Dort

Friedhof zwischen Laternen,

alter Weg,

alte Gespräche,

zwischen mir

und mir

und einer

leisen Seele

irgendwo

dort

zwischen

Gräbern

Werwölfe- Cover für den Vortrag im Kreismuseum Bad Liebenwerda

Der Muttersohn

Der Muttersohn

Xorxoril trat aus der Höhle hinaus. Er hatte Xorgolchoron, die Stadt der Todeselfen, hinter sich gelassen, war durch Tunnel gekrochen und durch unterirdische Flüsse geschwommen, hatte den Grottenspinnen Gift abgezapft und sich vor den Steinsalamandern versteckt.

Der volle Mond beschien das Tal mit Zwielicht und ließ die Elfensiedlung im Wald wie aus Silber gegossen erscheinen. Das Halbblut konnte diesen Nachtfrieden nicht genießen. Dort unten lebte seine leibliche Mutter Iliolin, eine Elfe des Buchenwaldes, die er seit zwölf Wintern nicht mehr gesehen hatte. Seine Zeugung hatte ihn zum Außenseiterdasein verdammt. Die im Tal unten hielten seine elefantenfarbene Haut für verräterisch, die Schwarzelfen misstrauten ihm ebenfalls, egal, was er tat. Xorxoril hatte Menschen und Zwerge gefangen und sie seiner Schöpferin, der Todesmutter geopfert und doch blieb er für die Kinder der Todesmutter der Murdulul, der Mischling.

Xorxoril prüfte seinen Obsidiandolch und schlich durch das Unterholz. Seine graue Haut tarnte ihn perfekt und das Hemd aus Menschenhaut hatte er ebenfalls in den Farben des Mondes gefärbt. Aber auch die Verwandten, die Buchenwandler, wie sie sich nannten, waren Elfen und hatten scharfe Sinne wie er. So beobachtete er jeden Baum, jeden Farn, jeden Weißdornbusch drei Mal und verkleidete sich. Er schlüpfte in eine Robe aus geflochtenen Birkenzweigen und zog die bleiche Haut eines erbeuteten Menschen über das Gesicht. Seine Ohren bestäubte er mit Kalk. Das war nicht genug, er schloss die Augen und murmelte einen Zauberspruch, fühlte, wie sich die rosige Haut über seine eigene legte, seine Haarwurzeln eins mit der Hülle seines Opfers wurden.

Dann aktivierte er sein Quartzamulett, das Auge der Todesmutter. Jetzt konnte er sich wie eine Viper zwischen dem Krokus und dem Bärlauch hindurch winden. Er legte einen Tarnzauber auf seine schwarze Rüstung und seine Waffen, die jetzt den Anschein von Laub und Farngestrüpp erweckten.

Wenn die Elfenwachen auf das Rascheln aufmerksam würden, hörten sie zugleich das Schnaufen und Schmatzen eines Igels. Er hatte keine mächtigen Zauber angewandt, die Wachen waren zwar Elfen wie er, aber der Krieg hatte längst geendet und Xorxoril hoffte auf ihre Unachtsamkeit. Er würde seine Energie später noch brauchen.

Sie standen am Rosensee, drei Buchenwandler, so hießen sie, die Waldelfen, zu denen er einst gehört hatte, mit Langbögen und Jagdschwertern. Die Elfen zuckten tatsächlich, als er sich vorbeischlängelte, beruhigten sich aber binnen eines Augenblicks. Die Waldverwandten schienen sich in Sicherheit zu wiegen, sonst hätten sie einen Magier postiert und dann hätten sie ihn vielleicht gefangen.

Binnen eines weiteren Augenblicks steckten Obsidianpfeile in den Herzen der ersten beiden Waldelfen. Der dritte sprang geschwind hinter einen Holunderbusch, genau in Xorxorils Obsidianklinge, den Ritualdolch, den Fangzahn der Todesmutter, die er der Wache durch das Zwerchfell in die Brust bohrte. Die Größe des Ermordeten entsprach ungefähr der Größe des Eindringlings. Xorxoril zog den Umhang der Leiche über und zog deren Helm in Form einer Tulpenblüte über den Kopf, denn der Zauber würde nicht lange anhalten. Die Anderen zog er hinter den Holunderbusch, nachdem er ihre Herzen aus den Körpern entfernt hatte. Er biss in die Herzen hinein und verschlang von jedem ein Stück roh, dann begrub er sie in der feuchten Erde und betete zu seiner Göttin. Seiner Religion zufolge waren alle Kreaturen entstanden, als Xorgolgorchara, die Eine, die Dämonen der Zeit vor der Zeit besiegt und ihr Blut auf der Erde vergossen hatte. Aus den Blutstropfen waren sie entstanden, die Elfen, die Menschen und die Tiere. Und Blut mussten ihr ihre Diener darbieten, um ihrer Göttin die Ehrerbietung zu zeigen. Denn die Prophezeiung sagte, dass Xorgolgorchara in fünfhundert Wintern auf die Erde kommen und alle Kreaturen verschlingen würde. Wenn ihre Diener ihr heute schon Fleisch- und Blutopfer brachten, konnten sie dem Untergang vielleicht entgehen und würden Geister in der neuen Zeit werden. Xorxoril sang: „Todesmutter, die alles gebiert und alles verschlingt, nimm dieses Opfer in deinen Bauch zurück.“

Der Mörder beendete sein Gebet, dann ging er aufrecht die Straße zum Baumhausdorf der Waldelfen entlang und erreichte die Siedlung ohne Zwischenfälle. Die Silberhunde, die Wachhunde der Waldelfen, knurrten kurz und sprangen dann zu ihm, wollten ihm über das Gesicht lecken. Die Hunde kannten zum Glück die Vorurteile seiner Verwandten nicht, sahen in ihm einen Elfen, keinen Bastard.

Er hielt kurz inne und fühlte sich in die Zeit zurück, als er hier mit Myrilia, seiner Waldschwester, Wildkatzen zur Jagd abgerichtet hatte, vor achtzehn Wintern. „Keine Zeit zu träumen“, murmelte der Rückkehrer und nutzte die Schatten, um zur Trauerweide am Nordufer des Rosensees zu kommen. „Das ist immer noch so schön wie damals“, flüsterte der Elf, während er die spiegelnden Sternbilder im Wasser bewunderte und das wie eine Mistel in die Weidenkrone geflochtene Haus seiner Mutter betrachtete. „Hätte ich nur hier bleiben können“, nuschelte er und eine Träne floss sein durch Zauber verformtes Gesicht hinab. Dann erhob sich seine Stimme wie das Zirpen von Grillen, wie die Töne der Nachtigall; in der Sprache der Waldelfen sang er das Lied von den beiden Libellen, auf denen zwei Elfenkinder in den Himmel ritten. So rein, so klar summte er, dass kein Buchenwandler ihn für jemand aus der Unterwelt hätte halten können; und sein Gesang mischte sich mit dem Buhen der Eulen, die durch die Nacht flogen, den Brunftschreien der Hirsche und dem Schnattern der Wildenten, die sich auf dem See zum Schlafen eingefunden hatten.

Dann öffnete sich eine Luke da oben, ein Mensch hätte wohl nur einen Schatten wahrgenommen, und ein Gesicht erschien, wie das Gesicht einer Frau, aber diese herzförmigen Konturen, diese Mandelaugen in Smaragdgrün, diese Haare wie Saiten einer Harfe, so schön konnte keine Menschenfrau sein und auch die meisten Elfinnen nicht.

„Sisiolili, Morgentau, mein Sohn, bist du es?“ Vor seiner Mutter konnte er sich nicht verkleiden, ob mit oder ohne Zauber, aber dieser alte Name, das war nicht mehr er: „Ja Mutter, ich bin aus dem schwarzen Bauch der Erde zu dir zurückgekommen.“ Die Stimme seiner Mutter klang überrascht: „Ich hatte nicht gehofft, dass wir uns noch einmal wieder sehen. Der Buchenrat hat mir verboten, Kontakt aufzunehmen. Sie bewerten dich als Todeselfen, nicht als einen der ihren.“ „Ich komme von den Todeselfen zu dir, Mutter.“ Iliolin antwortete, ohne zu zögern: „Ja, aber du bist mein Kind, und ich fürchte mich nicht vor meinem eigenen Blut. Das Böse, das du dort gelernt hast, kann gegen die Kraft einer Mutter gegenüber ihrem Sohn nicht ankommen. Ich werde dich heilen, mein Morgentau.“ „Darf ich hereinkommen?“, fragte Xorxoril. „Mein Sohn, mein Haus ist dein Haus, es ist das Haus deiner Familie, deine Schwester hat hier gelebt und dein Bruder Biolgilol Schilfflöte“, empfing ihn seine Mutter.

„Sie sind nicht mehr hier?“, fragte Xorxoril erleichtert. „Nein, mein Morgentau, Myrilia ist als Musikantin an den Hof von König Niogolfin in die geheimen Gärten gezogen und Biolgilol, nun.“ „Was ist mit ihm?“ „Dein Bruder ist tot. Er starb im Krieg gegen die dunkeln Verwandten, bei denen du die letzten Jahre verbracht hast. Sie ketteten ihn an einen Felsen und ließen ihn von den Bestien der Tiefe zerfleischen.“ Xorxoril lächelte. „Krieg ist die normale Beziehung zwischen den Kindern des Waldes und den Kindern Xorgolgorcharas aus dem Bauch der Erde. Ich hoffe, er ist gestorben, ohne herumzujammern“, zischte der Sohn.

Xorxoril dachte an die alten Jahre: Heute vor achtunddreißig Wintern hatten die Todestänzer, wie die dunklen Elfen sich selbst nannten, ihre oberirdischen Gattungsverwandten überfallen und einige von ihnen gemartert. Die Folter war jedoch nicht das Ziel gewesen, der Raubzug diente einem Blutopferritual. Ygorroriul Lavapfeil, Hohepriester der schwarzen Göttin, der alles gebärenden, alles verschlingenden Erdmutter Xorgolgorchara, hatte die schönste Elfe der Waldverwandten geschändet und in einer Obsidiangruft gefangen gehalten. Dort sollte sie ihr Kind zur Welt bringen, ein Kind, in dem die Liebe zum Leben der Waldelfen mit der Mordlust der Todesalben verschmolz. Das Herz des Säuglings hatte der Hohepriester der schwarzen Göttin als Opfer versprochen. Doch Iliolin war entkommen, hatte sich in einer Grotte unter dem Rosensee verborgen und das Kind großgezogen, Morgentau hatte sie es genannt.

