, dass Lebewesen sich am Genpool anderer Lebewesen bereichern können, ja sich davon ernähren.“

„Das ist richtig“, lächelte ich, „und an Desmodus raptor haben wir dieses Phänomen das erste Mal nachgewiesen. Auch Raptor schlürft Blut wie seine nächsten Verwandten, aber Raptor isoliert dabei Gene und kombiniert die eigene DNA neu, auch über Artgrenzen hinweg. Sie bringt die vorliegende DNA in die Zellen ihres Empfängerorganismus und vermehrt die Zellen mit der gewünschten neuen genetischen Information. Diese Vampirfledermäuse sind transgene Organismen in ziemlicher Perfektion. Da Desmodus raptor bevorzugt am Rückenmark saugt und dieses auflöst, führen ihre Angriffe in der Regel zur Querschnittslähmung oder zum Tod. Ein solches Tier mit dem mythologischen Vampir in Verbindung zu bringen, ist in vorwissenschaftlichen Gesellschaften logisch.“

„Aber was haben denn die Kirchen gegen ein solches Ergebnis? Das verstehe ich nicht“, fragte Müller.

„Raten Sie mal. Ich gebe Ihnen einen Tipp: Wir halten unter strengsten Sicherheitsverkehrungen in unserem Institut einige lebende Exemplare, die die Expedition von Azara einfing. Eines davon war damals bereits alt. Es handelt sich um eines der ältesten bekannten Wirbeltiere.“

Müller zuckte: „Das wird mir langsam unheimlich. Azaras Expedition endete 1821.“

Ich grinste: „Haben Sie es kapiert? Raptor bastelt die Langlebigkeitsgene seiner Opfer in die eigene DNA ein und erweitert damit die Lebensspanne im Vergleich zu seinen Verwandten um ein Vielfaches. Verstehen Sie jetzt, warum die Assoziation zum Vampir so richtig ist? Und noch mehr: Wir erforschen seit Jahren hunderte von Überlieferungen so genannter Tiermenschen. Was glauben Sie, warum im Voodoo Haare, Fingernägel oder andere Körperteile von Opfern so wichtig sind? Weil die Haitianer so abergläubisch sind? Nein, weil die DNA daran klebt. Seit Urzeiten hat es Menschen gegeben, die diesen Genraub nachgeahmt haben und ihre DNA auffüllen konnten, mit der von Wölfen, von Pferden etc. Die Anatomie lässt sich nicht verändern, einer Maus können keine Flügel wachsen und ein Mensch kriegt keinen Wolfskopf. Aber Menschen können durch Genraub den Geruchssinn von Wölfen in ihren Organismus einbasteln und und und. Wie, das wissen wir noch nicht, aber das es geht, haben wir bewiesen. Tja, unsere neue These ist, dass hinter Jenseitsvorstellungen, lebenden Toten und ähnlichen religiösen Fantasien die Erinnerung an Menschen steht, die sich mit dem Genpool anderer Menschen ihr Leben verlängern konnten. Damit widerlegen wir wissenschaftlich den Glauben an ein Leben nach dem Tod. Deshalb hält der Papst mich für einen Dämonen in Menschengestalt. Und die Vorstellung von Vampiren, die Lebewesen den Lebenssaft saugen, trifft den Genraub ziemlich gut, nur dass Menschen früher nicht wussten, was Gene sind.“

Müller stutzte: „Mafuente, Sie lästern über wissenschaftliche Unredlichkeit. Aber Sie behaupten selbst Dinge, die Sie unmöglich belegen können. Woher wissen Sie zum Beispiel, dass eine Fledermaus in Ihrem Institut angeblich bei Azaras Expedition auftauchte? Solche Märchen hat früher jeder Seefahrer von Schildkröten erzählt, die angeblich schon bei der Landung von Kolumbus in Amerika herum liefen. Oder die von Ihnen verachteten Pfaffen, deren biblische Vorväter hunderte von Jahren alt sein sollten.“

Ich blickte auf die Wasserfläche, über der in warmen Sommernächten wohl harmlose kleine Fledermäuse flatterten und Insekten jagten, dann musterte ich Müller von oben bis unten, überlegte, ob seine DNA für mich interessant wäre und flüsterte: „Ich war dabei.“

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Die Blutstaufe der Baobhan Sith

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Die Nacht hatte sich bemerkenswert warm über diesen Tag im August in meiner Heimat Tain an der Nordostküste Schottlands gelegt, der Wind trug die Salzluft des Meeres in die Berge und ich beobachtete die Drei, wie sie aus dem Dorf zur Hütte von Charlie wankten, unten an den Felsen, zu der Hütte, zwischen der sich der Weg in die Highlands hinauf schlängelte, dorthin, wo die Steinadler brüteten.

Er war wieder da, Andrew Mackay, der jüngste und frechste aus dem Mackay-Clan im Dorf, gekommen, um sein Erbe anzutreten, gekommen, um das Haus seines verstorbenen Vaters zu verwalten. Und Mackay hatte ein Mädchen mitgebracht, ein schönes Mädchen. Ich konnte sein rotziges Grinsen erkennen und seinen grün-schwarz karierten Kilt, den Mackay-Kilt. Charlie, der Dritte im Bunde, sah mit seinen schwarzen Haaren und südeuropäischen Gesichtszügen gar nicht aus wie ein Highlander, tatsächlich war er im Krieg von den Falkland-Inseln gekommen und seine Mutter stammte aus Argentinien. Ich mochte Charlie, den Außenseiter, vor dem die Leute im Dorf ihre Kinder warnten. Wie oft schon hatten sie ihre Hunde auf ihn gehetzt. Die Leute hielten ihn für einen Irren, weil er Bilder malte, als hätte er Hieronymus Bosch und Aleister Crowley als Lehrer gehabt.

Die Drei kamen näher und die beiden Männer hatten wohl schon etliche Glenn Morangie Whisky intus. Mackay sang: „If the Lady wants a baby, I am the cock of the North” und zeigte seiner Begleiterin, was die Schotten unter ihrem Rock haben. „Hier, Anna, hast du schon einmal die Seeschlange von Loch Ness gesehen, das ist ein echtes Scottish Sausage.“ „Dummer kleiner Kerl, bei dir hört die Pubertät nie auf“, flüsterte ich und freute mich auf das Treffen mit Mackay. Der kleine schwarz gelockte Kerl konnte ja nicht ahnen, dass schon sein Vater mir verfallen gewesen war.

Sie waren jetzt bei der Hütte angekommen, bei dem Unterschlupf. Charlie hatte sich seine Behausung aus einem Wohnwagen, diversen Tierfellen und geschichteten Steinen zusammengebastelt. Die Felsen hatte er mit Dämonenfratzen verziert und aus einem Baumstamm hatte er den gehörnten Gott herausgearbeitet. Ich mochte dieses Ambiente. „Wo hast du die Kleine eigentlich kennen gelernt?“ grummelte Charlie auf Gälisch. Mackay antwortete: „Charlie, lass die Finger weg, das ist meine Alte. Ich habe sie aus Hannover mitgebracht und zeig der heute Nacht mein Würstchen.“ Charlie öffnete die schwere Eichentür und die Drei entschwanden meinem Blickfeld. Wenig später sah ich durch die Wohnwagenfenster orangefarbenes Leuchten und Rauch zog aus dem Wasserrohr, das Charlie als Schornstein benutzte. „Und Charlie, auch mal wieder´ ne Alte gehabt?“ hörte ich Mackay über sein Lieblingsthema reden. „Jau, hier läuft eine rum, aber die ist nichts fürs Bett. Das ist eher so´ ne Aleister Crowley Tante“, grunzte Charlie. „Wie, so´ ne Satanistin?“ fragte Mackay. „Keine Ahnung, aber die ist so drauf. Kennt sich aus mit Werwölfen, Banshees, Vampiren und dem ganzen Zeug“, knurrte der Einsiedler. „Aber das ist doch was für uns. Die nehmen wir uns zusammen. Sieht sie auch geil aus?“ hakte der Wiederkehrer nach.