„Ich weiß noch, wie Biolgilol mich das erste Mal sah, als ich aus der Grotte hinaus durfte.“ „Ja, mein Morgentau, und er nannte dich Mäuschen, weil deine Haut grau schimmerte wie Mäusefell.“

Xorxoril kletterte das Weidennetz hoch zum Eingang seines Mutterhauses. Sie drückte ihn an ihre Brust. Zwölf Winter waren keine Zeit für eine Elfe und nur ein Sohn konnte die feinen Falten an ihren Augen erkennen, fein wie Spinnweben. Xorxoril blickte sich um. Der Tisch aus Erlenästen, das Bett aus Rosenholz, alles war wie damals. Über dem Bett hing das Bild von ihm und seiner Schwester, das Bild, das Gilgialin Birkenzweig, der Dorfkünstler, damals gemalt hatte. „Kochst du uns einen Krokustee ?“, fragte der Sohn seine Mutter. „Ja, mein Morgentau, du hast ja einen harten Weg hinter dir. Aber sag, warum trägst du die Kleidung der Buchenwächter?“ „Ich habe die Wachen getötet.“ „Mein Sohn, du hast dich mit Blut befleckt. Jetzt kannst du nicht mehr hier bleiben. Du hättest dich doch an ihnen vorbei schleichen können.“ „Ich musste ein Opfer bringen. Ich kann nicht mehr zurück, ich will nicht mehr zurück. Ich diene einer höheren Macht“, dachte sich der Rückkehrer und erkannte an den Iliolins Augen, dass sie seine Gedanken erraten hatte.

Das Baumhaus duftete vom kochenden Krokuswasser, dann trank Xorxoril aus einem Rindenbecher. „Die Zeit bei den Dunkelelfen hat dich verroht, mein Junge. Früher konntest du nicht einmal ein Eichhörnchen umbringen. Du hast nur Früchte und Pflanzen gegessen, weil du kein Tier töten wolltest.“

Xorxoril fixierte seine Mutter mit seinen smaragdfarbenen Augen. Der Blick hätte einen Menschen wohl erzittern lassen, aber nicht Iliolin: „Sie haben andere Sitten dort unten, Mutter. Sie feiern nicht das Leben, denn das Leben ist nur ein Atemzug auf dem Weg in das Reich der Muttergöttin. Sie verehren die Göttin Xorgolgorchara, die Todesmutter, die alles Lebende in sich aufnimmt, nachdem sie es in die Welt hinaus geworfen hat. Nicht Bardensang und Liebesspiel, sondern Krieg und Mord zeigen die Ehrerbietung der Göttin gegenüber.“ Seine Mutter blickte ihrem Sohn entsetzt in das Gesicht: „Das ist ja schrecklich. Warum bloß hat dich damals das Waldvolk diesen Ungeheuern ausgeliefert? Du redest, als wärest du ein Schwarzelf.“ Sie formte ihre Hände zum Halbkreis der Mondsichel und sang das alte Zauberlied, mit dem sie ihre Kinder einst vor den Kreaturen der Nacht, den Blut saugenden Elfenvampiren, den Todesfeen und den lebenden Toten geschützt hatte.

Xorxoril zitterte und umklammerte den Fangzahn der Todesmutter an seinem Gürtel aus Zwergenhaut. Schwarze Strahlen wirbelten vom Dolch seinen Unterarm hoch, legten sich wie ein Netz um seine Brust, stellten sich wie ein Schild aus dunklem Nebel vor sein Gesicht.

„Morgentau, was tust du. Ich schütze dich, du musst keine Wand aufbauen, um deine Mutter abzuwehren. Ich will, dass es dir wieder gut geht. Du musst viel gelitten haben, mein armes Kind. Xorxorils Stimme hinter dem Schleier klang leblos, ohne Emotion, so als hätte Lavagestein zu sprechen begonnen: „Mutter, die Kinder Xorgolgorcharas sind Elfen, so wie ihr.“ Das Gesicht seiner Mutter glühte grün und die Energien des Waldes zentrierten sich in ihr: „Es sind böse Elfen, mein Sohn. Du bist kein Schwarzelf. Sie haben dir das schöne Leben genommen, das du hättest haben können, die Gesänge des Waldes. Sie haben dir das Gefühl genommen, was es bedeutet, ein Elf zu sein, die lieblichste Kreatur, die Cerlihilian, der erste der Götter, geschaffen hat, ein Elf, ein Wesen, geschaffen, um allen lebenden Wesen Freude und Glück zu schenken, ein Wesen, in dem Cerlihilians Reich des Regenbogens schon in der Welt des kreatürlichen Lebens Gestalt annimmt. Cerlihilian ist ein guter Gott, der die Elfen kennt und liebt.“ Von ihren Augen gingen grüne Strahlen aus, Strahlen, die in sich das Leuchten des Mondes auf den Eichenblättern ebenso zu tragen schienen wie das Farnkraut und die satte Farbe der immergrünen Mistelzweige. Wie in einem Kaleidoskop blitzen die Formen von Hyazinthen und Rosen, Krokussen, Lilien und Orchideen, ja von den verschiedensten Blüten des Waldes auf und spielten wie von einer Brise des Sees getragen, um Xorxoril.

Aber es war, als würden sie an einer Wand aus schwarzem Glas aufprallen, ohne eine Öffnung, durch die sie hinein fliegen konnten, um den Körper des Elfen, seine Haut, zu erreichen. Aus Iliolins Augenstrahlen schien sich eine Gestalt zu formen, in gelbgrünem Licht, wie ein Wesen aus der Uferzone des Sees, wenn die ersten Strahlen der Morgensonne die Wasseroberfläche erwärmten. Es ballte sich zusammen wie eine gold glühende Wildkatze, aber mit Schwimmhäuten an den Füßen wie ein Fischotter, das Tier der Wiedergeburt der Waldelfen. Der Schwanz, buschig wie der eines Eichhörnchens schlug hin und her wie der einer gereizten Katze und schien dabei einen Sternenschweif mit sich zu ziehen. Am goldig glitzernden Katzenkopf wuchsen Geweihstangen. Xorxoril schluckte und dachte: „Iliolin hat einen Chililionik beschworen, einen Waldgeist, nicht den mächtigsten, aber der Geist hatte einen Heimvorteil, denn er zog seine Kraft aus der Energie des Waldes. Früher war das mein Schutzgeist, ein Geist der aufgehenden Sonne. Er hat mich vor den Schwarzelfen behütet.“ Xorxoril hatte nur den Dolch, dessen Vulkanglas ihn mit den Dämonen der Erdmutter verband. Doch sie mussten einen weiten Weg zurücklegen und die Waldelfen hatten die Astralwelt ihres Buchendorfes hervorragend gesichert. Geister des Farns, Feenwesen der Weiden, Dryaden und intelligente Baumwesen bemerkten das Eindringen fremder Energien. Geisterhunde in den Morgennebeln, Mondkatzen, deren Blick hypnotisierte und andere Kreaturen des Waldes sorgten dafür, dass die Schwarzelfen den Wald nicht verheerten. Xorxoril war den Wächtern der Haine nicht aufgefallen, denn in ihm pulsierte auch noch das Blut der Buchenelfen, tief verborgen. Und er wusste, was seine Mutter vorhatte. Der Chililionik kämpfte nicht gegen ihn, sondern sollte den Schleier des Bösen von ihm nehmen, der sich wie eine zweite Haut über ihn gelegt hatte. Xorxoril würde die Geister gegeneinander kämpfen lassen, im Ernstfall bevorzugte er einfache Methoden und Zaubern kostete Energie.

Vor dem Chililionik schien die Luft zu brodeln und die Form einer Spinne wie aus Lavaglas bewegte sich lautlos in der Luft, schien ein Netz aus Kristallfäden um Xorxoril zu weben. Einzelne Sternregen prasselten durch die Öffnungen im Netz, aber fielen zu Boden, bevor sie den Körper des heimgekehrten Sohnes erreicht hatten. Die Schwarzglasspinne stürzte sich auf die katzenartige Manifestation. Die wiederum fuhr mit Goldkrallen über den Hinterkörper der Glaskreatur, fauchte und versuchte, sich in den Kopf hinter den Mandibeln der Spinne zu verbeißen.

„Lass die Geistwesen das untereinander regeln“, flüsterte Xorxoril freundlich Iliolin zu. „Ich bin nicht hier, um zu kämpfen. Gut und böse liegt im Auge des Betrachters. Die Dunkelheit hat die Kinder der Todesmutter dunkel werden lassen, Mutter. Sie sind Geschöpfe der Unterwelt, deshalb verhalten sie sich so, wie sie sich verhalten müssen, sie dienen der Göttin, die sie geboren hat.“ „Aber in dir, mein Junge, in dir steckt ein guter Kern. Du bist mein Kind, nicht das Kind dessen, der mich schändete.“

Xorxoril schwieg, sein Leben stellte ihn vor Aufgaben, die seine Mutter nicht erahnen konnte. Dann sagte er ruhig: „Schick bitte den Chililionik in den See zurück. Ich möchte jetzt nicht mit ihm spielen.“ „Ja, mein Morgentau“, antwortete die Waldelfe und schloss die Augen. Der Goldschweif wirbelte im Raum umher, die Katzenform zog sich wie eine in der Luft rotierende Schlange zusammen und zog sich den Baumstamm hinab in die Uferböschung des Sees.

Sie tranken still von dem Krokustee, Iliolin streichelte über seine Maske: „Deine Haut ist nicht mehr grau wie früher und dein Gesicht sieht anders aus.“ Xorxoril senkte den Kopf und hob den Zauber auf. Die Hautmaske fiel vom Gesicht:„Doch, Mutter, ich habe immer noch die Farbe eines Mischlings, aber ich bin es nicht mehr.“ „Nein, mein Sohn, denn du bist zu mir zurückgekommen, in den Wald. Du hast dich entschieden, das Leben eines Elfen zu genießen und deinen Frieden zu finden.“ „Ja, Mutter.“

Iliolins Augen blickten traumtrunken in die leuchtende Iris ihres Sohnes, dann fiel ihr Kopf auf den Tisch. Xorxoril nahm ihr Handgelenk und fühlte den Puls. „Das Spinnengift hat seine Wirkung getan. Dein Herz schlägt nicht mehr. Ich bin nicht hier, um zu kämpfen, ich bin zurückgekommen, um dich zu töten und ich habe es getan.“ Mit schnellen Schnitten seines Obsidiandolchs trennte er Iliolins Kopf vom Körper, dann öffnete er den Brustkorb und entnahm das warme Herz.

Er blickte nach draußen. Die Sonne kroch bereits in die Laubdecke und legte einen Goldschimmer wie ein Mosaik über die Kronen, wie es nur in einem Ort der Waldelfen vorstellbar sein konnte. Xorxoril blickte auf den Morgentau, der sich auf das Gras gelegt hatte: „Keine Zeit mehr, um meiner Kindheit hinter her zutrauern“, hustete der Elf mit Selbstverachtung in der Stimme, steckte den Kopf und das Herz der Frau, die ihn geliebt hatte, in seine Rückentasche. Dann nahm er das Bild von der Wand und fügte es hinzu.

Er ging mit schnellen Schritten, aber ohne zu rennen, durch das Dorf. Die ersten Waldverwandten blickten bereits aus ihren Rindenhütten und winkten ihm zu, ihm zu, ihm, der den Umhang der Wache trug. Dann gelangte er zum Wald, folgte dem Bachlauf entgegen dem Strom, bergauf. Kein Silberhund würde seine Spur finden. Er warf den Umhang in ein Dickicht. Xorxoril rannte die Serpentinen hinauf zu den Granitfelsen, kam zu dem verborgenen Eingang, sprang zwischen den Stalaktiten und Stalagmiten hindurch und sang in der Sprache der Schwarzelfen, ein anderes Lied als das Lied des Waldes. Sein Lied klang wie das Röcheln Verwundeter, wie das Knirschen von Daumenschrauben, wie Peitschenschläge in sonnenlosen Verliesen.

Der Elf kam zum unterirdischen Fluss und dort warteten sie, die Wachen seines Erzeugers, fünf Herzjäger der Unterwelt und zwei Nekromanten, denn die Kinder aus dem Bauch der Erde wiegten sich niemals in Sicherheit. „Warst du erfolgreich?“, fragte ihn der Anführer. „Sonst wäre ich nicht zurückgekommen“, knurrte Xorxoril, dessen grüne Iris schwarz zu leuchten schien. Die Eskorte geleitete ihn zu ihrem Nachen aus Rippenknochen, bespannt mit Zwergenhaut, sie fuhren Stunden um Stunden durch die Dunkelheit, bis sie zum Wasserfall der Höhlen kamen. Die Wachen vertäuten das Boot am Obsidianhafen.

Dann stiegen sie die Felstreppen hinab in die Lavasteinhöhle, zum Tempel der Todesmutter von Xordoron. Zum ersten Mal in seinem Leben durfte Xorxoril die Kultstätte betreten.

Xorgolgorcharas Priester hatten sich um den runden Obsidianaltar versammelt und lauschten stumm den Ritualgesängen ihres Meisters. Er stand in ihrer Mitte, seine Haut glänzte schwarz wie poliertes Ebenholz und seine Haare fielen weiß wie pulverisierte Knochen ab. Xorxoril betrat mit gemessenen Schritten den heiligen Kreis und fiel vor Ygorroriul Lavapfeil auf die Knie, öffnete die Rückentasche und legte dem Hohepriester das Herz und den Kopf zu Füßen. „Nun, mein Sohn, du hast die Prüfung bestanden. Ab heute bist du für uns kein Murdulul mehr, kein Bastard; und wer dich jemals einen Mischling nennt, wird den Tod empfangen. Dieses war dein erster Schritt auf deinem Weg, ein würdiger Nachfolger deines Vaters zu werden, ein Dunkelelf unter Dunkelelfen, ein Geschöpf der Finsternis, dessen Seele so schwarz ist wie die Tränen der Göttin, der du dienst, deiner Todesmutter.“ Xorxorils Augen glänzten und eine Träne floss über seine grauen Wangen. Alle Zweifel, alle Unsicherheiten seines früheren Lebens lösten sich auf. Er hatte die Prüfung bestanden und war aufgenommen in die Priesterschaft der Xorgolchara; er hatte bewiesen, dass er seinen Namen mit Würde trug: Xorxoril, das Blutopfer. Er neigte seinen Kopf vor dem ausdruckslosen Antlitz desjenigen, der einst seine kreatürliche

Mutter geschändet hatte: „Danke, Vater. Ich habe lange gebraucht, aber jetzt bin ich endlich in den Hallen unserer Muttergöttin angekommen.“

Venezuela / Roraima / Canaima

Der Teich

„[...] Je nach der Psyche des Träumers ist es möglich, dass er im Traum eine Sprache spricht, die ganz besonders raffiniert verschlüsselt ist und der man nur schwer auf den Grund kommen kann. [...]“

Hanns Kurth, So deute ich meine Träume

Arnold ging auf einem Teich, ging, wandelte, wanderte, doch er sank nicht ein, er wollte einsinken, kühles Wasser unter sich spüren, wie die Russen, die nackten Russen in ihren Eislöchern. Er sank nicht, kein Naß umspülte ihn, so umschloß ihn Wasser, seinen Geist setzte er vor seine Füße, im Wasser aber lag ein Loch, ein Wasserloch wie die schwarze Fruchtblase einer verwesenden Mutter.

Er ging hinein, er sprang hinein, tauchte Meter um Meter, zehn Meter, hundert Meter tief, so tief, dass um ihn herum Fische schwammen, die leuchteten wie Laternen mit großen Mäulern und skalpellartigen Zähnen und riesige dunkelblaue Tintenfische, die Augen groß wie Teller. Doch er ließ sich nicht abbringen und tauchte weiter. Der Druck auf seine Schädeldecke nahm zu, erreichte den Klimax, sein Kopf begann zu platzen. So schien es, dann tauchte er tiefer, ohne den Grund zu erreichen, vorbei an blühenden Korallengärten, vorbei an Tiefseekrabben mit mannsgroßen Scheren, vorbei an den Geschöpfen dieser nassen Dunkelheit, tauchte, tauchte, tauchte.

Endlich nahm der Druck ab, löste sich auf und Arnold konnte frei atmen, Wasser atmen, Flüssigkeit atmen, nein, nicht mehr atmen. Was war geschehen? Er war doch nicht tot und dennoch: Er atmete nicht mehr. Arnold sah alles um sich herum in der tiefsten Nacht, so klar und scharf umrissen wie wohl nie zuvor im Leben.

Dann erblickte er tief unter sich etwas wie ein Bauwerk, ein Bauwerk aus Metall oder aus Stein, vielleicht auch aus einer Mischung von beiden. Burgen, Paläste, Felsen, er wußte nicht, wie er das alles benennen sollte, ein Bauwerk schien in grünes Licht getaucht, so tief unten in diesem Meer, so tief im Meer eingebettet, soviel älter als dieses Meer, es strahlte unten im Wasser im Schein einer Heiligen, dort unten in der Tiefe.

Sanft tauchte ein Wissen in ihn ein. Diese Stadt, Meerkernwesen nannte er das da unten, war niemals erbaut worden, sondern sie hatte erbaut, geschaffen, dieses Muttermal des Meeres baute und erschuf, erschien als Hermaphrodit des Weltenbaus, so schien sie ihm, während er um sie herumschwamm.

Kein Eingang, kein Fenster, keine Pforte, kein Einlaß in diesem Kolosseum längst vergessener Kraftformen, allein der Erbauer fehlte, denn dies da war aus sich selbst entstanden. Nichts Anderes. Nur schwarzes Wasser in Bergen, Schicht um Schicht um das Monument herum, Schicht um Schicht, Druckschichten aus Wasserbergen. Die Substanz des monolithischen Giganteums war ihm nur durch Analogien faßbar, Ähnlichkeit zu porösem Basalt, aber härter, Granit, doch glatter, Obsidian, doch ohne Schärfe, glattschwarzes Glas. Dies alles enthielt das Werk und doch auch etwas vollkommen Fremdes, dass totgedacht worden war, totgeglaubt erschien. Aus den Äonen uralt ertrunkener Geister stand es klar und fest umrissen.

Diese Stadt, dieser in einem Block ruhende Koloß, hatte schon Zeitalter um Zeitalter gestanden bevor das Meer sich schuf, bevor es das Meer überhaupt gegeben hatte. Das Meer. Arnold floß, sein Körper floß in alle Richtungen, floß durch Flüssigkeiten, Zeiten und Vergänglichkeiten. Durch alle Zeiten.

Aber dort, diese Welt, dieses Nichts dort unter der Stadt, das blaue Licht, so blau, so glühend, wie ein Triton, wie Schweben, wie Nichts, nur blau, unter dem Bauwerk, im Tempel, im Bauch, nur eine Ätherflocke, keine Bewegung, Schwerelosigkeit, ein versunkenes Meer, die Augen fehlen, wie in Blau. Arnold war ein Schwimmer, ohne Bewegung. Das war es.

Er trat unten aus dieser Welt hinaus, im Nichts formten sich Blasen aus dem Chaos, Kugellasen bildeten Formen. Er schwamm außen um seinen Schwebekörper herum, doch als Materie stand er außerhalb der Zeit, er schwebte, ohne seinen Körper zu sehen, er tauchte und schwebte im Blau, im Blau der Unendlichkeit erkannte er keine Bewegung mehr, nur seinen freien Flug. Er war nicht mehr nur Körper, sah seinen Kopf in Blau gehüllt, im Raum schwebend spielte ein Teddybär ein Wiegenlied. Arnold blickte auf sich hinunter, er war aufgelöst in der Stille, im Blau. Doch dann hörte Arnold die Uhr an der Wand. Sie tickte

Regenwald im Supermarkt

„[...] Besonders viele Tiere leben im Kronenraum der Urwaldriesen und sind somit nur selten zu beobachten.[...]“

Diethelm Kaiser, Venezuela. Von den Anden zum Orinoco

Kennt ihr die Gesichter, die der Schnee streut, wenn er zerstoßen ist? Manchmal lachen sie, doch das passiert nur selten. Braun und grau erscheinen sie wie zusammengefaltete Leichenklumpen. Einst zog Daniel eine Schneise durch einen dieser Haufen, mit dem Vorderreifen eines Rollstuhls, denn er arbeitete in der Behindertenbetreuung und schob eine Spastikerin durch die winterliche Innenstadt. Ich möchte euch eine Geschichte erzählen:

Zwei schwarze Kreaturen sind vor dem Schneesturm geflohen. Die beiden hatten sich eine Höhle unter den Schneescherben gebaut, in Schneetürmen vor dem Kaufhaus K. Kolk hieß der eine. Sein Fell war schwarz, seine Augen leuchteten wie die eines Krokodilbabys. Die Haare auf seinem Kopf standen zu Berge wie Moos. Die unsichtbare Nase bestand nur aus zwei Schlitzen, die von drahtigen Haaren verdeckt wurden. Nur einen Zeigefinger maß er in seiner Körpergröße. Sein Bruder hieß Brun´Tur mit Namen. Er war kleiner und breiter als Kolk, beide ähnelten sich wie ein Haar dem anderen. Viele Jahre lang hatten die beiden in einer Baumhöhle gelebt, unter der Rinde eines Papayabaumes, am Ufer des Orinoko in Venezuela. Sie ernährten sich von den Früchten und verspeisten Moskitos, Spinnen oder auch kleine Tausendfüßler, die sich beizeiten in ihre Wohnung verirrten.

Kolk und Brun´Tur waren die letzten Überlebenden ihres Volkes, das einst einen großen Papayabaum besiedelt hatte. Sie lagen in ihrer Baumhöhle, da krachte es, Lärm erfüllte die Luft. Sie wußten nicht, was da passierte. Dann wurde es schwarz um sie herum. Sie flogen hin, sie flogen her, es war schwarz, Papayas rollten, Früchte rollten über sie hinweg, dann war es ruhig. Sie blieben zwischen einigen Früchten liegen.

Ob Tage vergingen, ob Wochen vergingen, das mochte keiner der beiden Kerle zu sagen, sie hatten jedes Zeitgefühl verloren. Dann folgte die Erschütterung. Wieder flogen die Früchte in der Dunkelheit durcheinander. Brun´Tur und Kolk wurden ins Licht hinausgeschleudert, in eine warme Luft, die merkwürdig trocken schien und einen ungewohnten Geruch ausstrahlte. Sie blickten sich um:

Um sie herum stapelten sich Papayas, Bananen und Mangos und viele andere Früchte, die sie nie zuvor gesehen hatten. Sollte das etwa das Land der Goldpapayas sein, von dem sie immer geträumt hatten? Kolk und Brun´Tur hatten diese Geschichten immer für Kindermärchen gehalten. Sie fraßen und fraßen und fraßen und fraßen und fraßen, Tag und Nacht. Ihre Bäuche wurden so prall wie der Bauch einer Anakonda, die ein Schwein verschlungen hat, ihre Münder glänzten bunt von gelbem Bananenbrei, roten Himbeeren, weißen Apfelstückchen, Aprikosen und Pflaumenmus.