„Die sieht richtig geil aus, aber die ist zu heftig für dich. Sie hat lange Goldhaare bis zu den Knien und Augen silbern wie ein Hering, ihre Haut glänzt wie die Gischt vor den Orkneys. Aber ich warne dich, Andrew, der Frau bist du nicht gewachsen“, brummte Charlie. „Ach Charlie, wenn nur alle Menschen so wären wie du,“ lächelte ich. „Charlie, Alter, mit fünfzehn habe ich die Rituale von Aleister Crowley gemacht, zwanzig Kilometer von hier, in seinem Wohnhaus. Da hast du noch Pinguine gepimpert auf den Falklands“, schrie Mackay. „Ich bin der Cock of the North.“ „Dein Vater war vielleicht ein Schotte, Andrew, aber deine Mutter läuft hier auf den Highlandweiden herum und ruft Määäh.“ „So, jetzt reicht es, Charlie. Jetzt gibt es einen Hiting, einen Arschvoll.“

Das Mädchen wanderte verträumt den Felsweg in die Highlands entlang. Die Männer kämpften, das hörte ich an dem Scheppern von Töpfen, dem dumpfen Klang, wenn einer gegen die Sperrholzwände des Wohnwagens prallte. „Ich steche dich ab, Charlie“, brüllte Mackay in gebrochenem Gälisch.

Kurz darauf rannte Charlie mit einem brennenden Holzscheit aus der Hütte. „Mit deinem kohlschwarzen Haar und deinem Bart könntest du fast ein Teufel sein. Wo sind deine Hirschhufe, wo ist dein Geweih, gehörnter Gott?“, sang ich ein altes gälisches Lied und lächelte, als Charlie innehielt und mit wild rollenden Augen in die Nacht stierte. „Charlie, du bist ein Monster“, grölte Mackay und torkelte in das feuchte Gras, hob seinen Rock hoch, setzte sich in die Grätsche und scheuerte sein Hinterteil wie ein Hund mit Würmern. Noch konnte der Raufbold mich nicht sehen. „Du hast Feuer im Arsch“, wieherte Charlie vor Lachen. Das Mädchen saß oben auf einer Klippe und blickte über den Wald in das Meer hinunter. „Ich mach gleich Bratwurst aus deinem Falkland Sausage“, schimpfte Mackay. Einen Moment wollte ich noch warten, um mich dem Kleinen zu zeigen.

Eine Stunde war wohl vergangen, Charlie und Mackay saßen vereint am Lagerfeuer vor der Hütte und versuchten beide, der Blonden zu imponieren, die sich wieder eingefunden hatte. Mackay erzählte Geschichten von Aleister Crowleys Sexualmagie und vom Buch von Thelema. Dabei hatte er seine Hand auf die Knie des Objekts seiner Begierde gelegt. Jetzt zeigte er ihr seine Tätowierungen. „Das Schwert hier, das ist das Wappen der Mackays, das ist mein Clan. Das hier ist ein Werwolf, ein alter piktischer. Die Leute hier glauben an kleine Feen, an Pixies, aber die Pikten waren die ersten Schotten, die alten Kelten“, erzählte er. „Oh, diese fucking werewolves. Ich kann sie nicht mehr riechen. Sie stinken wie räudige Straßenköter“, jaulte Charlie und heulte wie ein Wolf in die Nacht. „Glaubt ihr an so etwas?“ fragte das Mädchen. „Weißt du, die Leute hier sind total abergläubisch. Die glauben an den Dudelsackspieler ohne Hände, an Schlossgespenster und solche Sachen. Aber klar, es gibt Dämonen. Crowley hatte eine Menge Erfahrung damit. Churchill hat von ihm das Victoryzeichen übernommen, das V aus zwei Fingern, die Hörner des gehörnten Gottes, die das Hakenkreuz der Nazis zerschlagen “, dozierte Mackay. „Aber an Pixies und Feen glaubt ihr nicht, oder?“ fragte das Mädchen. Charlie stieß zur Antwort einen Schrei aus, der sich anhörte wie das Röcheln eines Sterbenden vermischt mit dem Maunzen einer schottischen Wildkatze. Dann fing er an zu lachen: „Doch, klar, hast du sie nicht gehört, die irische Nachtfee, die Banshee?“ schüttelte er sich. „Nein, Anna, nicht so ein Quatsch, wir sind seriöse Okkultisten“, gab Mackay altväterlich von sich. „Die Banshee, das Ungeheuer von Loch Ness und die Kinder fressende schwarze Annis, das erzählen sich alte Leute, wenn sie im Winter in der Kneipe sitzen und draußen die Winterstürme wehen. Das sind Storys aus der Folklore“, sagte er und schob die Hand weiter zwischen die Schenkel seiner Begleiterin.

Charlie hatte eine Gitarre gegriffen und spielte altgälische Volkslieder. Dazu sang er in modernem Englisch: „Vier Jäger froren nachts im Wald, sie tanzten und sangen, denn es war bitterkalt. Da kamen drei Mädchen von lieblicher Gestalt. Sie flüsterten „Wir bleiben bei euch, heute Nacht, wir wärmen eure Körper, denn es ist bitterkalt“. Die Jäger schwitzten vor Freude schon sehr bald, die Mädchen schienen jung und sie schon recht alt, es war wie ein schönes Märchen von Feen nachts im Wald. Nur ein Jäger hat sich die Stiefel festgeschnallt, verließ die anderen Jäger und lief in den Wald. Bald fanden seine Stiefel im Felsen keinen Halt, er stürzte auf den Boden und dort war es kalt. Am Morgen erwachte er, im Nebel mitten im Wald, vertrat sich die Beine, denn es war bitterkalt. Er suchte die anderen Jäger und fand sie auch bald, sie lagen tot auf der Erde, ihre Körper waren kalt. Die Geistermädchen hatten ihr Blut gesaugt, mit tödlicher Gewalt. So kann es gehen, in den Highlands nachts im Wald.“ Charlie verschnaufte und trank aus seiner Glenn Morangie Flasche. „Das war wunderschön“, staunte die Besucherin. „Kennst du viele solche Lieder?“ fragte sie und blickte Charlie mit großen blauen Augen an. Mackay wurde offensichtlich eifersüchtig und unterbrach: „Charlie, das ist so ein Spinner, der glaubt an diesen Kram. Aber ich habe auch noch einen: „Three old ladies are sitting in the grass. One old lady is sticking her finger in the other old lady´s …” Dann betatschte er das Hinterteil des Mädchens. Charlie stellte sich an einen Abhang und pinkelte.

Kurz darauf stürmte er brüllend zum Lagerfeuer zurück: „Hey, ihr. Wir müssen in die Hütte, es ist nicht geheuer. Da vorne im Gras sind Hirschspuren, aber nur zwei, wie wenn der Hirsch auf den Hinterbeinen geht.“ Mackay lachte: „Der gehörnte Gott, oder was? Charlie, du bist so ein Verrückter. Du bist noch abergläubischer als die Leute im Dorf.“ „ Mackay, du solltest Ehrfurcht haben, wenn die Naturgeister in der Nacht umherziehen. Dann tun sie dir auch nichts“, warnte Charlie. „Charlie, du bist nicht verrückt“, lächelte ich. „Aber vielleicht hast du zuviel Whisky getrunken.“ Charlie hastete in seine Hütte und schlug die Tür hinter sich zu. „Du Andrew, so richtig wohl fühle ich mich hier draußen auch nicht mehr“, flüsterte das Mädchen. „Bleib doch hier, jetzt wo der Penner weg ist, machen wir uns eine schöne Nacht“, grölte Mackay und hielt sie am Arm fest. „Nein, ich habe Angst“, sagte sie, riss sich los und rannte zur Hütte, klopfte, Charlie öffnete und Mackay blieb allein am Feuer sitzen. „Mit was für unaufgeklärten Idioten bin ich eigentlich zusammen? Wenn sie eine Hirschspur sehen, denken sie, es ist ein Gespenst. Wahrscheinlich denken sie bei einer Fledermaus, es wäre ein Vampir und bei einer Eule, es wäre eine Nachthexe. Und wenn sie einen Fischotter sehen, klappern ihnen die Zähne, weil sie meinen, Nessie frisst sie“, erzählte der Schotte sich selbst, goss sich ein Wasserglas mit Whisky voll und trank einen kräftigen Schluck.