Eines Tages fielen die beiden Burschen Schlaf. Wenige Stunden später wurden sie geweckt. Ihr Pampelmusbett kullerte auseinander, sie fanden sich am Boden eines Etwas wieder, das abscheulich und roch.

Mit ihren Händen rissen sie ein Loch hinein und fielen in eine weiße kalte Masse. Brun´Tur und Kolk hielten die Masse für Erde, doch nie zuvor hatten sie solche Erde gesehen. Auf ihrer Haut wurde die Erde zu Wasser, es sah aus wie stofflicher Nebel, doch kälter. Sie krochen durch die Materie, die Wasser und Land zugleich war. Dann kamen die Brüder zu einer Steinfläche.

Um sie herum blühte die Nacht, doch überall glühten Riesenbäume, wie aus Glas und ohne Blätter. Kolk fand verschrumpelte Früchte auf dem Boden, die sich auseinanderfalten ließen und den Trockenblättern ihrer Heimat ähnelten. In einer Höhle an einem Scherbenberg der weißen und kalten Masse bauten sie ihr Heim.

Doch wieder riss sie jemand Fremdes aus dem Schlaf. Ein riesenhaftes Tier raste auf ihre Behausung zu. Kolk sah noch seinen Bruder am Körper des Tieres kleben, bevor es ihn zermalmte. Er lebte noch zehn Minuten und erzählte Daniel seine Geschichte.

So erlebt man manches in der Innenstadt während des Winterschlußverkaufs. Durch seine Unvorsicht tötete Daniel mit einem Rollstuhl die Überlebenden eines kleinen Volkes. Nur er und ich wissen über diesen Untergang. So einiges liegt unter der Schneedecke begraben, das sich unseren Augen verbirgt und wir müssen genauer hinzusehen.

Schnuten und Poten

Peter Ambrosius spazierte wie jeden Abend mit seinem Hund, einem Golden Retriever namens Jano, den kleinen Weg hinter den Häusern entlang, der von den Ansässigen der Kackoweg genannt wurde, da viele andere Hundebesitzer mit ihren kleinen Lieblingen ebenfalls diesen Pfad nahmen. Die beiden kamen am Hühnerschlag des Herrn Metzner vorbei, der schwarz auf seinem Hinterhof die Schweine der Dorfbauern schlachtete. Peter wurde fast übel, als er in den Maschendrahtverhau blickte. Über einem rostigen Käfig voller Spatzen hing dort ein verwesender Schweinekopf, um den Fliegen herumsirrten. Peter schluckte und ging weiter. Bei solch einem Anblick hätte er fast Vegetarier werden können. So brachte er den Hund nach Haus, zog sich seine Dienstkleidung an, setzte sich in sein Auto und fuhr los. Momentan arbeitete er im ambulanten Pflegedienst, bei einem Spastiker, der auf einem Hof im Nachbardorf lebte.

Peter Ambrosius parkte seinen alten Ford Fiesta vor dem Reihenhaus, in dem Ralf Goffmann wohnte, verfluchte seinen Job wie jede Nacht in der Erwartung voller Windeln und schlafloser Stunden, rauchte noch hastig eine Zigarette und schloß die Tür auf. „Peter, wo bist Du? Du bist schon wieder zu spät. Das mache ich nicht mehr lange mit. Ich muß nämlich auffen Pott.“ Peter Ambrosius verdrehte genervt die Augen, setzte sein künstliches Grinsen auf, dass er sich für die Arbeit im Betreuungsbereich zugelegt hatte und betrat Ralfs Schlafzimmer. Ralf wog ungefähr 120 Kilogramm und deshalb war es immer eine enorme Anstrengung ihn in seinen Heber zu wippen. Peter Ambrosius krempelte also die Ärmel hoch, stellte sich neben das Bett und hievte Ralf in seinen mechanischen Heber, um ihn auf die Toilette zu setzen. „ Paß doch auf, Du tust mir weh,“ stöhnte Ralf, denn Peter war an das Wundgeschwür auf Ralfs Rücken gekommen.

„ Tut mir leid,“ murmelte Peter, hängte Ralf in den Heber und schob ihn in das weißgekachelte Badezimmer. Dann stellte er die Dusche an, prüfte die Temperatur des Wassers, hob Ralf in den Plastikduschstuhl, drehte sich um und wollte in das Schlafzimmer gehen, weil das Bett gemacht werden mußte. „ Du hättest mal zum Bund gehen müssen. Da hätten sie Dich richtig geschliffen.“ So tönte es mit rasselnder Stimme hinter ihm her. „ Dann würde ich Dich jetzt wohl kaum pflegen, Ralf,“ zischte Peter zurück. „Nö, aber so inner Fabrik, wo Du acht Stunden durchgehend arbeiten mußt, das wär das Richtige für Dich.“ „ Bei Dir arbeite ich siebzehn Stunden,“ konterte Peter, der inzwischen schon sichtlich wütend geworden war. „ Das ist doch keine Arbeit hier. Ich meine mal so richtig Paletten schleppen, sowas, wo Du nicht auf dumme Gedanken kommst.“ „ Die Europaletten wiegen 10 Kilogramm, Du wiegst 120.“ Dies rief Peter, während ihm Geruch verriet, dass nach der nächtlichen Dusche erst einmal der angenehmste Teil des Abends auf ihn warten würde. Er machte das Bett, wusch in der Küche das Geschirr ab, kochte Ralf seinen nächtlichen Beruhigungstee, verschnaufte einen Moment, bis er den erwarteten Kommandoton aus dem Badezimmer hörte: „Peter, wo bleibst Du denn. Ich bin schon lange fertig. Du fauler Sack. Leg Dich mal ein bißchen ins Zeug, Mann. Ich will endlich ins Bett.“ Peter holte Ralf aus dem Duschstuhl, wusch ihm den Kot aus dem After, hob ihn in den Rollstuhl, verarztete das Wundgeschwür, legte den schweren Menschen seitlich in sein Bett, setzte den Katheder an, deckte ihn zu und bereitete in der Küche das Mittagessen für den kommenden Tag für. Es sollte Schweinenacken mit Bohnen geben, denn Ralf war auf dem Lande aufgewachsen und liebte deftige Kost.

Danach legte Peter Ambrosius sich schlafen. Er schlief einige Stunden lang, dann piepte gegen 4 Uhr morgens der Wecker. „Peter komm doch endlich! Ich muß dringend auffen Pott.“ Hastig sprang der Krankenpfleger auf, denn wenn nachts etwas nicht nach Ralfs Willen passierte, rastete dieser regelmäßig total aus. Peter kam ins Schlafzimmer. „ Ich habe schon dreimal geklingelt,“ motzte Ralf. „ Langsam reicht es mir aber.“ „ Dir reicht es vor allem. Mir reicht es,“ dachte sich Ambrosius und setzte sein gekünsteltes Lächeln wieder auf, hob Ralf in seinen Rollstuhl, grinste scheinheilig und fragte: „ Darf ich Dir noch einen Wunsch erfüllen.“ „Mach noch mal einen Kaffee. Ich würde gerne einen Kaffee trinken.“ „ Damit der Kerl morgen früh wieder total unausgeschlafen ist und seine Launen an mir ausläßt,“ dachte Peter sich. „ Aber gerne doch,“ lächelte er und schwebte in die Küche während Ralf seine Wurst herausdrückte. Kaum war er angekommen hörte er es wieder. „ Peter komm noch mal, Du hast etwas vergessen.“ „ Was denn,“ fragte Ambrosius patzig. „ Du mußt erst die Penatencreme auf den Dekubitus schmieren.“ „ Aber klar doch, Ralf,“ erwiderte Peter, dessen Lächeln allmählich eine bittere Süffisanz nicht mehr verheimlichen konnte.

Nachdem er die Paste auf dem Rücken verteilt hatte, legte Peter Ambrosius sich wieder schlafen. Wenige Stunden nur blieb er liegen, bis der Wecker ihn erneut ins Schlafzimmer riß. „Was brauchst Du denn schon wieder so lange, Du Faulpelz? Mein Vater hätte Dir erstmal lange Meter eingeschenkt. Bei dem hättest Du sowas nicht machen können.“ Peter wußte zwar, wo Ralfs Ansichten ihren Ursprung hatten und inwieweit Ralfs Vater auch für den Unsinn verantwortlich war, den Ralf so von sich gab, aber das reichte leider nicht, um dies alles auf Dauer psychisch unversehrt ertragen zu können. Er holte Ralf aus dem Bett, duschte ihn, servierte das Frühstück, wusch ab, wischte die Fensterbank, fegte die Treppe und sah zu, dass er nach Hause kam, einige Stunden, bevor das Theater wieder von vorne losging.

Peter setzte sich auf den Fahrersitz seines Autos und drehte sich einen Haschtüte. Er fühlte jeden Knochen, jede Hautfaser. Seine Hände stanken nach dem trockenen Gummi der Arbeitshandschuhe. Er legte eine Cassette mit Deutschpunk ein und fuhr zugedröhnt in sein kleines Heimatdorf zurück. Peter hatte Ralf jetzt den Namen „die Kackwurstralle“ gegeben. Noch einige Stunden, ein wenig noch am Mittellandkanal umherlaufen, zum Bussardnest, bevor der Abstieg in die Hölle wieder von neuem begann.

Oft fragte Peter Ambrosius wie lange er diesen Job noch machen sollte. Selbstverständlich bewunderten all seine Freunde und Freundinnen seine Selbstlosigkeit, von der sie ja auch ein wenig profitieren konnten. Solange sie diese Arbeit nicht verrichten mußten, klang die sozialromantische Vorstellung, die mit Bekannten mit der Betreuung verbunden wurde ja auch immer ganz gut. Als hilfloser Helfer fühlte er sich trotzdem nicht, eher war er zu bequem, seinen Arsch mal dazu hochzukriegen einmal etwas ganz anderes zu tun, zum Beispiel freier Künstler zu werden, Bildhauer hatte er schon immer werden wollen. Vielleicht würde er sich irgendwann einmal dazu aufraffen können, zur Zeit auf jeden Fall nicht. Diese zeit schlich sich leider immer dann ein, wenn er gerade etwas anderes machen wollte.

Peter Ambrosius kam zu Hause an, schnappte sich den Golden Retriever, lud ihn auf den Rücksitz und fuhr mit ihm zum Mittellandkanal. Da ließ er den Hund frei laufen, blinzelte kaputt und zerschunden auf das bräunliche Wasser, schaute den Schiffen hinterher und wünschte sich, ein Binnenschiffer zu sein. Das wäre es doch gewesen, so Tag und Nacht auf einem Schiff hin- und herfahren, ohne sich ständig auf andere Menschen einlassen zu müssen, den Möwen und Krähen hinterherzuschauen und die Menschen am Ufer zu begrüßen. Peter runzelte ein wenig die Stirn. Dann drehte er sich um und ging nach Hause zurück, den Hund an der Leine kam er wieder am Garten des Schwarzschlachters vorbei. Von der Vorderseite des Grundstückes zerriß ein Quieken den gräulichverhangenen Morgen. Peter wurde fast schlecht.