„Zeit für dich, mich kennen zu lernen,“ wisperte ich. Er hatte es wohl gespürt, denn er blickte zwischen die Moorbirken, dorthin, wo ich mich seinen Blicken noch entzog. „Charlie, machst du schon wieder Mist?“ rief er. Ich hob die Stimme an und begann zu singen: „In den Nebeln der alten Wälder, in den Nebeln der alten Wäldern, floh ein Hirsch vor seinem Jäger, vor den Deerhounds mit scharfen Zähnen. In den Nebeln der alten Wälder, in den Nebeln der piktischen Wälder, suchte ein Jäger einen Hirsch. Doch heraus trat aus dem Nebel eine Frau von anmutiger Gestalt und sie küsste diesen Jäger, dort in den Nebeln der alten Wälder.“ „Was ist das für ein komisches Lied. Komm da raus“, brüllte Mackay. „Du verstehst das alte Gälisch wohl nicht, Mackay? Hast dich zu lange auf dem Kontinent herumgetrieben“, säuselte ich und es kam ihm scheinbar vor, als spräche der Nachtwind selbst zu ihm. Seine Augen glühten verwirrt und wie in einem Bann. „Woher kennst du meinen Namen? Und was lungerst du hier draußen bei Charlies Hütte herum? Hier kommt doch kein Mensch hin“, murmelte er entgeistert.

Dann trat ich unter den Birken hervor, ließ meine nackten Füße durch das Moos gleiten. Nun konnte er mich im Licht des zunehmenden Mondes bewundern, meine Wespentaile, meine Brüste, die wie weiße Äpfel unter dem Kleid zu erahnen waren, meine Haare wie reifer Weizen in der Mittagssonne, meine Augen mussten ihm erscheinen wie die spiegelnde Oberfläche eines Silbertellers, nur viel tiefer, so, als würde er in einen kaledonischen See schauen und sich im Wasser verlieren. Ja, sein Mund stand offen und dieser freche kleine Schotte brachte nur Gestammel heraus. „Was, was hast du da für ein Kleid an? Sind das Blätter oder Samt?“, stotterte er. Ich antwortete nicht, denn den Stoff, aus dem dieses Kleid war, konnte er nicht kennen, und dieses Grün hatte er an einer Lady noch nie gesehen. „Wo, wo kommst du her. ich dachte immer, die, die schottischen Frauen sind hässlich. Bist du die Alte, von der Charlie erzählt hat?“ Ich antwortete nicht, sondern hielt ihm meine zarten Finger hin, weiß wie Meeresschaum leuchteten sie im Schein des Mondes. „Alte ist nicht falsch, aber ich habe auch einen Namen, Mary Fary, Charlie nennt mich May Fay“, hauchte ich in seine Lausbubenohren. „Lass uns tanzen, Andrew Mackay, Cock of the North“, wisperte ich ihm zu und wusste, dass meine Stimme ihn einhüllte wie die schlangenartigen Rauchfäden des Lagerfeuers. „Komm, lüfte deinen Kilt und tanz wie ein alter Pikte“, sang ich. „Tanz mir den Tanz des Capercaillie, den Tanz des Auerhahnes,“ flüsterte ich. Dann nahm ich seine Finger, die nach Whisky und Holzkohle rochen, hob seinen Arm in die Höhe und drehte mich unter seinen Achseln, deren Geruch einem Wildschwein alle Ehre gemacht hätte. Ich wirbelte und wirbelte und riss ihn mit, wie ich es bei den Anderen getan hatte. Mackay kam ins Schwitzen und hatte die Augen weit geöffnet. „Ich begrüße jetzt Nessie,“ flüsterte ich und schlüpfte unter den Kilt der Mackays und begann dort, wo das Blut des Clans strömte, hörte sein Stöhnen, dann seine Schreie. Er hatte seine Hände in meinen Haaren verkrallt, sie verkrampften sich, ich musste aufhören, denn diesmal war es anders. Diesmal ging es um den Clan.

Ich hörte auf und umschwebte ihn, während er bleich und mit delirierendem Blick am Boden lag. „If the lady wants a baby, I´m the cock of the north“, sang ich mit altgälischem Akzent. „Sag mal, hast du da rein gebissen,” lallte er . „Du hättest vielleicht nicht gleich mit Crowley anfangen, sondern dich mit deinem eigenen Umfeld beschäftigen sollen“, pustete ich in seine Ohren wie eine leichte Brise, die vom Meer hinüberweht. Er wäre weggelaufen, hätte er die Kraft dazu gehabt. Doch die hatte er jetzt nicht mehr, und sein Blut klebte an meinen Lippen. „Mary Fary ist mein Name, aber mein Familienname ist Mary Mackay,“ ließ ich die Worte in seine Ohren wandern. Es musste ihm scheinen wie ein Traum in den Highlands. „Mary Mackay?“ nuschelte er. „So hieß die Großmutter von meinem Großvater.“ „So heißt sie immer noch“, flüsterte ich. „Du bist zurückgekommen von deinen Reisen, und wir werden das Haus der Mackays zu neuer Blüte bringen. Ich muss dich jetzt verlassen, denn schon bald wird die Morgensonne die Felsen beleuchten. Aber ich habe dir die Taufe der Mackays gegeben und ab jetzt wirst du deinen Clan nicht mehr verlassen können.“ Das sagte ich zu mir selbst, denn Andrew schlief einen tiefen Schlaf. Er würde sein Erbe verwalten, jetzt konnte er nicht mehr anders.

Ich schlüpfte aus meiner materialisierten Form, dem Frauenkörper im grünen Kleid mit den Hirschbeinen und schwebte in eine Höhle neben Charlies Hütte, um den weiteren Verlauf anzuhören.

Es muss Mittag gewesen sein, als ich einen Schrei hörte und Charlies polternde Stimme: „Mackay, du Bloody Wanker, ich habe dir gesagt, lass dich nicht auf die Lady ein. Sie ist eine Green Lady, die Frau im grünen Kleid, eine Baobhan Sith, du Idiot. Glaubst du, ich habe das Lied umsonst gesungen. Wie kommt es überhaupt, dass du noch am Leben bist? Was glaubst du, warum in Tain immer Typen nachts aus der Kneipe gehen und ihre Körper am nächsten Morgen starr und tot im Graben liegen? Die Leute erzählen, sie hätten zuviel Whisky getrunken, aber das liegt daran, dass sie die Überlieferung nicht kennen und keine Ahnung von den Geistern haben. Die glauben an den Quatsch, den sie sich abends in der Kneipe erzählen, aber nicht an das, was es wirklich gibt. Dann begegnen sie der Green Lady und sie saugt ihnen das Blut aus, bis zum letzten Tropfen.“ „Lieber guter Charlie“, lächelte ich. „Bei dir ist Andrew in guten Händen, bis er endgültig zu mir kommt. Vielleicht nehme ich dich auch mit in die unsichtbare Welt, Charlie. Dann hat mein Nachfahre Recht, dann bist du wirklich ein Monster.“ „Charlie, ich hatte heute Nacht einen ganz komischen Traum. Ich habe geträumt, ich hätte Sex mit meiner Ururgroßmutter gehabt.“ Ich ließ den Wind eine alte gälische Waise um Andrews Gesicht spielen und dachte daran, wie mich der Großvater meiner Großmutter zu dem gemacht hatte, was ich bin.

Schauprozess wie im Stalinismus? Der Prozess gegen Bin Ladens Chauffeur zeigt die Zerstörung des amerikanischen Rechtsstaats

von Utz Anhalt (sopos)

Der Fahrer von Usama Bin Laden, ein ehemaliger Insasse von Guantánamo, wurde in den USA der “materiellen Unterstützung des Terrorismus” schuldig gesprochen. Der Prozess, ein Militärtribunal, soll als “Kriegsverbrecherprozess” viele weitere Verfahren gegen Guantánamo-Häftlinge einleiten. Ein übler Anfang, denn nach rechtstaatlichen Standards hätte der Angeklagte freigesprochen werden müssen. Die “materielle Unterstützung” bezieht sich auf mehrere Raketen, die angeblich in dem Wagen des Fahrers gefunden wurden. Der vernommene Zeuge konnte sich aber nicht daran erinnern, in welchem von mehreren untersuchten Fahrzeugen sich die Raketen befunden hatten. Noch grotesker ist, dass der Straftatbestand „materielle Unterstützung des Terrorismus“ bei den ersten beiden Anklagen gegen den Fahrer im Strafrecht noch gar nicht existierte. Es ist aber ein Grundsatz jeglichen Rechtsstaates, dass jemand nur wegen einem Tatbestand verurteilt werden darf, den es zum Zeitpunkt der Tat gab. Die Jury bestand aus amerikanischen Offizieren, die niemals ein Hehl daraus machten, dass der Angeklagte für sie in jedem Fall ein “feindlicher Kämpfer” ist. Im Rechtsstaat heißt das Befangenheit.

Aussagen des Angeklagten entstanden in Guantánamo – wie es verharmlosend heißt – unter “verschärften Haftbedingungen” wie zum Beispiel Schlafentzug. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International nennen diese “Bedingungen” Folter. Unter Folter erpresste Aussagen sind in keinem Rechtsstaat als Beweismittel anerkannt. Im Gegenteil, die Folter selbst ist ein Verbrechen.

Für den Angeklagten bleibt der Ausgang des Urteils egal: Die Bush-Regierung sagte deutlich, dass er in jedem Fall weiter in Guantánamo gefangen bleibt. Und dort werden ihm dann weiterhin, wie hunderten anderer “feindlicher Kämpfer” die elementaren Menschenrechte vorenthalten. Es hätte also in jedem Fall gar keines Prozesses bedurft. Das Tribunal erscheint wie ein Schauprozess aus der Sowjetunion unter Stalin. Der Angeklagte hat nur noch zu bestätigen, was der Präsident, die Regierung, die Jury, die Lagerkommandanten und die “Terroristenjäger” von Anfang an “wussten”, nämlich dass er ein “feindlicher Kämpfer gegen die USA” ist. Er beteuerte bis zuletzt seine Unschuld, zu einer Bucharinschen Selbstbeschuldigung reichte es (noch?) nicht.

Der “Kriegsverbrecherprozess” legt einen Vergleich zu den Nürnberger Prozessen gegen die Naziverbrecher nahe - eine grauenhafte Verzerrung davon. Im Gegensatz zu dem, was die deutsche Rechte nach 1945 immer wieder postulierte, waren die Nürnberger Prozesse keine Siegerjustiz, bei der die Urteile feststanden. Viele mögliche Nazimassenmörder gingen straffrei aus, weil die Prozesse geradezu mustergültig rechtsstaatlich verliefen und das bedeutete, dass jemand, dem ein Verbrechen nicht hundertprozentig nachgewiesen werden kann, als unschuldig gilt. Ein emotionales Problem für die Opfer bestand und besteht darin, dass der Rechtsstaat – also Unschuldsvermutung, Beweislast des Anklägers, das Recht auf uneingeschränkte Verteidigung, Verzicht auf Folter, Rache und Selbstjustiz – auch für die Feinde des Rechtsstaates gilt. Die Stärke der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse lag gerade darin, dass die Attentäter, die jegliche Form von Rechtsstaatlichkeit vernichtet hatten, alle Möglichkeiten einer fairen Verhandlung genossen. Damit bewiesen die Siegermächte, dass sie sich vom faschistischen Terror nicht zum Gegenterror zwingen ließen. Falls Hitlers Chauffeur kein anderer Vorwurf hätte gemacht werden können, als dass er Hitlers Chauffeur war, hätte er in Nürnberg freigesprochen werden müssen. Juristische und moralische Schuld sind zwei verschiedene paar Schuhe.

Das Tribunal gegen Bin Ladens Fahrer, das System von Guantánamo, ist das Gegenteil der Nürnberger Prozesse. Hunderte von Menschen sind seit Jahren in Guantánamo lebendig begraben, ohne dass ihnen irgendeine Schuld nachgewiesen wurde – keiner von ihnen hat ein rechtstaatliches Verfahren bekommen. Die Losung lautet: Krieg gegen den Terror. Bei “Terrorismus” gilt der Bush-Administration die bloße Vermutung als Rechtfertigung, Menschen auf unbegrenzte Zeit die Freiheit zu rauben, sie zu demütigen, sie zu foltern, sie psychisch und physisch zu zerstören und in den Selbstmord zu treiben.

Al Qaida hat mit Rechtsstaatlichkeit nicht das Geringste zu tun, der bei manchen Linken verpönte Begriff des Islamfaschismus bringt die politische und ethische Substanz des Terrornetzwerks auf den Punkt. Gegenüber Faschisten, islamischer und anderer Couleur, ist die schärfste Waffe des Rechtsstaats jedoch immer noch der Rechtsstaat. Arabische Medien, die das Grauen von Abu Ghraib mit “Freiheit, Demokratie, Folter” kommentierten und damit die Heuchelei der Bush-Regierung brandmarkten, können sich durch diesen Prozess bestätigt sehen. Und sie hätten Recht.

Es geht dabei nicht darum, dass in Arabien, im Nahen Osten oder in islamischen Ländern die Menschenrechte oftmals keinerlei Wert haben. In den USA geht es, salopp gesagt, auch um das Putzen vor der eigenen Tür. Eine Anklage gegen die Verantwortlichen für Guantánamo und Abu Ghraib, Bush, Cheney, Rumsfeld u.a., und die Einleitung eines Prozesses gegen sie vor einem amerikanischen Gericht, wäre ein Signal der Glaubwürdigkeit. Ein solches Verfahren sollte kein Militärtribunal leiten, sondern durch ein ziviles, strikt rechtsstaatliches Gericht aufgearbeitet werden. Zu verhandelnde Delikte wären: Rechtsbeugung, Einführung der Folter, Kidnapping, Freiheitsberaubung, Verstoß gegen die Genfer Konvention, fahrlässige Tötung. Unabhängig vom Ausgang des Verfahrens könnte die Welt den Kampf des Rechtsstaats gegen Terrorismus als seriöses Anliegen ansehen und nicht als verschleierten Terror gegen Terror: “Wer immer gegen Monster kämpft, sollte aufpassen, dass er im Prozess des Kampfes nicht selbst zum Monster wird, denn wenn immer du in einen Abgrund blickst, blickt auch der Abgrund in dich hinein”, so der beste Satz von Friedrich Nietzsche. Die Bush-Regierung hat den Schritt in den Abgrund längst vollzogen. Die erste Tat der nächsten US-Regierung muss die Abschaffung des Systems Guantánamo und die Wiedereinführung des amerikanischen Rechtsstaats sein.

Dr. Utz Anhalt ist Historiker und Redakteur der Sopos.

Wolfsgötter und Schamanen - Die Inszenierung eines anthropologischen Traumas

Anmerkung: Der gesamte Artikel ist in der Märzausgabe 2009 des Nautilus-Magazins einsichtig.

Die Vorstellung, dass Menschen sich körperlich oder geistig in Tiere verwandeln könnten, ist seit der Steinzeit und aus der gesamten Welt bekannt. Götter und Göttinnen in Menschengestalt konnten auch die Gestalt von Tieren annehmen: Die Vielfalt der Tiermenschen entspricht derjenigen der „real existierenden“ Tiere. Ihre Eigenschaften entsprechen denen bei den Tieren beobachteten: Der Satyr ist lüstern wie ein Ziegenbock, der Werwolf ein Jäger und Fleischfresser wie der Wolf, der Bärenmensch stark wie ein Bär. Auch Ähnlichkeiten zwischen Tieren und Menschen flossen in die Vorstellung von Tierverwandlungen ein: das „Lachen“ der Hyäne erinnert an eine garstige alte Frau, das „Heulen“ der Kegelrobbe an ein weinendes Kind. Afrikanische Kulturen haben entsprechend ihre Werkrokodile, Werleoparden und Werlöwen und ihre Hexen, die sich in Hyänen verwandeln.

Was beim Schamanen, dessen Seele in Tiergestalt oder begleitet von einem Tiergeist durch die Unterwelt schweift, als geistige Erfahrung erscheint, hat eine Entsprechung in der Auseinandersetzung des Menschen mit den (anderen) Tieren, die von jeher um ihn herum lebten. Der Kampf des Helden mit dem gefährlichen Tier, dem Ungeheuer, ist der zentrale Punkt menschlicher Mythologien. Zugleich hat der Held auch selbst häufig die Eigenschaften eines gefährlichen Tieres: Beowulf heißt Bärenwolf, ein Mensch mit der Stärke und Kampfesfähigkeit dieser Raubtiere.