Als sie ankamen, ließ er Jano im Garten laufen, gönnte sich ein Lavendelbad und versuchte, einige Minuten von seinem im Wortsinne beschissenen Job zu entspannen. Nachdem Peter Ambrosius ungefähr eine halbe Stunde in der Badewanne vor sich hingedöst hatte wollte er den Hund hereinholen. Der saß auf der Terasse.

Aber, verdammt noch mal, was war das denn bitteschön? Jano hatte ein halbes Schweinebein im Maul, den unteren Teil mit Klauen dran. Auf Peter wartete eigentlich noch eine chinesische Gemüsesuppe im Kühlschrank, doch jetzt war ihm der Apetitt vergangen. An diesem Morgen beschloß der Krankenpfleger Vegetarier zu werden. Mit großen braunen Augen blickte Jano ihn an, begeistert über seine neueste Errungenschaft. Peter sperrte Jano ins Schlafzimmer, legte das Schweinebein in den Kofferraum seines Autos, fuhr in ein naheliegendes Wäldchen und warf das Fleischstück in ein Farndickicht. Dann machte er sich auf den Weg zurück, zog seine Arbeitskleidung an und war bald wieder bei Ralle angekommen.

An diesem Abend hatte Ralf gute Laune und erzählte von seinen Jugendjahren auf dem Bauernhof. „ Peter, weißt Du, an Pfingsten, nach dem Kriege, da gab es immer Schnuten und Poten mit Steckrübensuppe. Das war mein Lieblingsessen.“ „ Was ist das denn?“ fragte Peter. „ Mensch, kennst Du das nicht. Vom Schwein, Schnauze und Pfoten. Das ist lecker.“ Peter merkte, wie sich sein Mageninhalt ausleeren wollte. Gerade kam ihm die Asoziation, dass Ralle mit seinen kleinen Ärmchen und seinem Kugelbauch selbst wie ein Schwein aussah. „ Schnuten und Poten also,“ dachte sich Peter. „ Du würdest Dich bestimmt gut mit Jano verstehen.“ „Morgen hast Du übrigens fast den ganzen Tag frei, Peter. Ich bin nämlich bei Bauer Pollentorf eingeladen.“

„Den kenn ich, der wohnt bei mir im Dorf. Was gibt es denn da so Besonderes?“ „ Peter, kriegst Du denn überhaupt nichts mit? Da ist morgen Schlachtefest. Das Schwein bekommt was über den Detz und wir haben gut was zu essen. Mußt Du mich dann nur hinbringen und wieder abholen. Tagsüber kannst Du dann machen, was Du willst.“ „Schlachtefest, na ja, was denn auch sonst,“ grummelte Peter Ambrosius. „Wer flüstert, der lügt,“ motzte Ralle. Nach dem Essen folgte das allabendliche Ritual. Peter brachte Ralf mit dem mechanischen Hebeapparat ins Bett, legte sich schlafen. Die Nacht verlief ruhig. Beide schliefen tief und fest. Am Morgen ging es dann hurtig. Peter zog Ralf seinen schicksten Anzug an, glättete die Falten des Stoffs, die sich an der Rückenlehne des elektrischen Rollstuhls gebildet hatten, putzte seinem Betreuten die Brille, legte einen Kathederbeutel in die graue Nadelstreifenhose, wartete, bis der Fahrdienst kam, geleitete Ralf zur Rampe des VW-Bus, in dem Ralf in das Nachbardorf, Peters Heimatdorf gefahren wurde, setzte sich auf den Beifahrersitz neben einen Zivildienstleistenden von der Samariter-Pflegestation und fuhr mit den beiden zusammen zum Schlachtefest bei Bauer Pollentorf.

Sie kamen an. Peter hängte die Rampe aus der Hintertür und Ralf lenkte seinen elektrischen Rollstuhl geschickt auf die Straße. In Peter wurden Erinnerungen wach. Denn in seiner Grundschulzeit war Dirk, der Sohn von Heinrich Pollentorf sein bester Freund gewesen. Sie hatten viel Zeit im Stall verbracht, Dirk hatte ihm seine Lieblingsschweine gezeigt, die dann am Ende des Jahres geschlachtet wurden und sie hatten mit den Langhaardackeln gespielt. Peter dachte zurück, eine Geschichte wurde in ihm wach, als sie an dem Schweinestall vorbeigingen, der direkt neben der Diele im Hof lag, in dem sich heute das halbe Dorf zum Schlachtfest treffen würde. Mittags, wenn die Schweine schliefen hatte sich Peter damals in seinem jugendlichen Leichtsinn nämlich einmal in den Stall geschlichen. Dort gab es eine kleine Öffnung in einem Pferch, wo unten am Verschlag das Holz abgesplittert war.

Die Schnauze, Ralf würde sagen Schnute, eines Schweins hatte aus diesem Loch gelugt. Peter hatte gegen die Schnauze getreten. Das Schwein erwachte und wie in einem Dominoeffekt weckte es auch alle anderen Schweine im Stall, die grunzten und quiekten. Leider hatten die Schweine auch Bauer Pollentorf aus dem Schlaf gerissen. Der kleine Dirk hatte es damals ausbaden müssen. Sein Vater versohlte ihm den Arsch mit einem Ledergürtel. Das schlechte Gewissen plagte Peter Ambrosius heute noch.

Vor dem Stall spielten drei Kinder mit Katzen, Marthe, die fünfjährige Tochter des Elektrikers, Beate, die sechsjährige Tochter von Familie Meier und Andreas, der neunjährige Sohn von Bauer Lampe. Ralf fuhr mit seinem elektrischen Rollstuhl in die Diele, wo sich das halbe Dorf versammelt hatte. Peter sah die Kinder mit den Katzen spielen. Andreas zog eins von den Katzenbabies am Schwanz durch eine Pfütze. Die Katze miaute erbärmlich. „Laß das, das tut der Katze weh,“ rief Peter und erzählte dem Jungen von dem Schwein, dem er als Kind gegen die Schnauze getreten hatte und davon, warum er heute noch ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er an diesen Unsinn zurückdachte. Die Kinder kicherten, weil sie es so lustig fanden, wie die Schweine den Bauern aus dem Schlaf scheuchten. „Grunz, Grunz,“ lachte Andreas. Peter beachtete die Kinder nicht weiter und trat in die Diele. Rolf nahm an der Tafel Platz. Herr und Frau Pollentorf saßen da, Familie Meier, Hildebrandts, Herr Muschnik, der Ortsbürgermeister und all die anderen.

Er ging zu Frau Pollentorf, die überrascht sagte: „ Peti, was machst Du denn hier. Dich habe ich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen.“ „ Ich betreue den Ralf Goffmann,“ erwiderte er, „wie machen wir es denn, wenn Ralf nachher mal auf Toilette muß? Ich kann mich daran erinnern, dass der Eingang zu eurer Toilette eng ist. Der Eimer am elektrischen Rollstuhl ist kaputt.“ „ Wir haben mit den Samaritern abgesprochen, dass mein Mann und ich Herrn Goffmann nachher auf das Plumpsklo setzen, das alte neben dem Schweinestall, das kennst Du doch noch. Da paßt der Rollstuhl direkt davor.“ „Aber das ist doch ein wenig zu kalt. Es ist immerhin erst Ende März!“ „Ich bin nicht aus Zucker,“ grollte Ralf. „Na ja, das mußt Du wissen. Ich find es nicht toll,“ murmelte Peter.

„ Dann komme ich also in sechs Stunden wieder.“ „Ja mach das,“ nickte Ralf. „ Also viel Spaß Ralle,“ lächelte Peter und seine Augen wanderten über die Festtafel, über die Speck- und Knappwurstberge, die Leberwürste und Koteletts, die Haxen, Bregenwürste, die Mettwürste und das Bauchfleisch und blieben auf einem Schweinekopf mit Apfel im Mund hängen, der die Tafel schmückte. Durch das Fenster hörte er das Grunzen der noch lebenden Artgenossen. „Fehlen ja nur noch die Steckrüben,“ dachte er sich. Er schaute kurz an das andere Ende der Diele, wo Herr Metzner sich mit Hiltrud Brunstal darüber unterhielt, wie er seinen Urlaub auf Ibiza unterbrochen hatte, weil ihm das Schlachten so fehlte.

Wieder zuhause angekommen schnappte Peter sich Jano, der schlafend im Bett lag, reichte ihm eine Knappwurst, lud den Hund ins Auto und fuhr in sein Wäldchen. Peter setzte sich an seinen Lieblingsteich, ließ den Retriever laufen und drehte sich einen Joint. Ostern stand vor der Tür. Übermorgen sollte im Dorf das Osterfeuer abgebrannt werden. Vielleicht würde Rolf ja zur Feier des Tages nach dem Schlachtefest besonders dicke Eier legen. Peter schluckte. Sein Sarkasmus ging manchmal doch ein wenig zu weit. Hastig saugte er an der Haschtüte. Dann dämmerte Peter vor sich hin. Der Cannabiskonsum und sein Schlafdefizit überfielen ihn und er sank in Schlaf, träumte von Schweinen, die Menschen fraßen und von Menschen, die sich schlachteten und ihre Würste auffraßen. In diesem Traum verwandelten er und Dirk Pollentorf sich in Schweine, die von Herrn Metzner geschlachtet wurden. Und Jano fraß sein Bein.

Als Peter aufwachte hatte die Dämmerung eingesetzt. Das Erwachen war unangenehm, denn Jano stupste ihn mit der Nase an den Mund, saß vor ihm und bellte. „Sag mal, spinnst Du?“ Der Hund saß vor ihm, aufgeregt wie vor einem Spaziergang. Aber der Idiot war doch den ganzen Tag herumgelaufen. „Was willst Du denn?“ Peter Ambrosius war sauer. Dann schreckte er auf. Wie spät war es eigentlich. Er sah auf die Uhr: Gottseidank, zehn nach sechs, er hatte also noch eineinhalb Stunden Zeit, bevor er Ralf wieder abholen mußte.

Die Luft stank nach Rauch und in der Ferne erklangen Sirenen. Hatte die Landjugend das Feuer schon vorgezogen oder hatte er zwei Tage durchgeschlafen. Peter erschauderte, denn wenn das der Fall wäre, dann war er mit Sicherheit seinen Job los, abgesehen davon, dass er sich vor Verantwortungslosigkeit selbst nicht mehr würde in den Spiegel gucken können. Mit dem Hund an der Seite lief er zum Auto. Aus der Richtung des Dorfes zogen Rauchschwaden. Er stellte auf seiner Uhr das Datum ein. Gründonnerstag, alles klar. Da hatte bestimmt Thorsten Blus am Feuer herumgezündelt. Das machten die Jungs von der Landjugend gerne mal.

Das Feuer kam aus Richtung des Dorfkerns. Dieses Jahr war es bestimmt auf der Wiese am Weiher, auf der Brachffläche neben dem Pollentorfhof. Warum hatte er den Holzhaufen dann vorhin nicht gesehen? Zumindest fuhr er jetzt dahin, wo er in einigen Stunden sowieso hätte sein müssen.