Freud sah Ungeheuer als Projektionen verbotener Aggressionen an, Jung erkannte darin Archetypen des kollektiven Unbewussten. Der Wolf als Traumfigur lässt sich so als Gier infantiler Neurotiker interpretieren, die den Schatten ihrer Psyche nicht in ihre Entwicklung integriert haben und ihre soziale Umwelt „auffressen“. Warum aber Tiere, wie in diesem Fall ein Beutegreifer, im Traumbild, in der Psychoanalyse oder in der Ekstase erscheinen, lässt sich aus der frühen Erfahrung mit der natürlichen Umwelt erklären. Möglicherweise hat sich das Bild als Abbild einer nicht symbolischen, sondern körperlichen Erfahrung in die menschliche Psyche eingeprägt: Das Bild des reißenden Tieres, das Menschen frisst geht einher Bestreben, von der Beute zum Jäger zu werden. Das Maul des verschlingenden Tieres als Urbild des Horrors, als letztes, was ein Mensch vor seinem Tod sieht, floss in die Mythen der Welt ein.

Die Verbindung vom als Gott verehrten Raubtier, dem Tiger im Delta des Ganges, dem Jaguar, dem Löwen und dem Schamanen / Priester, der selbst zum verehrten Tier wird, ist fließend. So erörterte Mircea Eliade: „Sich wie ein wildes Tier zu verhalten – wie ein Wolf, ein Bär, ein Leopard – ist das Zeichen dafür, dass man aufgehört hat, ein Mensch zu sein… dass man gleichsam zu Gott wird. Das Raubtier stellt auf der Ebene der elementaren religiösen Erfahrung eine höhere Daseinsform dar.“ Die Verwandlung zum Raubtier ist ein Kern des Blutrituals vieler Religionen: Das Obsidianmesser, mit dem die Aztekenpriester den Menschenopfern das Herz heraus schnitten, repräsentiert die Zähne und Krallen des Jaguars. Der Gott, dem das Opfer gebracht wird, ist ein Jaguargott. In den 1930er Jahren terrorisierten „Löwenmenschen“ das heutige Tansania, ermordeten ihre Opfer mit Waffen, die die Krallen des Löwen nachahmten und glaubten, sich in Löwen zu verwandeln. Ähnlich mörderisch waren die Leopardenmenschen Liberias, die Anioto. Verehrung und Furcht liegt in Religionen nahe beieinander. Vielleicht steckt in dem Menschenopfer an die (Raubtier-) Gottheit die imaginäre Kontrolle über das hilflose Ausgeliefertsein des frühen Menschen an einen grausigen Zufall: Das Raubtier wird durch ein Opfer davon abgehalten, weitere Menschen zu töten. Hier mag die reale Beobachtung eine Rolle gespielt haben, dass ein Beutegreifer, der ein Opfer gefunden hat, die Anderen überleben lässt.

Die aktive und selbstständige, teilweise übermächtige Rolle, die Tiere in den Mythen der Alten und bei heutigen so genannten Naturvölkern spielen, ist in den Fernsehfiguren von süßen Bären und samtäugigen Tigern kaum zu erkennen. In einer Zeit, in der Atomwaffen die lebendige Welt mehrfach vernichten können, scheint die Ehrfurcht vor Raubtieren keine Rolle mehr zu spielen; und doch lebt sie im Unbewussten fort: In den Angstträumen von Kindern spielen weltweit Tiermonster eine entscheidende Rolle, obwohl die realen Gefahren, zum Beispiel die, von einem Auto überfahren zu werden, nicht von Tieren ausgehen. Weit verbreitet ist die Angst, nachts in den dunklen Wald zu gehen, obwohl die reale Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden, wohl nirgendwo in Deutschland so gering ist wie in einem ländlichen Wald. Auch hier spiegelt sich die Urangst vor dem Tier, das im Dunklen lauert.

Das öffentliche Menschenopfer, eine Inszenierung des anthropologischen Traumas, vom Raubtier gefressen zu werden, mag Menschen der Industriegesellschaft grausam und als Aberglaube einer unaufgeklärten Zeit erscheinen. Der Werwolffilm erfüllt aber ein analoges Bedürfnis, die Faszination, dem Menschen fressenden Tier zu begegnen und zu überleben – dem tierischen Menschenfresser, der nicht nur Tier, sondern auch Mensch ist.

Gerade in archaischen und heutigen Wildbeuterkulturen, in denen die Alltagserfahrung in der Natur daraus besteht, immer Jäger und Gejagter zugleich zu sein, erscheint eine fundamentale Trennung zwischen Mensch und Tier abstrus. Animismus heißt die Vorstellung, dass alles, was lebt, beseelt ist, und das englische Wort für Tier, the animal, leitet sich daraus ab. Und so hat in manchen schamanischen Kulturen jeder Mensch auch seine ihm eigene Tierseele.

Das Christentum stellte Gott über die Natur und verteufelte das Tier im Wortsinne, verdrängte die Sexualität, die Wildnis und die Körperlichkeit in das Reich Satans, wo die Wölfe zu Dämonen in Tiergestalt wurden. Der Werwolf, ein Kriegerideal des germanischen Altertums, wurde zu einem dem Teufel verfallenen Hexenmeister, einem Vergewaltiger der Frauen und Kinderfresser.

Kein Tier steht dem Menschen näher als der Wolf und seine Haustierform, der Hund.

So schreibt Barbara Ehrenreich: „Unsere wichtigsten Jagdlehrer waren wahrscheinlich (…) die in Rudeln vorgehenden Wölfe und wilden Hunde.“ Und im Unterschied zu den großen Katzen, den Bären, den Hyänen und den anderen großen Beutegreifern, schlossen sich die Wölfe den Menschen an. Zugleich blieben sie Bedrohung und Konkurrenz der frühen Jäger mit einigen Gemeinsamkeiten. Wie die frühen Menschen jagen auch Wölfe im Sozialverband, und auch im wilden Wolf ist der zahme Hund erkennbar – der Hund, den wir als einziges Tier in die menschliche Familie aufgenommen haben: Der beste Freund des Menschen ist zugleich ein Raubtier.

Der Wolf repräsentiert wie kein anderes Tier die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Kultur und Wildnis, den Konflikt, den der Mensch in sich trägt - der Mensch, der nicht nur Vernunft, sondern auch Trieb, nicht nur Geist, sondern auch Fleisch ist und mit all seiner Intelligenz ebenso sterblich wie alle anderen Lebewesen.

Der Mythos lebt weiter, nicht nur im fantastischen Film und Buch: In Rumänien glauben heute noch viele Menschen, dass es Werwölfe wirklich gibt. Den Werwolf scheinen weder geografische noch biologische Grenzen des Wolfes zu stören: Nahe Fortaleeza in Brasilien lebt heute ein Mann, dem Besonderes widerfahren ist: Er sah den Wolfsmenschen! Und im Dorf Playosa in Argentinien, lebten die Bewohner 2005 in Furcht, weil ein Lobizon umgehen sollte, so die dortige Variante. Die Beschreibungen reichten von einer Art ponygroßem Hund bis zu einem bleichen jungen Mann, der alleinstehenden Mädchen nachstellte. Der Wolf im dunklen Wald erzählt uns davon, dass dieser Wald einmal auch unsere Heimat war.

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Der Beutelwolf - Artenschutz und soziale Emanzipation

Der Beutelwolf - Artenschutz und soziale Emanzipation

/von Utz Anhalt (sopos)/

“Bis zum langsamen Tod des Elefanten haben die unvernünftigen Geschöpfe
stets Vernunft erfahren.” Theodor W. Adorno.

“Wir sind alle Könige auf einem Totenfeld.” Elias Canetti

Die Natur braucht den Menschen nicht, aber der Mensch die Natur. Die Erhaltung der Artenvielfalt und Menschenrecht schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander.

Das abendländische Naturverständnis bedingte die Genese des Kapitalismus: Gott herrschte über die Menschen und die Menschen über die Natur. Die Bourgeoisie kapitalisierte dieses Herrschaftsrecht des Adels, statt es zu überwinden. Die Theoretiker des Zivilisationsparadigmas in der Tradition von Descartes, Leibniz und Galileis setzten den Europäerund den Fortschritt gegen die Natur.

Kant löste sich davon nicht, sondern fügte dem Mechanismus noch den Rassismus hinzu (physische
Geographie), wobei die Minderwertigkeit der Menschen mit ihrer Nähe zur
Natur abnahm. In diesem Punkt war er sich mit Hegel einig. Dieses
Fortschrittsdogma der Moderne zeigte sich bis heute als Scholastik mit
religiös-fundamentalistischem Kern, eine Religion, die das
“Barbarische”, “Naturhafte”, “Religiöse” der Vormoderne oder dem Außen
zuschreibt (siehe Samuel Huntington).

Die Erfahrungen der Jahrtausende in der Erkenntnis der
Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Ökosystem galten der Scholastik
des Mittelalters als abergläubisch, der Moderne als rückständig. Ziel
des technischen Fortschrittes war es, in einer “Tabula rasa” alles
hinter sich zu lassen, was vorher war. Das Tier galt als etwas
Anstößiges, was überwunden werden musste. Die US-Amerikaner plakatierten
diese Pioniervorstellung des Fortschritts in der “Göttin der Freiheit”,
die Telegraphen und Eisenbahn in “die Wildnis” bringt. Native Americans,
Wölfe und andere “wilde Tiere” flohen vor ihr.

Hermann Melville zeigte den Mechanismus des Kapitalismus in Moby Dick.
Ahabs Motiv ist Rache, Rache an einer Kreatur, die sich gegen die
Vernichtung wehrt. Alles, was Ahabs Mannschaft tut, ist rational, nur
das Ziel nicht: Es ist der Wahnsinn. Ahab jagt die Mannschaft der
“Pequod” (die nicht umsonst nach einer ausgerotteten Indianerkultur
heißt) ins Verderben, nur weil es etwas geben könnte, das sich der
Kontrolle entzieht. Das “Verbrechen” des weißen Wales ist, sich nicht
verwerten zu lassen. Die Verachtung des Anderen (Rassismus) und die
Ausrottung der Wildtiere gehören zusammen wie der Weg durch die
Rosenbeete von Gärtnern wie Samuel Huntington.

Der Kapitalismus zerstört das Ökosystem des Planeten, indem er sich ihm
entgegenstellt. Der Kapitalismus existiert durch die Verwertung des
Wertes. Werte werden geschaffen und zerstört. Der Kapitalismus zerstört
lebendige Arbeit und verwandelt sie in tote Arbeit. Starke Mächte stehen
einer sinnvollen Nutzung der Ressourcen entgegen: In den 1930er Jahre
entwickelten US-Farmer Kleidung aus Hanf. Hanf ist eine Pflanze, die
quasi uneingeschränkt einsetzbar ist, braucht weder komplizierte
Bewässerung noch mühselige Ernte und reproduziert sich unermeßlich. Hanf
laugt den Boden nicht aus, sondern baut ihn auf. Die
Baumwollindustriellen schlugen zu und griffen ein Nebenprodukt dieser
Pflanze (das Haschisch) an. Cannabis würde die Jugendlichen verwirren
und aggressiv machen. Sie schafften es, den konkurrenzlosen Hanf zur
illegalen Droge zu ächten.

Das Vorbild lebendiger Arbeit ist das Ökosystem: Das Ökosystem erneuert
sich zu hundert Prozent selbst. Es kostet nichts. Es produziert keinen
Profit aus lebendiger Biomasse, sondern recycled die “überflüssige”
Biomasse vollends. Das Ökosystem ist ein Perpetuum Mobile, eigentlich
die Basis für eine humane Gesellschaft. Die moderne Naturwissenschaft
weiß inzwischen, dass nicht tote Materie, sondern Beziehungsstrukturen
das sind, was wir Leben nennen.

Leider denken manche Betonköpfe bei Artenschutz an
“völkisch-reaktionären Heimatschutz”. Nichts ist falscher. Die
Reaktionäre trieben die Welt 1914 in den Abgrund. Sie hatten an
Wildtieren “geübt”. Nazis definierten sich über biologistischen
Antisemitismus. “Blut- und Boden” war die Speerspitze der Vernichtung
der lebendigen Natur in der Moderne. Marinettis Futuristisches Manifest
war eine Ode an die Kriegstechnik, die Naturvernichtung und die
Frauenverachtung. Die Nazis setzten das, was sie der nichtmenschlichen
Natur antaten, gegenüber den jüdischen Opfern um. Sie unterteilten die
Welt in lebenswertes und “lebensunwertes” Leben. Diese Politik hatte
eine Basis in der Vernichtung der lebendigen Tierwelt; Menschen in
“Schädlinge” und “Nützliche” hatte seine Entsprechung in der
Ungeziefervernichtung an Wildtieren. Die Nazi-Henker brachen den Leichen
die Goldzähne heraus und verwerteten die Körper der Ermordeten. Das war
Verwertungslogik in Konsequenz.

Sie hatte ein Vorspiel. Opfer waren “wilde Tiere”, “wilde Menschen” und
Frauen. 1810 wurde auf der Weltausstellung eine “Hottentot-Venus”
präsentiert. Die Frau verstarb schnell. Ihre Genitalien wurden
präpariert und im Museum ausgestellt. Zu den Lieblingsbeschäftigungen
der Kolonialherren gehörte das Ausrotten der Wildtiere. Fritz von
Schellendorf rühmte sich, 60 Löwen, ein Selous hunderte geschossen zu
haben. Bis 1914 hatten Offiziere, Kolonialbeamte, Bürger und
Adlige,Farmer und Siedler die afrikanische Wildtierwelt bis auf
Restbestände dezimiert. Die Herren ließen ab 1914 Millionen Menschen
schlachten, nachdem sie die Welt in Jagdgebiete aufgeteilt hatten. Der
Gesichtsausdruck der Wehrmachtssoldaten, die auf den Leichen ihrer Opfer
posierten, hatte seine Entsprechung im Gesichtsausdruck der
Kolonialjäger auf den Elefantenköpfen.

“Konkurrenten” im Monopol auf den natürlichen Reichtum (Fischotter,
Greifvögel, Luchse, Wölfe) wurden dezimiert - entgegen allen
wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Professionelle Bisonjäger rotteten die Bisons aus, mit dem Ziel, den
dort lebenden Natives ihre Lebensgrundlage zu nehmen. Das Fleisch der
Kadaver verweste, die Zungen und Felle waren auf den Märkten im
Nordosten eine Massenware. Ein menschenwürdigeres Wirtschaftssystem
hätte mit den Bisonherden der Plains die damalige Bevölkerung des
Westens (”weiße und indianische”) ernähren können, ohne dass der Bestand
gefährdet gewesen wäre.

Die Wandertaube war einst der häufigste Vogel der Welt. Ihre Schwärme
zählten hunderte von Millionen. Heerscharen von Jägern verkauften die
Tauben für 1 Dollar das Dutzend, vor allem als Schweinefutter. 1914
starb die letzte Wandertaube im Zoo von Cincinnati. Das Motiv war Profit
und Gier. Diese Liste ist endlos fortsetzbar. Sei es der Beutelwolf, dem
die Farmer Tasmaniens nicht eingestehen konnten, neben Kängurus auch
einmal ein Schaf zu fressen, die Stellersche Seekuh, die dem Pelzmarkt
für Seeotter zum Opfer fiel, das Quagga, aus dessen Häuten die Buren
Getreidesäcke nähten. Der Mechanismus war ähnlich: Natur wurde für
kurzfristige Profitinteressen vernichtet.

Die gleiche Verwertungsvorstellung zerstört auch das Leben der Menschen.
Im Kapitalismus geht es nicht darum, ob die Maschinen die Vielfalt der
menschlichen Lebensäußerungen unterstützen, die Menschen müssen vielmehr
als Funktionseinheiten Teil der Maschine werden, die Natur ebenso. Die
Lust des Menschen, seine Freude an der Umwelt wird zerstört.

Die Regenwälder sind eine Wissenschaftsbibliothek für die heutigen und
zukünftigen Menschen. Vielleicht 10% ihres Reichtums (Medikamente,
Bionik, Nahrungsmittel…) sind bekannt. Was heute passiert, ist, diese
Bibliothek kurz und klein zu schlagen und ihre Bücher als Brennholz zu
verwenden. Das ist eine soziale Frage. Die Möglichkeit der
Wissensaneignung wird damit, für die Profitinteressen weniger, der
Mehrheit der Menschen für immer genommen.