Was war das denn? Die Dahlenbergstraße, wo Pollendorfs Anwesen lag, war voll Menschen. Qualm drang vom Gehöft, nicht von der Wiese. Das Dorfvolk versammelte sich, Menschen gestikulierten und brüllten. An der Straßenecke vor Hof stand der kleine Andreas und hielt sich die Wange, weinte wie ein Wasserfall. Schweine rannten über den Hof, der Geruch verbrannten Fleisches und verkohlten Holzes erstickte die Atemmöglichkeiten. Der Hof war in eine Rauchwolke gehüllt. „Verfluchte Scheiße,“ schrie Peter.

Bauer Pollentorf warf Ferkel aus einem Fenster im Stall. Schweine mit gebrochenen Beinen und Brandwunden quälten sich über das Kopfsteinpflaster des Hofes. „Wo ist Ralf?“ brüllte der Krankenpfleger. Keiner antwortete. Er sah Frau Pollentorf, die die Hände vor dem Gesicht zusammenschlug. „Wo ist Ralf Goffmann?“ schrie er sie an, deren Hab und Gut vor ihren Augen verbrannte.

„ Woher soll ich das denn wissen,“ funkelte sie ihn an. Von Verdacht getrieben schlug er sich durch die Reihen der Feuerwehrleute, die versuchten, das Feuer zu löschen. „Bleib stehen, das ist lebensgefährlich.“ Herr Wachtel von der Feuerwehr Sunstorf riß ihn an der Schulter, hielt Peter fest. Peter knallte ihm die Faust ins Gesicht. Der Feuerwehrmann kippte nach hinten und fiel. Der Krankenpfleger rannte in den Rauch und die Flammen, in die Diele, wo die Gesellschaft geschmaust hatte. Er sah nichts mehr, Glut, Asche, Holz, Fleisch. Fast schien er zu ersticken. „Ralf!“ brüllte er. Doch keine Antwort.

Der Wohnbereich war größtenteils intakt, das Feuer kam aus dem Stall. An brennenden Balken vorbei raste Peter zu der Tür, die in den Stall führte. Alles war ihm aus Kindertagen vertraut. Die Tür war heil, sogar die Schnitzereien wie Peter loves Diana waren geblieben.. Der Stall, ein Infernogestank. Gülle brannte, die Steinwände glühten. Peter stolperte, fiel fast, als er mit dem Fuß über ein Schwein stolperte. Das Tier zuckte, obwohl das Feuer es verkohlt hatte.

In Rauchgestank bahnte sich Peter seinen Weg durch einen Morast aus Blut, Haut und Sehnen. Muttersäue und Ferkel quiekten im Todeskrampf. Der Pferch mit dem Loch im Holz. Peter kam vorbei. Ein Balken stürzte hinter ihm zu Boden. Schweine schrien. Dann die Hintertür mitten im Scheiterhaufen, der Griff schmolz, das Holzfurnier brannte. Mit aller Kraft, warf er sich gegen die Tür. Die Tür gab nach. Er fiel in ein Inferno zwischen Stall und Scheune. Da, an die Außentür wäre er gekommen, hätte er den Umweg durch den Garten genommen. Was dort stank wie Torf war die Scheiße aus dem Plumpsklo. „Ralf!“ brüllte Peter. Das Feuer hatte den Unterbau des Plumpsklos erreicht. Wo war bloß der Rollstuhl? Da saß er, der dicke Ralf. „Peter!“ röchelte er, „Peter!“ Nur die Toilette war noch unversehrt, der Rest des Anbaus brannte.

„Hast ja ganz schön Feuer unterm Arsch!“ flachste Peter, den Humor auch in solchen Situationen nicht verließ. Er nahm Ralf in den Rautegriff und zog ihn von dem Ofen hinunter. Zurück, Schritt für Schritt, die Füße steckten bis über die Knöchel in brennendem Kot. „Mach mal´ne Diät,“ whisperte Peter, dessen Schuhsohlen seine Füße verbrannten. „Öööh,“ stöhnte Ralf, der keine Muße zum Scherzen hatte. Die Außentür, der Rollstuhl, der Balken, ein Meter, der Rollstuhl. Nachtluft zog Peter in die Nase, ein Meter, zwei Meter, der Stuhl, das Feuer so weit weg. Er ließ Ralf vor dem elektrischen Rollstuhl in das Gras fallen und verschnaufte. „Der Akku,“ seufzte Ralf. „Oh Kacke, ohne Akku fuhr der Rollstuhl nicht.“ Peter schluckte, denn der Akku war hinter der Tür des Toilettenhäuschens an die Steckdose angeschlossen. Hinein in die Hölle. Nur einen halben Meter diesmal. Er stürzte sich erneut ins Feuer, riß das Kabel aus der Steckdose und griff das Akkugerät mit verbrannten Händen. Der Eingangsbalken, ein Knacken, ein Geräusch. Ein Blick nach oben.

Alles war so weiß um ihn herum, die Luft wie in dem Krankenhaus, wo er seinen Zivildienst absolviert hatte. Das da vorne neben dem Bett, war das nicht Sanja Wolf, die Stationsschwester, in die er sich verknallt hatte. Was war geschehen? Da lag ja Jano, dort auf dem Plastikboden. Seine Mutter stand neben ihm. „Was ist mit Ralf Goffmann?“ fragte er. Sie blickte an die Wand. „Nun sag schon.“ „Er ist erfroren, in der vorletzten Nacht, einen Meter von seinem Rollstuhl entfernt.“ „Was ist denn da passiert?“

„Kinder spielten mit Katzen in der Scheune. Die Katzen verkrochen sich auf die Dachbalken. Um sie herunterzuholen wollten sie die Katzen ausräuchern und bauten sich Fackeln aus Stroh und Zweigen. Zur gleichen Zeit ärgerte der kleine Andreas die Schweine im Stall. Alle Schweine fingen an zu quieken.“ Die Kinder erschraken und ließen die Fackeln fallen. Die Scheune brannte wie Zunder.“ Peter würde sich das niemals verzeihen können. Denn er hatte Andreas die Idee gegeben.

Er fühlte sich leicht, seinen Körper fühlte er nicht, alles so locker, so angenehm. Er wollte aufstehen und seine Mutter umarmen, aber es gelang nicht. „Du, mein Körper fühlt sich so leicht an. Aber ich kann nicht aufstehen. Das ist merkwürdig.“ Er lächelte. Schockiert sah seine Mutter ihn an und brach in Tränen aus. „Der Balken hat Dir die Wirbelsäule zwischen dem zweiten und dritten Halswirbel zerschmettert.“ Peter kombinierte: „Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung, Querschnittslähmung, 100 %, voller Pflegesatz. Dann lerne ich jetzt ja einmal die andere Seite kennen“, sagte er. Doch zu einem sarkastischen Grinsen reichte es nicht.

Das Albert Dock

Malcolm wanderte durch die alten Straßen am Albert Dock. An diesen Tagen schien in Liverpool nichts zu existieren. Die Sonne war zwischen Regenwolken nachmittags noch nicht erschienen. Menschgesichter wirkten wie betrunkene Wesen aus toten Welten. Er dachte daran, wie Afrikaner gezwungen worden waren, in einen langsamen Tod, zu Tausenden an diesen Docks. An diesen Docks wanderte er. Die Luft blies in Trauer. Der Tag würde so bleiben in einer Gegend der Trauer. Malcolm wanderte im Nirgendwo, wo es dunkel ist und man unerreichbar bleibt.

Ein Sirren klang ihm in den Ohren. Dieses Sirren, das aus Nebelschlieren kam. Fremd war es ihm nicht. Das Sirren nahm die Gestalt von Stimmen an. Es rauschte wie ein Röhren von Tieren. Der Nebel verdichtete sich. Rasten Züge durch die Nacht, Lokomotiven, Eisenbahnen? Zogen Züge durch die Nebel, die Nebel am Hafen? Warum vibrierte der Boden? Malcolm nahm dies hin, denn er hatte merkwürdige Dinge erlebt, im Hafenviertel von Liverpool. Vom Wasser trat der Nebel nun durch die Hafendocks. Der Nebel fraß sich aus der Trübheit der Hafenbecken. Das andere Ufer des River Mersey war draußen, vom Nebel verschlungen. Malcolm wollte dorthin. Hatte er den Weg verloren? Und war es möglich, dass er ihn niemals wiederfinden würde? Der Nebel wallte auf, zog in Schlieren, verzog sich, löste sich auf, fiel zusammen, um sich erneut zusammenzusetzen. Da im Nebel, waren das Schatten? Wühlten Schatten sich auf? Wogten Schatten in den Mersey hinein? Verschwanden Schatten im Fluss? Oder wühlte Anderes, wogte Anderes, verzog sich Anderes, verschwand Anderes im Mersey? Die Wellen brachen sich an den Hafenkais. Die Wellen blieben an der Oberfläche des Wassers. Die Wellen zuckten in Zickzackmustern. Die Regenwolken vibrierten. Die Wellen formten Wirbel im Nebel.

Malcolm schlotterte, dies Schlottern gebar nicht die Kälte, sondern die Vergangenheit. Er erschrak: Das waren Kinder. Kinder mit schwarzer Hautfarbe trieben im Nebel hin und her. Kinder weinten. Schwarze Kinder hatten sich in Hautgewänder gekleidet. Alte Häute füllten Augenhöhlen mit Wasser, Höhlen, die seit Jahrhunderten keine Tränen kannten. Ein Whispern stieg aus dem Wasser hervor: „ Hilf uns!“ rauschte es aus den Wellen. „ Hilf uns!“

Kinderaugen tranken Nebel. Malcolm zitterte. Malcolm wankte im Nebel. Der Nebel verschmolz. Nebel verschmolz mit Malcolm, Augen wanderten durch ein Meer aus Nebel und Kinderseelen. Kinderschemen sangen ein Trauerlied in den Nebel. Ketten fielen in die Fluten, platschten in den Fluß. Das Ufer war weit entfernt. Die Kinder krochen an Wände im Hafenbecken. Die Nebelkinder verschwanden. Solche toten Augen wiegten in der Wasserwüste hin und her, die Nebelwand schaukelte sie wie eine Hebamme. Malcolm weinte. Er konnte den Kindern nicht helfen, sie waren vor hunderten von Jahren gestorben. Malcolms Augen, Malcolms Tränen wurden eins mit dem Nebel. Die armen Kinder, als Kinder von Sklaven auf die Welt gekommen, die Kinder, Sklaverei hatte Kinder verbraucht, hatte Kinder getötet.

Ein Schiff taumelte im Nebelwasser des River Mersey trieb ein Schiff. Die Kinder schrien zwischen den Nebelwänden, Peitschen zischten, Haut klatschte, Füße schlurften, Ketten rasselten, Kinder weinten, und Malcolm weinte um sie. Die Kinder weinten, die Sklavenkinder weinten. Ein Echo erklang von der anderen Seite. „ Ferry, cross the Mersey,“ so sang es aus dem Sklavennebel. Das Echo schlug Malcolm ins Gesicht, das Echo. Malcolm blickte in die toten Augen schwarzer Kinder. „ Ferry, cross the Mersey!“ Fallende Blätter flogen auf Malcolms Haut. Tote Haut trieb den Regen in die Straßen. Im Liverpool Museum fand eine Ausstellung über die Sklaverei statt. Eine Leiche trieb im Hafenbecken.

Das Schwert

An einem feuchtkalten Tag, kurz nach Halloween stand ein dicker Junge im City Center von Liverpool. Der Junge hatte sich für ein Pfund ein Plastikschwert gekauft und spielte damit herum. Er stellte sich vor, dass er ein schottischer Schwertkämpfer sei und dieses kleine Plastikschwert sein Claymore. So träumte er sich durch das Dämmerlicht frühabendlicher Straßen, kam an Laternen und stolz aufragenden Kathedralen vorbei. Er ging an Pubs entlang, die von den Besitzern buntbemalt worden waren, vorbei an Buchläden, in denen Gedichtbände von Lord Byron und Short Stories von E. A. Poe Einblicke in andere Welten gaben. Der Junge träumte sich durch die Straßen - in einer anderen Stadt, in einer anderen Welt. „ [. . . ] Die Normalität von Gewalttaten war auch außerhalb der öffentlichen Räume, wie sie die Wirtshäuser darstellten, gegeben. Selbst in privaten Alltagssituationen wurden auftretende Konflikte durch außerordentliche Brutalität gelöst. [. . . ]“ Das las der Junge in einem Buch über Scharfrichter.

Ein Auto hielt an: „ Das sind toughe Guys hier Junge, die haben´ nen anderen Spleen als Du. Kann sein, dass sie das da als Provokation ansehen. “ Der Cop zeigte auf das Plastikschwert. „ Steck es ein!“ Der schottische Schwertkämpfer drehte sein Billigclaymore um und steckte es in eine Tüte, in der Plastikfrösche, eine Peitsche und Kleinkram lagerten.

Der Cop fuhr weiter, der Junge träumte und wandelte. Nach wenigen hundert Metern hatte er das Schwert wieder hervorgekramt. Unser Schwertkämpfer wanderte in die kalten Straßen des Stadtteils Tox Tath. Er schwebte zwischen König Artus und keltischen Märchen, als Schwertkämpfer, dessen Ziel der Sieg des Guten und die Bezwingung des Bösen sein sollte. Er flog durch ein magisches Universum. Es war schön in dieser Welt. Ja, so wäre er gerne gewesen, wie William Wallace oder Rob Roy oder all die Freiheitskämpfer, die er aus dem Kino kannte. Er hätte in einer Welt gelebt, in der es Rebellen gegeben hatte, die ihre Kraft aus dem Glauben an die Freiheit zogen, die ihr Wort hielten. Ohne dass unser Träumer es bemerkt hätte, stolperte er in die Nacht. Wie eine Wolke hatte sich die Nacht über Tox Tath gelegt. Der Junge aber befand sich in einer Realität, die auf Watte gelegt schien. Er dachte in etwas Anderem, er fühlte in etwas Anderem, er war in einer anderen Welt, als die Menschen, die er kannte. Er schwebte in der Wunderwelt, die den meisten Geistern der Straßen verborgen blieb. Ritter und Knappen, Kämpfer gegen die Unterdrückung lebten in dieser Welt.

Ein Doppeldeckerbus stoppte. Drei Jugendliche sprangen heraus. „ What a fuck,“ grinste der erste. „ What a shit!“ zischte der zweite. „ A sword guy? A foreign sword in our street?“ kicherte der dritte im Bunde. Ohne dass der Junge hätte verstehen können, schlug ihm der erste, ein Schmachthaken mit langen Fingern ins Gesicht. Der Junge wehrte sich nicht. Der zweite, ein Kraftpaket mit den Armen eines Orang-Utans und einem Gesicht voll Aknenarben hatte ein Springmesser gezogen, schlitzte er dem Jungen die Wange auf. Der Junge stand aufrecht.

Der dritte, ein Ausgezehrter, hielt ein Sammuraischwert in den Händen und hieb nach dem Traumjungen. Der kippte. Der Schläger riss die Klinge zur Seite und rammte sie in den Bauch. Unser Träumer taumelte und fiel zu Boden. Blut sprudelte in Fontänen aus seinem Leib. Der Mörder zog die Waffe heraus.

Der Junge starb. Das Schwert aus Plastik fiel zu Boden. Freiheitskämpfer vergessener Schlachtfelder tränkten den Himmel in Weihrauch. Das Blut des Träumers floss dampfend über das Plastik. Die Mörder lachten. Sie lachten, und im Himmel schien sich ein Licht zu bilden. Das Licht schlich sich zwischen Wolkenfriedhöfen durch die Kälte der Blutnacht. Dieses Licht traf das Plastikschwert wie ein Strahl einer verschollenen Sonne. Die Spielzeugwaffe zuckte, bäumte sich auf, die Klinge erstarrte zu Stahl. Das Schwert tanzte in der Luft. Das Spielzeug tanzte sich zur Waffe. Die Mörder grinsten nicht mehr. Ein Claymore raste durch die Nacht, trennte die Köpfe der Täter von ihren Körpern. Die flogen auf das Kopfsteinpflaster der Colgate Street. Die Köpfe reihten sich neben der Leiche ihres Opfers auf.

Ob die Geschichte glaubhaft wirkt ist zweitrangig. Doch sie entspricht der Wahrheit. Denn das Plastikschwert hängt auf der Toilette des Chronisten. Träume sterben nicht und die Freiheit kann nicht ermordet werden. Freiheitskämpfer, die ohne Schuld vernichtet werden, verfügen über Kräfte, die kein Mörder verstehen kann und kein Schläger erkennt. So steht es in den Läden geschrieben, in denen ein Plastikschwert ein Pfund kostet und für jeden Träumer erschwinglich ist. Denkt an diese Worte, sie lügen nicht. Lichter zuckten, die Nacht verwandelte sich in Finsternis und der Mond in Blut.

Der Menschenskorpion 2.0

Diese Geschichte spielt in Liverpool. Sie ist einer Nacht entrungen, deren Dunkelheit die Erinnerung frei gestorbener Seelen in sich tragen mag. Diese Geschichte ist nicht schön, doch sie entspricht der Wahrheit. Darum soll sie erzählt werden. Die Wirklichkeit des Traumes; nichts ist schlimmer als das. Diese Wirklichkeit kann Momente überdauern und sich in das Leben sägen wie der scharfe Rand von Papier. Boris lenkten seine Schritte zu einem Haus in Tox Tath, einem Stadtteil in Liverpool. Regenschlieren lagen noch auf den Ehrfurcht gebietenden Gebäuden. Sturm hatte die Nacht befruchtet an einem Oktobermorgen. Ein Oktober war es wie in Kindertagen und Häuschen wie Schokolade schmiegten sich in eine Landschaft wie in einer Spielzeugeisenbahn. Ein Passant kreuzte dann und wann seinen Weg, als er die Croxteth Road entlang schlich. Bäume lagen auf Ziegelmauern in Kakaobraun, von den Orkanen der vergangenen Wochen entwurzelt. Stille breitete sich auf den Straßen aus. Diese Stille erinnerte Boris an die Gleichförmigkeit, mit der der Ganges die Verstorbenen in die Mangrovenwurzeln schwemmt.

Der Reisende betrat den Hof des Hauses. Seine Blicke wanderten von verbrannten Stühlen zu verschmorten Plastikpuppen, Müllstücke waren auf der Erde geschmolzen. Etwas ruhte in diesem Haus, in diesem Hof. Die Fenster aus der Kolonialzeit waren zerbrochen und von innen mit Pappe versiegelt. Müll lag überall, teilweise verbrannt, ein weit verstreuter Müllberg, verbrannt, als ob jemand versucht hatte, etwas zu beseitigen. Dieses Etwas hatte in Boris eine Hemmung ausgelöst, den Hof zu betreten. Er wusste nicht, was es war, noch nicht. Er fühlte, wie seine Wahrnehmung sich veränderte, eine Erkenntnis ließ ihn zurückschrecken. Deshalb ging er zurück zu dem Hotel in der Croxteth Road, in dem er mit seiner Schwester, ihrer Freundin und ihrem Freund Domizil gefunden hatte.

Kurze Zeit später saß er mit Malcolm, seinem Gastgeber im Zimmer und trank Tee. Sie hörten leise britische Popmusik. Die Straßenkälte von Tox Tath blieb draußen. Cristopher, der Freund von Boris Schwester, sortierte die Schätze, die er sich in einem Laden gekauft hatte, in dem alles ein Pfund kostete. Boris rauchte eine Gitanes, wusch sich die Hände, ohne den Müllberg auf dem Hof zu vergessen.

Die Nacht in Tox Tath hat einen eigentümlichen Reiz. Der Schrei eines Säuglings erschillt dann und wann. Man hört, wie er stirbt. Jugendliche kontrollieren die Dunkelheit, Kinder von schwarzen Vätern und weißen Müttern,. Die Mütter leben von Sozialhilfe, und die Väter sind nach Nigeria geflohen. Mehr Rassisten gibt es in England wohl nirgendwo als unter der weißen Bevölkerung Liverpools. Viele aus der Black Community hassen die Weißen. Die Mulattenkinder bezeichnet man als Bastarde und verabscheut sie. Diese Kinder schießen in der Nacht aufeinander. Diese Nacht ist anders. Hier gibt es Straßen, deren Atem drückt. Es braut sich zusammen, wenn Kinder sich um Telefonzellentrümmer scharen und Steine auf Autos werfen.

Ein Wind liegt in der Luft, ein Hauch, der sich zum Sturm entfaltet. Er braut sich zusammen, dann zerstirbt er, bis der Tag die kleinen Kämpfer in ihre Behausungen drängt. Ihre Sucht wartet auf die nächste Nacht, in der der Wind erneut den Duft von Mülltonnenfeuern in sich trägt. Die Kälte einer neuen Nacht bricht hervor, erweckt das Leuchten in den Augen der Raubkinder, die das AK-47 als ihren Freund ansehen.

Es war einer dieser Tage. Malcolm kochte Kaffee, Boris aß zu Rollen gepapptes Weißbrot mit Cheddarkäse. Die Uhr zeigte Mittag, es hatte aufgehört zu regnen. „ My hands are the killer that confirm my fears. “ An diese Zeilen der Gothic-Rock Band Cristian Death dachte Boris, als er nach dem Essen im Bus zum City Center fuhr. Eine Frau hustete neben ihm auf dem Sitz, und Wolken hatten die Stadt bereits am frühen Nachmittag in das Licht einer fast stofflichen Dämmerung gehüllt.

Boris traf sich mit seinen Freunden, denen aus Hannover und denen aus Liverpool, im Cafe Tobac in der Bold Street. Die Tische leuchteten fast, gestrichen in Blaulack, die Leere des Raums beunruhigte ihn. Eine Marokkanerin servierte Mocca. Es lag in der Luft. Boris fühlte sich, als ob er sich in diesem Hof infiziert hatte, infiziert mit Zerfressenem. Er fühlte etwas in sich zappeln, so als ob er Blatternviren eines Leichnams in sich trug. Boris betrachtete Postkarten, die er seinen Freunden in Hannover schicken wollte. Eine zeigte die Docks von Liverpool, eine Kathedrale, eine dritte zeigte in brillanter Darstellung das Sternzeichen Skorpion. Ein roter Skorpion kroch über einen Sumpf. Die Karte trug die Inschrift: „ Red is not the color of innocence. „ Boris schluckte. Er dachte an die Geschichte „ The Masque of the Red Death“ von Edgar Allan Poe, an die Unentrinnbarkeit vor dem Elend. Er fühlte sich wie eine Maske des roten Todes, wie in einem Märchen, dessen Schrecken bevorstand.