Eine sozial emanzipatorische Artenschutzpolitik hätte bereits
kurzfristig positive Auswirkungen. Die Regionen mit der höchsten
Artenvielfalt liegen in den Ländern der Hungerleider. In Tansania,
Uganda und Kenia ist der Wildtierreichtum der einzige “Rohstoff”, in dem
afrikanische Länder den Preis bestimmen. Eine nicht zerstörende Nutzung
(Fototourismus, lokales Hotelgewerbe) könnte den Lebensstandard und die
Unabhängigkeit der Locals erheblich erhöhen.

Beispiel Spitzmaulnashorn: Innerhalb von 18 Jahren schossen
hochorganisierte Banden den Bestand an Spitzmaulnashörnern um 95%
zusammen. Die Mittelsmänner in Arabien brachten die Hörner auf den
Weltmarkt. Die Profite aus dem Handel mit “exotischen Tieren” werden nur
von den Profiten aus dem Waffen- und Drogenhandel übertroffen. Durch die
Anbindung der Trophäen an den Weltmarkt wird das Potential des
lebendigen Wildtierreichtums bei einer nachhaltigen Nutzung den
Communities genommen. Julius Nyere und Nelson Mandela erklärten die
Erhaltung des Wildtierreichtums zur Priorität: Aus der Erfahrung
antikolonialer Befreiungskämpfe. Es geht um die Erhaltung der Vielfalt
des Lebens oder um die Aufrechterhaltung einer Ökonomie der Vernichtung.

Nur einige Beispiele, wie es auch geht: Im Lake Byuoni in Süduganda
arbeiten Aidswaisen auf Inseln mit einer hohen Dichte an Vogelarten.
Touristencamps sind in die Landschaft integriert. Die Jugendlichen, die
ansonsten auf den Straßen von Kabale als Prostituierte geendet hätten,
kochen selbst und verdienen an den Touristen. In der Pufferzone des
Kibale -Nationalparks organisieren Locals ihre eigenen Projekte. Die
Alternative wäre, Bananen für einen Weltmarkt zu produzieren, der sie
nicht haben will. Die Touristen übernachten in den lokalen Herbergen.

Es fängt klein an. Die Zubetonierung intakter Biotope beraubt die dort
lebenden Menschen des Genusses, wenn der Gesang eines Vogels
Glückshormone ausschüttet. Der Warenkonsum bleibt ein Absorbieren toter
Objekte. Lebendige Wildtiere bewegen sich, verhalten sich. Menschen
können sie beobachten, von ihnen lernen (Bionik), sich an ihnen
erfreuen, ohne zum Konsum gezwungen zu werden.

Wenn die Schäden an der Natur, die die Kommunen zu tragen haben, in die
Bilanz einbezogen würden, hätte das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre
nicht stattgefunden. Der Aufschwung der asiatischen Tigerstaaten wäre
ein Fake. Ohne einbetonierte Flussläufe und mit Überschwemmungsgebieten
und Altarmen hätte es die Elbflutkatastrophe wohl nicht in dem Ausmaß
gegeben, hätten die betroffenen Menschen nicht ihre Häuser verloren.

Im Großen: Als die US-Bomber im Vietnamkrieg 75% des Regenwaldes mit
Agent Orange einsprühten wurde die Menschheit des dortigen Reichtums für
immer beraubt, ob es sich um Medikamente, nutzbare Pflanzen und Tiere,
um Ökotourismus oder die Freude an der Betrachtung der Tiere handelt.

Die Entwicklung Indonesiens zum “Schwellenland” betrieb Suharto nicht
nur mit der Ermordung einer Million Kommunisten, sondern auch mit einer
Dezimierung der Wildtierbestände. Während die indonesischen Kommunisten
in den Folterkammern starben, holzten internationale Konzerne Borneos
Regenwälder ab.

Fortschritt im emanzipatorischen Sinne bedeutet, dass die Mehrheit der
Menschen sich individuell freier entfalten, das Leben lustvoller
genießen kann als es im derzeitig der Fall ist. Human wäre es, wenn
Menschen frische Luft atmen können, wenn Kinder nicht an Krebs sterben.
Human ist es auch, wenn Menschen sich, ohne Geld bezahlen zu müssen, an
der lebendigen Natur erfreuen können.

Fortschrittlich wäre eine Technik, die dem Menschen dient und nicht dem
Kapital. Fortschrittlich wäre damit auch eine Technik, die der Natur
nicht schadet. Das schließt modernste Technik und Industrie ein. Es
kommt nicht auf die Technik an, sondern darauf, /wie/ und /wöfür/ sie
genutzt wird.

Artenschutz ist Menschenrecht. Der Uranabbau in den Navaho-Reservationen
gefährdet die dort lebenden Tiere /und/ zerstört das Leben der Menschen.
Der Rülpser eines Öltankers vor der Küste Spaniens zerstörte nicht nur
Populationen von Meeresvögeln, sondern auch die Existenz von
Austernzüchtern, kleinen Züchtern etc., die auf eine nachhaltige Nutzung
des Ökosystems angewiesen sind.

Das ökologische Grauen der brennenden Ölfelder von Kuwait ist bekannt.
Was hat die Jagd auf den weißen Wal von George W. Bush für ökologische
Folgen und damit für Folgen für die Menschen, die in diesem Land leben?
Es geht um den Konflikt Entwertung von Menschen und nichtmenschlicher
Natur oder Technik, die dem Menschen und damit auch der Natur dazu
dient, sich zu entfalten, um globalen Amoklauf oder soziale und
ökologische Emanzipation. Diskussionen über neue emanzipatorische
Theorien sind gut und wichtig. Die Auswirkungen des bestehenden Systems
könnten indes die Art Orang-Utan in 5 Jahren in Freiheit ausgelöscht
haben. Der Handlungsbedarf besteht jetzt.

In den Hexenprozessen der frühen Neuzeit redeten Herrschaftsträger den
“kleinen Leuten” ein, ihre Nachbarn, Hirten, Kräutersammler, seien
Werwölfe. Als in Sachsen das erste Wolfsrudel auftauchte, forderten
einige Jäger sofort den Abschuss der Tiere. Im Zivilisationsdogma
spiegelt sich die Anerkennung oder Missachtung des Fremden. Wie sagte
Lévi-Strauss: Die europäische Wissenschaft wird sich niemals selbst
erkennen, so lange sie nicht begreift, dass nicht eine Kultur auf der
Welt minderwertig ist. Das Ökosystem hat auch ein Eigenrecht. Es
funktioniert vollkommen ohne Menschen. Es stabilisiert diese Welt. Wie
Eugen Drewermann sagte: “Was wir momentan anrichten, kommt einer
Querschnittslähmung der gesamten Evolution gleich. Es bedeutet, alle
Arten ausschließlich darauf auszurichten, ob sie für den Homo sapiens
verwertbar sind.”

Ein Denken, dass den Europäer als Mittelpunkt in einer Welt aus toten
Objekten ansieht, ist die Hybris des 19. Jahrhunderts. Die Natur braucht
den Menschen nicht, aber der Mensch die Natur. Die Erhaltung der
Artenvielfalt und Menschenrecht schließen sich nicht aus, sondern
bedingen einander.