Malcolm hatte Boris die gefährlichste Straße gezeigt. Passanten gingen vor den Fenster vorbei, Weiße und Schwarze, Pakistanis, Inder, Nigerianer und Scallies, Schläger weißer Hautfarbe. Scallies waren stolz darauf, dass sie schnell ein Messer in der Hand hielten und zustießen. Einer hatte einem Kumpel von Boris Schwester in einer Telefonzelle den Hals aufgeschnitten, weil der seiner Meinung nach zu lange am Telefon hing.

Kurz nach sechs begann die Nacht. Sie saßen im Hotel, und die Musik aus der Anlage übertönte zögernd die Sirenen. Glashausfassaden krachten, Fenster splitterten, Zweige zitterten im Wind. Hass und Verzweiflung trieb ungewollte Kinder, Häuser anzuzünden und ihre Wollust in Lieder vom Tod zu kleiden. Boris spürte, dass es etwas gab, das sich in halbverkohlten Müllbergen des dem Untergang geweihten Stadtteiles verbarg. Was stand hinter diesem Sirenenheulen? War das eine Art Seele, Antrieb oder Kern des Ganzen? Es konnte nicht nur die Sozialisation der Kinder sein. „Ist es möglich, dass Hass, Angst, Chaos und Verzweiflung eine Manifestation erfahren?“ fragte er sich. „Dass etwas entsteht aus dem Sterben der Leidenschaft und der Abtötung des Lebens?“ Musik beruhigte ihn. Autos fuhren am Fenster vorbei. Er dachte an den Müllberg. Als ob jemand versucht hätte, Unheil zu beseitigen.

„Warum ist Müll halbverbrannt? Zur Hälfte ganz?“ Er schwitzte und blickte nach draußen. Die Nacht kroch wie ein Insekt. Wie Insekten schwärmten diese Kinder aus auf ihrer Suche nach Opfern. „Wem bringen sie Opfer? Sind es Opfer für ihren Hass? Sind es Opfer für ihre einsame Grausamkeit?“ Das fragte sich Boris, und es drängte ihn, der Sache auf den Grund zu gehen.

Es ist in Tox Tath Brauch, nachts in Gruppen zu gehen oder zu Hause zu bleiben. Auch die freundlicheren Bewohner erzählen, dass die Straßen Mord getrunken haben. Sie wissen, dass ein Menschenleben weniger zählt als an anderen Orten. Die schwarzen Ausgestoßenen hatten in Riots ihren Hass auf die Unterdrücker entfesselt. Der Stadtteil hatte in Flammen gestanden. Liverpool liegt in Armut danieder, die Häuser restaurierte niemand. Die Armen hausen in Gebäuden, denen Fenster fehlen, in Wunderfassaden, deren Dachziegel die Innenhöfe bedecken. Säuglinge sterben an Unterernährung, alte Menschen an Lungenentzündung. Verzweiflung springt in die Augen. Kinder wachsen auf toten Straßen auf und lernen zu töten, zu überleben, lernen zu sterben. Denn sterben können sie schnell.

Boris saß in der Badewanne mit dem Dreckboiler. Er sinnierte, heute Nacht zu dem Hof zu gelangen. Denn seine Schwester und ihre Freundin fanden es verantwortungslos, im Dunkel auf die Croxteth Road zu gehen. Er musste seine Unternehmung heimlich durchführen. Er legte sich neben seiner Schwester ins Bett, las in einem Buch über die Sklaverei-Ausstellung im Liverpool Museum, wartete, bis sie das Licht ausknipste und tat, als würde er schlafen. Boris hörte ihr Atem ruhiger werden. Der Geschichtsstudent schlich sich zur Treppe, wo Hose, Pullover und Jacke in ihrem Versteck lagen und ging zur Vordertür. Er huschte vorbei an der knorrigen Eiche, die die Silhouette eines Gorillas anzunehmen schien, trat auf die Croxteth Road. Eiswind strich um Boris Ohren. Stille lag über dem Viertel, weit entfernt klang Motorenlärm. Kein Mensch war zu sehen. Boris hastete die Mauer am Friedhof entlang, deren Schieferplatten im Laternenschimmer der Dunkelheit in der Farbe von Kaffee leuchteten. Er liebte die Kälte des Spätherbstes. Hier hatte er Angst. Der Frost schien die Angst zu unterstreichen. Die Nacht schien dem Strich das Lineal zu geben, auch wenn sein Kopf dadurch klar blieb. Boris ging schneller, denn er fühlte sich beobachtet.

„Vielleicht hätte ich im Bett bleiben sollen,“ nuschelte der Student in seinen Dreitagebart. Weiße mochten die Kids nicht und Studenten aus der Mittelschicht, die Gefahr schnupperten, noch weniger. Die Kinder hatten sich nicht freiwillig entschieden, in Verfall zu leben.

Boris hatte es noch nirgendwo krachen gehört, das machte ihn unsicher. Hatten die Killerkinder ihn bemerkt? Er versuchte, sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Er war ein Mensch, der nachts über die Straße ging und nicht der Mittelpunkt eines Universums. Die Gangs hatten untereinander genug zu tun. Aber die Straße öffnete sich zu weit. Er stand im Nebel, ein dunkler Fleck. Ein Räuber auf Beutesuche hätte ihn als Feuer leuchten sehen. Er hatte noch nicht einmal eine Mülltonne gesehen, hinter der er sich hätte verstecken können. Kein Busch würde ihm Deckung bieten, wenn Kids mit Abzügen ihrer Maschinenpistolen spielten. Boris Knie erweichten.

Er lehnte sich an eine Mauer, blickte auf Raureif und drehte sich eine Zigarette, atmete den Rauch ein und begutachtete die Szenerie. Es waren nur hundert Meter bis zu dem Hof. Die Straßen, in denen die Hauptkämpfe stattfanden, lagen auf der anderen Seite eines Parks, der hinter dem Hof begann. Gefahr konnte ihm kaum drohen, Killer hielten sich selten in der Croxteth Road keine Killer auf. Das hatte ihm seine Schwester erzählt. Die Kindmörder umkämpften ihre Reviere heiß, und es schien unwahrscheinlich, dass sie zum Freizeitspaß auftauchten. Sein Gefühl sagte anderes. Er hatte Angst. Der Student verspürte Angst vor einer Bedrohung, die über eine Faust im Gesicht hinausging. Es war, wie eine Hand, die sich in den Unterleib bohrt, die Innereien verknotet und durch den Mund hinausschiebt. Es war, als ob diese Hand bereits in ihm war. Er lief nicht weg vor dem, was ihm Angst machte, sondern ging darauf zu, ein Mechanismus, der in der Konsequenz fast immer fatale Auswirkungen zeigt.

Nicht er ging, sondern etwas trieb ihn, es fühlte sich an wie Nackenschläge. War er das? Ein Sklaventreiber im Hafen von Liverpool, der seine schwarze Ware auf den Markt treibt, zum Zentrum des Verkaufs, zum Fleischmarkt? Boris wollte dagegen ankämpfen. Es war zu spät. Die Läden in der Bold Street präsentierten Horrorliteratur. Nun merkte er es, dass die Beschäftigung mit dem Verborgenen eines realen Kerns nicht entbehrte. Boris trieb die Angst vor der Angst in die Angst.

Er erinnerte sich an die Postkarte, auf der ein roter Skorpion über einen Sumpf kroch. Boris dachte an den Stachel des Skorpions, an Afrika, an den Pandinus Imperator. Rot sollte nicht die Farbe der Unschuld sein, das Blut, das die Kinder Nacht um Nacht vergossen, die Angst und Einsamkeit, die sich in Grausamkeit kanalisierte. Boris zitterte, Fäulnis tranken sie wie der Sumpf auf der Postkarte, die Kinderseelen. Boris kippte, Erkenntnisse kollabierten. Wie Skorpione erschienen diese Kinder. Der Skorpion. Das Tierkreiszeichen, das über Kloaken kriecht, sticht und tötet. Das Sinnbild für ein Menschmonster im Überlebenskampf. Er hatte sich zu lange mit Astrologie beschäftigt. Der Skorpion brach das Tabu, erforschte die Perversion, reiste in die Unterwelt. Die Angst bekam in ihm und außerhalb von ihm die Oberhand, Boris wusste, was Kinder trieb. Der Skorpion musste es sein, sie brachten dem Stachel ihre Opfer. Eine Kreatur stach in Selbstzerstörung, während sie auf dem Absinth unter der Oberfläche dieser Kloake kroch. Ein Skorpion musste es sein, ein Menschskorpion. Es trieb ihn. Er raste auf den Hof zu, zwischen Gruppen von Gangkindern hindurch, vorbei an Minderjährigen, die eine Ratte mit Stricknadeln spickten, bis er zum Zentrum des Sogs kam.

Der Müll auf dem Hof phosphoriszierte. Die Leiche eines amerikanischen Touristen lag aufgedunsen zwischen den Plastikstücken, kenntlich an den Nike-Turnschuhen. Kinder von schwarzen Vätern und weißen Müttern standen um den Kadaver herum und hatten einen Singsang angestimmt. Angst und Hass hatten sich in Fleisch aus Chitin gehüllt. Ein Wesen mit dem Unterleib eines roten Skorpions und dem Torso eines Menschen kroch über den Abfall, die Augen schwarze Kugeln, die Hände mutierte Zangen. Die Kinder traten zur Seite. Der Menschskorpion kam zur Leiche. Boris Körper vibrierte. Das Geschöpf bog den Chitinschwanz. Er fiel nieder, Schemen tanzender Trommelkämpfer schlangen ihn in den Äther, der Nacken verkrampfte sich und die Gefühllosigkeit lähmte seinen Leib.

Dies geschah vor Tagen. Es erschien Boris wie ein Traum aus Schrecken in diesem Schrecken der englischen Städte. Ein Traum dachte er, saß in der Badewanne und starrte auf den Dreck im Spiegel. Woher kam die schwarze Stelle an seinem Becken, die aussah wie ein rundes Muttermal? Woher stammten die Spinnweblinien, die sich als Stern um einen Kreis auf seiner Haut ausbreiteten? Warum schallte der Klang seines Herzschlags lauter?

„ Boris, hast Du die Geburtstagskarte losgeschickt?“ rief seine Schwester Nadja. Er blickte auf die Karte mit dem roten Skorpion, die auf der Ablage unter dem Spiegel platziert war.

„ Hätte die nicht vorher Geburtstag haben können?“ Er grummelte.

Was bedeutete dieses Stechen, Der Wahnwitz zerrte wie Gift in der Nackenhaut und dämpfte jede seiner Bewegungen? Er blieb im Bett liegen. Boris verließ das Hotel in der Nacht, denn er hatte sich ein Klappmesser gekauft und das Kind weggeworfen, das Kind, das er selbst war. Der Tanz begann, man hatte ihn eingeladen und er hatte angenommen.

Historiker, Dozent, Publizist