Werwölfe - Die Kulturgeschichte der Tierverwandlung


I) WERWÖLFE - Die Kulturgeschichte der Tierverwandlung

Werwölfe gehören neben Vampiren und Hexen zum Inventar der Horrorliteratur und des Gruselfilms. Sie sind dadurch bekannt geworden als Menschen, die sich bei Vollmond in rasende Bestien verwandeln. Sie gelten als Verfluchte, die bei Beginn der Vollmondphase ihr Haus nicht verlassen können, ohne eine Gefahr für ihre Mitmenschen zu sein, die gefesselt werden müssen und anfallen und zerreißen, was sich ihnen in den Weg stellt: Wütende Kannibalen in Tiergestalt, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind. Auch in das Fantasy - Epos „Der Herr der Ringe” nahm J.R.R. Tolkien den Schreckenswolf Warg als Tier von Sauron auf, dem Statthalter des bösen Gottes Morgoth. Sauron hieß ursprünglich Gorthaur: Herr der Werwölfe.
Nur wenigen ist jedoch bekannt, dass die Werwölfe keine literarische Erfindung sind, sondern als Glaubensvorstellung seit dem Altertum existent: Heidnische Kulturen verehrten „Wolfsmenschen”, die mythischen Gründer Roms wurden von einer Wölfin gesäugt; Menschen, die den üblichen Normen nicht entsprachen, wurden als Werwölfe angesehen und vom Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert hinein als solche gebrandmarkt.
Der Werwolf war kein ahistorischer Archetyp für menschliche Ängste, also die Virtualisierung der Angst vor dem Unbekannten, vor der „Bestie, die in uns allen schlummert,” sondern eine aus der europäischen Kulturgeschichte hervorgegangene „reale” Figur: Es bestand der Glaube an die tatsächliche Verwandlung eines Menschen in einen Wolf. Diese Vorstellung der Tierverwandlung ist nicht auf Europa bezogen. Afrikanische Kulturen haben entsprechend ihre Werkrokodile, Werleoparden und Werlöwen. In Indien kannte die Mythologie Wertiger, in Russland Werbären, in Japan ersetzten Werfüchse die verwandelten Wölfe, nachdem der Wolf in Japan ausgerottet war - ein mythengeschichtliches Pendant zur englischen Fuchsjagd als Nachfahre der Wolfsjagd. Auch in indianischen Kulturen war und ist die Verwandlung von Menschen in Tiere, die als Freunde und gleichberechtigte Wesen innerhalb eines kosmischen Kreislaufs angesehen werden und wurden, ein traditionelles Element. Die Sioux und die Comanchen glaubten, dass der Wolf ihr Verwandter sei. Dschingis Khan leitete seine Herkunft von einem Steppenwolf ab.
Schamanen verließen den Körper in Tiergestalt.
Der Werwolf ist innerhalb eines weiten Spektrums mythologischer Verbindungen von Mensch und Tier ein eigenständiges und besonderes Phänomen. Kein Tier ist dem Menschen enger verbunden als der Wolf und seine Haustierform - der Hund. Menschen und Wölfe jagten gemeinsam. Kein Tier ist so sehr Teil der menschlichen Gemeinschaft wie der Wolf. Tiermenschen waren und sind in der Mythologie Standard: Schwanenmädchen, Quellennymphen, Meernixen (Mensch plus Fisch), Satyrn (Mensch plus Ziegenbock), Kentauren (Mann plus Pferd), Minotauren (Mann plus Stier), die Liste der Tiermenschen ist fast so lang wie die Liste der Tiere. Kein Tier inspirierte aber Mythen so wie der Wolf. Die mythische Verbindung zwischen Menschen und Wölfen als ein Wesen existierte im südgermanischen Sprachraum als Werwolf, im angelsächsischen als Werewolf, im griechischen als Vrykolakas, auf dem Balkan als Vukodlak.
„Werwölfe” im germanischen Altertum und Frühem Mittelalter

Das Wort „Wolf” leitet sich ab vom gotischen „vilvan”, das „rauben” oder „reißen” bedeutet. Insofern war die Bezeichnung Wolf im Altertum nicht explizit auf das Tier bezogen, sondern beschrieb eine Eigenschaft, die auch und gerade menschlichen Räubern zukam: Adolf oder Adalolf hieß der „edle Räuber”. Wolfgang war der, der „den Raub ausführte” beziehungsweise „in die Schlacht zog”, Rudolf war der „Ruhmwolf” oder der „ruhmvolle Räuber” und Ulrich der „Wolfshüter” oder der „Wächter des Räubers”. Der Wolf erscheint ethymologisch als Mensch. Mensch und Tier wurden folglich aufgrund einer charakteristischen Eigenschaft gleichartig bezeichnet. Hans-Peter Duerr untersuchte den Werwolfsbegriff unter dem Aspekt der Übernahme von gewünschten Eigenschaften eines Tieres genauer. Er erkannte, dass bei Menschengruppen, die in unmittelbarerem Austausch mit der Natur standen als die Gesellschaften der Neuzeit eine Auflösung der Grenze zwischen Kultur und Wildnis rituell herbeigeführt wurde. Erst das Verlassen der Kultur und das bewusste Aufsuchen der Natur, in der die betreffenden Individuen sich mit dem ihnen innewohnenden Tieraspekt konfrontierten, zeigte ihnen ihren Ort in der Gesellschaft. Der Werwolf war für Duerr ein Mischwesen in einer Zeit und Welt, in der Chaos und Ordnung keine Gegensätze sind. So waren in heidnischen Gesellschaften „Tiermenschen” die Krieger- und Männerbünde, denen das Recht zustand, zu töten. Sie verließen aufgrund göttlicher Weisung die Gesellschaft, lebten in der Wildnis und durften richten (im Sinne von „hinrichten”), weil sie als gesellschaftlich „tot” galten und dämonisiert waren. Dämonen wurden in heidnischen Gesellschaften üblicherweise als Tote oder als Tiere dargestellt und die Werwölfe waren solche Wesen, die menschliche Gestalt annehmen konnten, aber keine Menschen mehr waren. Die Trennung zwischen Menschen und Tieren, Menschen und Geistern war eine durchlässige. Tiere und Menschen konnten verschmelzen.
Als ausgewiesene Gruppe dieser Art beschrieb Duerr die „Berserker” oder „Bärenhäuter”, die die Leibwache der norwegischen Könige im frühen Mittelalter bildeten. Die Berserker handelten innerhalb eines nur für sie geltenden Kriegsrechts. Sie kleideten sich in die Felle von Bären oder Wölfen, um so mythologisierte animalische Kräfte wie Mordlust und Gewalttätigkeit anzunehmen. Bezeichnend ist, dass die Berserker Insignien des Todes als Schmuck trugen, die ihren Status als gesellschaftlich „Tote” symbolisierten. Die Berserker waren demnach Menschen, die sich bewusst in einen Ausnahmezustand ekstatischer Wildheit begaben und so zu Werwölfen wurden. Wie ihr Gott Odin, der sich auch in verschiedene Tiere verwandeln konnte (und speziell in einen Wolf), waren sie diejenigen, die über Tod und Leben zu entscheiden hatten. In der Erzählung von Beowulf, dem Bärenwolf zeigt sich diese Verehrung der wilden Beutegreifer. Ein anderer Name für besondere Krieger war „Ulfhepnar”, die in Wolfshaut gekleideten. Hinter solchen Bezeichnungen stand der Glaube, dass Menschen durch das Überwerfen eines Wolfspelzes und Tänze, die Wolfsverhalten nachahmten Wolfskräfte entwickeln konnten.
Die Berserker galten als besondere Günstlinge des Gottes Odin, der in seiner Frühform als Wodan, Wuotan oder Wotan (der Wütende) bekannt war. Während Wotan als plumper Haudegen charakterisiert wird, stellte Odin die spätere und verfeinerte Variante dar, die im Zuge eines ausgeweiteten Heerwesens eine Mischung aus Kriegsschamane, Militärstratege und weisem Übervater bedeutete. Odins Tiere waren bezeichnenderweise zwei Wölfe und zwei Raben. Wie der Rabe war auch der Wolf im germanischen Glauben ein dem Tode zugeordnetes Tier. Beide galten als feste Begleiter des Geschehens auf den Schlachtfeldern - zu Recht. Jede Religion hat einen wahren Kern, die frühen Jägergesellschaften waren Mensch-Wolf-Rabe Gruppen und dem Gott Odin liegen vermutlich Jagdschamanen zu Grunde. Wölfe folgten den Raben, die über potenzieller Nahrung kreisten und die Kooperation zwischen den mobilen Wolfsrudeln mit ihrem guten Gehör und Geruch und den aufrecht gehenden Menschen mit Distanzwaffen war eine erfolgreiche Einheit. Wölfe folgten später den Heeren in der Aussicht auf Nahrung.
Reale Jagstrategien können in die „Wolfsgewandung” eingeflossen sein. So warfen sich Indianer Wolfsfelle -wie beschrieben- über und krochen in Wolfsverkleidung in die Bisonherden, da Bisons vor einzelnen Wölfen keine Angst haben. Volkskundler erkannten darin die Basis für die Vorstellung von der Tarnkappe, die unsichtbar macht. In den frühen Jägerkulturen waren Wölfe Teil einer positiven Identitätsbildung auf der Grundlage der Kooperation zweier Spezies. Das sollte sich im Christentum ändern. Die Werwolfsvorstellungen im Mittelalter und der frühen Neuzeit sind Thema im nächsten Teil.

Historiker, Dozent, Publizist